Eine Gruppe Jugendlicher startet in die Ferien
Ayly war dabei. Verglich die Sitznummern mit der, die sie bekommen hatte und ließ sich dann ganz, ganz vorsichtig auf Sitzplatz zwölf nieder.
Am Fenster, wo sie gut die ganze Fahrt hinausschauen konnte. Sie hatte ihren Koffer bei dem freundlichen Mann abgegeben, der ihn dann im Stauraum verstaut hatte, und sich dann auf der Namensliste abhaken lassen.
Ihren Rucksack stellte sie vorsichtig zu ihren Füßen, zog ein Buch heraus, suchte die Seite mit dem Lesezeichen und las weiter.
Just in diesem Moment ging der Junge, den sie schon vorhin gesehen hatte, an ihr vorbei, blieb dann stehen, drehte sich um und musterte das Mädchen.
Dann schaute er auf die Platznummer und verdrehte die Augen. Er ließ sich neben ihr auf den Sitz fallen und seufzte. Wahrscheinlich hatte er keine Lust neben Ayly zu sitzen, wo er sich doch schon mit dem Jungen ganz hinten angefreundet hatte.
"Hallo ...", murmelte das Mädchen und der Junge nickte ihr zu. Dann kramte er Kopfhörer und IPod aus seinem Rucksack und lehnte sich zurück.
Nach einer Weile drehte er sich wieder zu Ayly und fragte: "Wie heißt du eigentlich?" Das Mädchen zögerte, gab dann aber schließlich nach. "Ayly ...", murmelte sie, " ... und du ...?" - "Lucas!", meinte der Junge bestimmt und schaute dann wieder nach vorn.
Eine Weile war es still. dann fragte er kurz: "Und? Freust du dich schon?" - "Nein!" - "Warum nicht?" Er schaute sie fragend an. "Ich hasse Feriencamps!", fauchte Ayly mehr zu sich selbst.
Als sich ihre Züge wieder entspannten, fragte sich den Jungen: "Du, Lucas!? Warum hast du so eine große Narbe?"
Der Junge seufzte.
"Mein Vater war damals ziemlich gemein ..."
Damit schien das Thema für ihn beendet.
Aber Ayly wusste, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Irgendetwas beschäftigte ihn. Aber sie war froh, jemanden zu reden zu haben. Denn irgendwie spürte sie, dass sie Lucas vertrauen konnte.
"Was liest du da eigentlich?", fragte Lucas und schaute Ayly mit seinen blitzenden, grünen Augen an.
Eine Strähne fiel ihm ins Haar und das Mädchen merkte, wie es in ihr kribbelte.
"Die Tribute von Panem!", meinte sie und strich sich ihrerseits eine schwarze Strähne aus dem Gesicht.
"Hm", machte Lucas, "Ist cool?" - "Ja, sehr schön!"
Das Mädchen lächelte und ihre blauen Augen leuchteten. "Leist du es mir, wenn du noch im Camp fertig wirst?", fragte Lucas, etwas schüchtern.
"Ja, klar! Ich werde bestimmt noch fertig. Ich lese schnell ..." sie lächelte noch ein Mal.
"Cool!", meinte der Junge und hämmerte auf dem Touch-Screen seines IPods rum.
Ayly beobachtete ihn eine Weile und fragte dann: "War das teuer?" Lucas schaute auf und ihr direkt ins Gesicht. Seine Knie wurden etwas weich. Na kein Wunder! Bei diesem Blick ...
"Na ja, ich weiß ja nicht, was du unter teuer verstehst ... aber es hat knapp zweihundert Euro gekostet.", meinte er schließlich. "Ja, das ist für mich teuer", musste Ayly leise gestehen.
"Hm!", überlegte Lucas, "Seit ihr arm?" - "Kommt drauf an, was du unter arm verstehst ...!", meinte Ayly lächelnd.
Lucas musste sogar ein wenig lachen. Und das zeigte dem Mädchen, das er ganz okay war.
"Na ja, wir leben von Hartz IV", gestand sie nach einer Weile sehr, sehr leise. "Hey!", versuchte der Junge sie zu trösten und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter, "ist doch in Ordnung!"
Sophie schüttelte den Kopf.
Ihr war nicht entgangen, dass der Junge mit der nassen Hose, der vor ihr saß, von den anderen Kindern geärgert wird.
Auch das Mädchen, das neben ihm saß, hatte ihn nur angefaucht.
Der Ärmste. Der Junge tat Sophie leid, deswegen hat sie sich hinter ihn gesetzt auch auf der Gefahr hin, von ihm angespuckt zu werden. Sie wollte sich auf der Fahrt mit ihm unterhalten und ihn kennen lernen.
Klar hatten die Betreuer ihr den Sitz zu geordnet, doch Sophie hätte sich sowieso neben ihn gesetzt, denn sie konnte es nicht leiden, wenn andere verspottet wurden.
"Guten Morgen, Sophie!", sagte Tom und setzte sich neben ihr. Was für ein Glück er hatte.
Die Betreuer hatten ihn neben sie gesetzt und darüber war er froh, auch wenn er in der Nähe dieses dicken Jungens sitzen musste, der sich mit ungesundem Zeug vollstopfte.
Das Mädchen vor ihm, hatte sich von diesem abgewandt und Tom konnte sie nur zu gut verstehen.
Als Tom sich neben Sophie setzte und sie ansprach, war sie erstaunt. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass jemand aus ihrer Klasse mit fährt. Es hatte ihr auch niemand gesagt. Vielleicht deswegen, weil sie nicht viel mit ihm zu tun hat. Sophie lächelte ihn an, sie freute sich, dass sie wenigsten eine Person kannte. Sie antwortete ihm:
"Hey...! Ich wusste gar nicht, dass du mit fährst! Das ist ja toll, aber auch irgendwie verrückt."
Tom nickte. Nie hatte Sophie ihn beachtet.
Klar sie hatte mit ihm zwischendurch gesprochen, aber nur über Hausaufgaben. Er war wie erstarrt. Ihm würde keiner seiner Freunde glauben, dass er Tom neben Sophie saß und mit ihr sprach.
Sophie plapperte die ganze Zeit und Tom antwortete ihr. So wie eine Unterhaltung läuft, wenn sich zwei Bekannte trafen.
"Siehst du den Jungen vor uns, der mit der Schokolade auf der Hose?", flüsterte Sophie Tom zu. Um sie jedoch zu verstehen, musste er sich zu ihr vorbeugen. "Ja. Wieso?"
"Ich glaube ich werde ihn ansprechen und mit ihm reden. Er tut mir Leid, wie er von den anderen behandelt wird." Sie schaute ihm direkt in die blauen Augen, um mit zu bekommen, wie dieser reagierte.
"Mag sein, aber seh' ihn dir mal an. Seine ganzen Klamotten sind voller Schokolade und Wasser. Und ihn stört es noch nicht mal! Bäh einfach nur widerwärtig!", sagte Tom ein wenig zu Laut. Sophie stupste ihn an. Ihre Augen funkelten.
Der Junge vor Sophie, drehte sich bei dem Satz um und schaute verletzt drein. "Das... Das ist nicht mit Absicht gewesen.“ Sophie bemerkte, dass der Junge kurz vorm weinen war und drehte sich zu Tom. "Entschuldige dich gefälligst, das ist nicht nett gewesen.", befahl sie Tom. Dieser war nur schockiert, dass Sophie, die immer gute Laune hatte, auch anders konnte.
"Tut mir leid, ich meinte das nicht so, aber du solltest dich auf der Raststätte um ziehen. Es ist für uns alles nicht gerade angenehm."
"Tom!", rief Sophie aus. "Es reicht." Damit wandte sie sich dem Jungen zu. "Tut mir Leid, was Tom gesagt hat."
"Ist schon okay.", unterbrach Jayden Sophie. Er hatte sich daran gewöhnt, dass ihn alle verspotteten. Das Mädchen nickte und er wollte sich gerade drehen, als das Mädchen ihm die Hand hinhielt. "Ich heiße Sophie, freut mich dich kennen zu lernen."
"Jayden", antwortete Jayden. "Ein holländischer Name." Jetzt drehte sich auch Sandra um und nahm ihre Kopfhörer aus den Ohren: "Ich bin Sandra, hallo." Sophie und Tom grüßten zurück.
„So sind jetzt alle Reisenden eingetroffen?“, fragte Joachim die anderen Betreuer Maike, Michael und Roswita.
Maike und Joachim kannten sich schon vom letzten Jahr, als sie eine Jugendgruppe betreuten, Michael hatte auch schon Erfahrung als Reisebegleiter und Roswita war absoluter Neuling.
„Ich habe alle abgehakt“, antwortete Roswita. „Ich auch“, „ich auch“, antworteten Maike und Michael. „Dann fehlen jetzt nur noch Wanda und Lech Walsa, Geschwister, also 5 Minuten gebe ich ihnen noch, dann ruf ich mal an. Ist das Gepäck vollständig verstaut?“
Alle schauten sich um, kein Koffer stand mehr auf der Straße.
„Alle kamen zu zweit, bis auf Sandra, Jayden, Ayly, der Jungen mit dem roten Haar und der Narbe auf dem Arm, wie heißt der noch gleich, egal, außerdem die Kinder Sophie und Tom, also sechs Einzelkinder. Die Sechs haben wir im Bus zusammen gesetzt haben, auf den Plätzen 7 bis 12, damit sie sich schon mal kennen lernen“, erklärte Joachim.
Joachim lief noch einmal um den Bus herum um zu schauen, ob noch irgendwelche Koffer, Taschen oder überhaupt irgendetwas herum lag und mitgenommen werden müsste. Nichts. Gut.
„Dann wollen wir mal“, mit diesen Worten stiegen die Betreuer in den Bus ein.
Sandra setzte sich auf Platz 7, neben ihr, am Fenster, sah sie Jayden, wie er einen Schokoladenriegel in sich rein schob.
Er grinste Sandra freundlich an und öffnete dabei seinen noch mit Schokolade gefüllten Mund, wobei mit Schokolade durchtränkter Speichel aus seinem Mund lief und auf sein T-Shirt tropfte.
Angeekelt schaute sich Sandra an, wie Jayden versuchte, mit der Hand den Schoko-Flecken vom T-Shirt weg zu wischen um ihn dann doch nur größer werdend zu verreiben.
„Ich bin Jayden“, stellte sich Jayden mit vollem Mund vor, verschluckte sich dabei, konnte sich nicht mehr halten, musste husten und spuckte Sandra mit Schoko-Seiber an.
Mit hochrotem Kopf konnte sich Jayden wieder fangen und blickte in das entsetzte Gesicht von Sandra.
Jayden hatte noch nie ein so entsetztes und wütendes Gesicht gesehen.
Sandra schaute sich um, erblickte die gerade in den Bus einsteigenden Reisebegleiter und rief ihnen zu: „Kann ich woanders sitzen?“
„Äh, nein, warum denn?“, antwortete Joachim mit einer Gegenfrage. „Ist doch egal, kann ich oder kann ich nicht?“, fragte Sandra erneut.
„Äh, nein, alle Sitze sind gleich gut, ist was mit dem Sitz oder versteht ihr euch nicht, kann ich euch helfen, es gibt nichts, was wir nicht gemeinsam lösen könnten?“
„Ach, vergiss es“, war Sandras Antwort, wobei sie jedes Wort besonders betonte und dabei dachte, „lass bloß dein Sozial-Geschwätz bei dir!“
Sie steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und schaltet ihren mp3-Player an.
Jayden schaute verstohlen aus dem Fenster.
Dann drehte er seinen Kopf wieder zu Sandra und wollte etwas sagen. Bevor er jedoch den Mund öffnen konnte, flüsterte Sandra ihm mit leisem, gefährlichen Ton zu: „Halt‘ deinen Mund, schieb nichts rein und lass nichts raus!“
Jaydens Körper wurde von eisiger Kälte durchflutet und überall machte sich Gänsehaut breit.
Verstört wollte er gerade seinen angebissenen Schokoriegel in die Hosentasche schieben, als er erneut den entsetzten Blick seiner Sitznachbarin sah, sich eines besseren besann und den Riegel in einem Taschentuch verpackt in seinem Rucksack verstaute.
Reste des Schokoriegels waren noch in seinem Mund. Er traute sich weder zu schlucken noch sie auszuspucken. Schließlich nahm er sich erneut ein Papiertaschentuch, drückte es fest gegen seinen Mund und würgte die halb zerkauten Essensreste herunter.
Jayden holte sich eine Cola-Flasche aus dem Rucksack, drehte den Schraubverschluss auf, die Cola schäumte über und ergoss sich über seine Hose.
Die Jeans zwischen seinen Beinen zeigte einen großen nassen Fleck. Schnell spülte er ein paar Schluck Cola runter, drehte die Flasche wieder zu und verstaute sie in seinem Rucksack.
„Hast du dir in die Hose gepisst?“ schrie plötzlich ein Junge mit breit grinsendem Gesicht, der an ihren Sitzen vorbei kam und dabei auf Jayden zeigte.
„Ich habe eben mein Wasser versehentlich auf ihn gekippt. Das war’s und nun verpiss dich“, fauchte Sandra den Jungen an.
„Ganz schön großmäulig die Kleine“, mit diesen Worten ging der Junge weiter und suchte seinen Platz auf.
Jayden schaute auf die Schoko-Flecken, die auf Sandras Hose und Jacke hinterlassen hatte.
„Sie hat eben kein Wort davon erwähnt“, dachte sich Jayden.
„Jede andere hätte laut in den Bus hinein geschrien: Seht euch mal dieses fette Schoko-Schwein an! Rotzt mich hier total voll, diese Sau! Alle hätten mich angeglotzt und dann lauthals gelacht. Sie hat mich jetzt nicht lächerlich gemacht. Und warum hat sie für mich gelogen, wegen meiner nassen Cola-Hose und gesagt es sei ihr Wasser gewesen?“
Jayden schaute sich um. Hinter ihnen sah er wie weitere Kinder ihre Plätze aufsuchten.