Der Wald in den Bergen
"Hast du alles gepackt, Schatz?", fragte mich Mum besorgt. Sie machte sich immer Sorgen, dass wir vielleicht etwas vergessen. Und das wäre "Fatal", wie sie meinte. Denn die Yagaha-Berge sind 200 kilometer von Torinoko, der Stadt, in der wie leben, entfernt. Die kann man nicht einfach so zurückfahren, nur weil man eine Zahnbürste vergessen hat.
"Mach dir keine Sorgen, Mum. Ich habe eine Liste gemacht", lächelte ich. Erleichterung machte sich breit.
Schnell packte ich noch den letzten Rest in meine Reisetasche und zog mir den violetten Mantel an, den mir meine Tante geschenkt hatte. Er hatte weiße Verzierungen, geschnörkelt wie Ranken, und er sah wirklich so aus wie der Mantel eines Zauberers. Aber er war schön.
Mum stürmte aus dem Haus als sie den Motor unseres Autos hörte, und zog mich mit sich. "Karl wird ja wohl nicht ohne uns fahren?!", rief sie gehetzt. Ein paar Strähnen ihres nussbraunen Haares fiehlen ihr in die Stirn. Frustriert bließ sie sie weg.
"Währe schön ruhig für ihn", murmelte ich scherzhaft.
"Was sagst du da?", fragte Mum verärgert.
Ich lächelte und schwieg.
Dad grinste uns an, als wir uns ausser Atem in unsere Sitze fallen liessen. Die Taschen hatten wir in den Kofferraum gebracht.
"Dachtet ihr, ich fahr ohne meine geliebten Mädels?", lachte er rau.
"Nein."
Und dann gab er gas.
Die Fahrt war sehr lang. Wir kamen an vielen Seen entlang, und irgendwie erinnerten sie mich an das Mädchen von heute Nachmittag. Warum sie sich wohl nicht entschuldigt hatte? Und warum nehme ich das so wichtig? Ist es nicht viel wichtiger, zu wissen, woher sie meinen Namen kennt?!
Ich seufzte und dachte über die Worte meines Lehrers nach. Gab es Vampire wirklich? Aber diese Schwestern waren doch Dämonen... ist das dasselbe? Ach, ich kenne mich doch damit nicht aus, verdammt! Und was hatte das mit den Süßigkeiten auf sich?
"Mum, weißt du irgendwas über ein Mädchen, dass einem rote und blaue Süßigkeiten anbietet?"
"Hattet ihr das heute in der Schule? Ja, es gibt so einen Mythos. Er besagt, dass jemandem zwei Sorten Süßigkeiten angeboten werden. Rote und Blaue. In dem Fall wäre es besser, keine Sorte zu wählen. Du wirst so oder so getötet. Wählst du die Roten, tötet er dich blutig, indem er deine Haut... dich häutet. Die Blauen, und dir passiert das Gleiche wie Schneewitchen, mit dem Unterschied, dass du nicht mehr aufwachst. Eh... er erwürgt dich."
Ich schluckte. "Klingt nicht gut."
"Nein."
Ich sah wieder aus dem Fenster. Die Berge kamen immer näher, und mit ihnen wuchs meine Nervosität. Das war alles so verwirrend... dabei ist das doch alles sowieso nur erfunden... oder?
"Das ist unsere Unterkunft?!", rief ich erstaunt. Das Haus war riesig. Im Stil des alten Japans, mit Papierschiebetüren, und flachem Dach. Es gab keine Betten, nur Futons, also mussten wir wohl oder übel auf dem Boden schlafen.
"Ich hätte nicht gedacht, dass es ausserhalb Japans noch solche Unterkünfte gibt!", murmelte mein Vater.
"Okay, nur mal so: Ihr habt ein Haus gemietet, von dem ihr nicht wusstet, wie es aussieht, und wundert euch darüber, dass es im Japanstil ist, wo Torinoko und die Yagaha-Berge ebenfalls japanische Namen haben?", fragte ich etwas verwirrt.
"Euh, ja", meinte mein Vater und kratzte sich am Hinterkopf.
"Chichi, dein Zimmer ist das hier, mit Aussieht auf den Wald", sagte meine Mutter, als sie die Zimmer zuteilte.
Warum ausgerechnet dieses Zimmer?
Für die restlichen paar Stunden Tag hatten wir eine Wanderung geplant, was mein Dad auch unbedingt einhalten musste. Zum Glück hatten wir für den Wald aber keine Zeit mehr. In den Bergen wurde es extrem schnell dunkel.
So saßen wir um 18 Uhr bereits um den Tisch herum, und aßen unser Abendbrot.
"Was machen wir morgen?", fragte ich mit einem Stück Brot im Mund.
"Weiß ich noch nicht...", gestand mein Dad kauend.
"Vielleicht hohlen wir unsere Wanderung durch den Wald nach...?", schlug Mum vor.
"Nein!", entschied ich entschlossen.
"Ab-" Bevor noch jemand etwas sagen konnte, war ich aus dem Raum gestürmt und in mein Zimmer. Ich schob die Tür nach draussen ganz zu, und sicherte sie mit einem Schloss. Das gleiche machte ich mit der Zimmertür. Hier kam keiner mehr rein. Es sei denn er hatte irgendeinen spitzen Gegenstand. Hauptsache keine Süßigkeiten.
Ich warf mich auf den Futon und zog die Decke über meinen Kopf. Bitte Nacht, geh schnell vorüber...! Ehe ich mich versah, war ich eingeschlafen.
Und wachte genau um Mitternacht wieder auf. Schlechtes Timing, Chiho. Langsam setzte ich mich auf. Es war komplett still im Haus, man hörte nur den Wind leise pfeifen.
Ich weiß heute selbst nicht mehr, warum ich damals die Tür nach aussen aufschob.
Wie ein dunkles Loch klaffte da der Wald vor meiner Tür. Ich musste nur einen Schritt machen, um seinen Boden betreten zu können...
Und ich tat es.
Ich war barfuß, und die Kälte kroch schnell meinen Körper hinauf. Ich schauderte und schlang meine Arme um meinen Körper, aber anstatt wieder ins Haus zu gehen, was in diesem Moment wohl das Beste wäre, machte ich noch einen Schritt. Und noch einen. Immer tiefer in den Wald hinein. Ich würde mich verlaufen, wenn ich schon nicht auf das Portal stoße, dachte ich.
Ich wusste nicht, wie lange ich durch den Wald lief. Es schien keine Zeit mehr zu geben, der Vollmond stand bewegungslos am Nachthimmel.
Der Wald war dicht, so dicht, dass das Mondlicht kaum auf den Boden reichte. Aber ich lief einfach instinktiv. Es war noch dunkler, als heute als es geregnet hatte. Oder war es gestern? Ich weiß es nicht mehr.
Ein Schauer lief mir über den Rücken, als etwas hinter mir raschelte. Ich schluckte und unterdrückte einen Schrei. es war nur ein Tier. Das Rascheln kam näher. Langsam geriet ich in Panik. Was tat ich eigentlich hier?! Warum war ich in den Wald gelaufen?
Ich blieb stehen, weil das Rascheln verstummt war, und hohlte Atem. Nur ein Tier.
Plötzlich hörte ich ein Stöhnen. Direkt hinter mir. Zitternd drehte ich mich um. Ganz langsam. Dort stand jemand nur ein paar Meter entfernt. Er war groß und stand etwas krumm da. Aber im Mondlicht konnte ich etwas glitzern sehen.
Mit einem heftigen Windstoß wehten die Blätter weg, und für einen kurzen Augenblick konnte ich die Gestalt genau sehen. Groß. Wirre Haare. Scharfe Zähne, die aus dem Mund herausragten. Lange Finger wie Messer. Und es kam auf mich zu.
Mit einem Ruck fand ich meine Kraft wieder und schrie so laut ich konnte. Und rannte so schnell ich konnte. Ich musste weg. Was ist das? Warum bin ich überhaupt hier? Warum? WARUM?!
Ich hörte anhand knackender Äste, das dieses Etwas die Verfolgung aufgenommen hatte. Und es war schneller als ich, soviel wusste ich. Wenn kein Wunder geschieht, dachte ich, dann bin ich tot.
Gerade als ich über meine Schulter sehen wollte, fiel ich in ein Loch im Boden. Alles wurde schwarz. Und dann plötzlich war ich von hellem Licht umgeben, und ich konnte eine Landschaft erkennen. Ich hatte das Portal gefunden.