Muttertagsmorgen im Kinderdorf
Trippel, trappel, trippel, trappel ... huschen nackte Kinderfüße durch das Haus vor der mächtigen Kastanie. Was ist nur los?
Monika liegt in ihrem Bett und lauscht dem sonderbaren Treiben.
Es ist Muttertag, ihr erster Muttertag als Mutter!
Vor vier Monaten und sechs Tagen ist sie in das SOS Kinderdorf gekommen. Sie liebt Kinder über alles, hat sich immer nach Kindern gesehnt, aber keine eigenen bekommen können. So hat sie
sich entschlossen, Kinderdorfmutter zu werden.
Nun liegt sie da und ihr Herz klopft laut vor freudiger Erregung. Was soll sie tun? Aufstehen und Frühstück machen? Aber die Kinder haben scheinbar irgend etwas vor, sie würde ihnen vielleicht ihre Überraschung verderben?
Monika denkt an die Muttertage daheim, als sie noch ein kleines Mädchen war. Große Herzen hatte sie gemalt, Sprüche hinein geschrieben und Blumen gepflückt.
.... Und wieder geht es tripp, trapp tripp, trapp vor ihrer Zimmertür. Monika hält den Atem an. Zu gerne
würde sie aufstehen, um nach dem Rechten zu sehen. Was ist mit den beiden Kleinen? Susi und Hansi sind kaum über drei Jahre alt – die liegen sicher noch in ihren Betten. Doch Susi und Hansi liegen nicht mehr in ihren Betten. Sie laufen mit den Geschwistern mit und stören deren Vorbereitungen erheblich.
In Nachthemdchen und Pyjamas eilen die Kinder geschäftig hin und her. Sie haben keine Zeit zum Ankleiden, denn es gibt so viel zu tun. Jeder Handgriff muss sitzen, das Timing und die Arbeitsaufteilung sind perfekt. Mit flinken Händen decken die Geschwister den Tisch, als ob sie das jeden Tag tun würden, huschen wie Heinzelmännchen
durch die Küche, pressen Orangensaft, kochen Tee und Kakao, für Mutti duftenden Kaffee, und stellen zuletzt eine Vase mit Flieder auf den üppig gedeckten Tisch, sowie einen riesengroßen Gugelhupf, den eine liebe Nachbarin gebacken hat..
Dann schlüpfen sie rasch in ihre Kleider, ziehen die zwei Kleinen an, und steigen in feierlicher Prozession die Treppen hinauf zu Monikas Schlafzimmer.
„Alles Gute zum Muttertag!“, rufen sie im Chor und stürmen alle neune zum Bett, um Mutti zu umarmen und zu küssen.
Monika lächelt dankbar. Endlich darf sie aufstehen ... und verschwindet
blitzschnell im Badezimmer.
Als sie wenige Minuten später die Stube wieder betritt, stehen die Kinder, IHRE neun Kinder rund um den Tisch. Die erst siebenjährige Anja tritt einen Schritt vor. Ihre Augen strahlen und die blonden Locken, wenn auch unfrisiert, das zarte Gesichtchen,, und fehlerlos trägt sie ein Gedichtchen vor:.
Mutti, heute ist dein Tag,
heut vergesse Müh´ und Plag.
Denke nicht an morgen.
lasse uns für dich heut sorgen.
Vergissmeinnicht woll´n wir
dir streun
und uns bemüh´n,
recht brav zu sein
Sie schlingt ihre Arme um Monikas Hals und flüstert aufgeregt:
„Das haben wir selbst gemacht – Hilde und Christian haben das für dich gedichtet!“
Susi und Hansi drängen sich dazwischen und überreichen stolz ihre Zeichnungen.
„Das sind Herzen!“, fügen sie erklärend hinzu und strahlen über das ganze Gesicht. Die Herzen sind zwar etwas abstrakt, doch im Gegensatz zu vielen Gemälden manch bekannter Künstler kann man erkennen, was sie darstellen – nämlich Herzen, feuerrote Herzen, randvoll mit Liebe für Mutti.
Alle Kinder haben ein Geschenk für
Monika, ein Gedicht, eine Geschichte, eine Zeichnung, Blumen. Die Größeren haben sogar etwas gebastelt oder eine kleine Handarbeit gefertigt.
Monika ist gerührt. Der geballte Liebesbeweis der Kinder treibt ihr einige Tränen in die Augen. Sie schnäuzt sich lautstark und bedankt sich für die schönen Geschenke und den liebevoll gedeckten Tisch.
„Jetzt aber wollen wir uns dem köstlichen Frühstück widmen“, sagt sie, „ich habe einen Mordshunger!“
Liebevoll gleitet ihr Blick über die neun Kinder unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe. Sie liebt sie alle. Ihr wird klar, dass sie diese, ihre Liebe von den
Kindern hundertfach zurück bekommt. Wie viele beglückende Momente hat sie bereits erleben dürfen!
Und jetzt dieser Muttertagsmorgen! Niemals wird sie ihn vergessen.
Dem Morgen folgt ein wunderschöner Tag, erfüllt mit Freude und Frohsinn.
Als Monika abends im Bett liegt, finden ihre Gedanken noch lange keine Ruhe.
Wie viel Glück und Liebe hat sie heute geschenkt bekommen!
Sie denkt aber auch daran, dass sie vielleicht das eine oder andere mal am Krankenbett eines Kindes wird wachen müssen, dass Schulprobleme auftauchen werden, oder Probleme mit der
Ausbildung und einer Arbeitsplatzbeschaffung.
Sie denkt daran, dass jedes dieser Kinder einmal seinen eigenen Weg gehen wird, fortgehen wird, und andere wieder kommen werden.
Wie viele Kinder wird sie wohl bekommen? Wie viel Kinderliebe und Kinderglück wartet noch auf sie? Wie vielen einsamen Kindern wird sie Mutterliebe schenken dürfen?
Welch ein reiches Leben liegt vor ihr!
Info: Hermann Gmeiner gründete 1950/ 51 in Imst, Tirol das erste SOS
Kinderdorf. Inzwischen ist die Organisation weltweit in 133 Ländern tätig, um Kindern eine familienähnliche Athmosphäre in einer "Mutter-Geschwister:" - Beziehung zu bieten.