Beschreibung
Abby wurde eigentlich schon als Engel geboren, aber durch unglückliche Umstände beging sie einen fürchterlichen Fehler. Zur Strafe diente sie jahrhundertelang im Vorzimmer zur Hölle, bis der Rat der Engel einen Entschluss fasst: Abby soll als Schutzengel auf die Erde geschickt werden, um dem jungen Finn das Leben zu erleichtern und sich somit ihren Platz im Himmel wieder zu verdienen. Allerdings bringt Abby Finns Leben gehörig durcheinander, der sich von nun an mit allen möglichen Peinlichkeiten, Kleinkriegen zwischen Himmel und Hölle und Abbys eifersüchtigem Verlobten herumschlagen muss.
An jenem Tag, als sich die immer gut gesicherte Tür zum Höllenvorzimmer öffnete und sie ihm wieder gegenüber stand, erinnerte sie sich an ihre Verurteilung. Jedes kleine Detail fand den Weg zurück in ihr Gedächtnis. Sie wusste wieder genau, wer alles anwesend gewesen war, welche Farben die Roben des Hohen Rates gehabt hatten, welcher von ihnen das Urteil gefällt hatte. Sie konnte sich an die Blicke erinnern, die ihr zugeworfen worden waren. Abscheu, Fassungslosigkeit, Trauer, Enttäuschung, es war alles dabei gewesen, und diese Gefühle, die die anderen Engel ihr entgegen gebracht hatten, waren schmerzhaft für sie gewesen. Die ganze Zeit über hatten seine blauen Augen sie angestarrt, mit einem Ausdruck, den sie einfach nicht hatte deuten können. Sehnsüchtig hatte sie das Urteil herbei gesehnt, um diesen Augen zu entkommen, und lange hatte man sie auch nicht warten lassen: Dienst im Höllenvorzimmer, auf unbestimmte Zeit, und das war im Anbetracht dessen, was sie angerichtet hatte, mehr als großzügig gewesen. Das Höllenvorzimmer war zwar schon fast Hölle, aber eben nur fast, und die Tür, die den Weg in den Himmel versprach, gab Hoffnung, diesen Ort eines Tages noch einmal wieder sehen zu können. Neunhundert Jahre waren seit diesem Tag vergangen, und seitdem hatte Abigail, früher von ihren Freunden Abby genannt, nicht mehr viel mitbekommen von den Geschehnissen im Himmel und auf der Erde. Sie trug die Namen der schweren Sünder in das Buch des Satans ein, die Tag für Tag zu Tausenden durch die Tür kamen. Von ihnen konnte Abby wenig erfahren über das Erdenleben, aber immerhin genug, um sich ein ungefähres Bild machen zu können: Die Erde war ein Ort mit großen Häusern, Maschinen, die ihren Bewohnern alle Arbeit abnahmen, und, nach der Anzahl der neuen Höllenbewohner zu schließen, ein Ort voller Sünde und Verbrechen. Wenn sich Abby nicht gerade mit Sträflingen oder ihrem schlechten Gewissen herumschlug, versuchte sie, den Staub und die Dunkelheit wegzufegen, die sich überall eingenistet hatten, sie legte Kohle im Ofen nach, machte irgendetwas zu essen und versuchte, in der Einsamkeit nicht durchzudrehen. Bis heute hatte sie damit gerechnet, dass auch die nächsten neunhundert Jahre genauso verlaufen würden. Aber jetzt war er gekommen. Seine blauen Augen sahen sie fast genauso an wie damals, und auch jetzt wusste sie nicht, was sie ihr sagen wollten. Er war zusammen mit zwei anderen Engeln eingetreten, aber Abby achtete nicht weiter auf sie, auch nicht, als sie irgendetwas davon erzählten, dass der hohe Rat sie  sprechen wolle. Sollte der Rat doch warten. Im Moment zählte nur er. Er wandte seinen Blick kurz von ihr ab. „Ihr könnt draußen warten!“ sagte er zu den beiden anderen, und sie gehorchten. So blieben nur Abby und er in den ewig schmutzigen Fluren zurück.
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„Galadriel!“ flüsterte Abby. Es war ungewohnt, seinen Namen wieder auszusprechen. Er sah immer noch genauso gut aus, wie sie ihn in Erinnerung gehabt hatte, blond, blauäugig und von schlanker Statur. Dieser junge Mann war alles, was Abby je gehabt hatte und haben wollte, und an einem Tag hatte sie ihn vollends verloren. Als er keine Anstalten machte ihr zu antworten, versuchte Abby nochmals, ein Gespräch anzufangen. „Es…es ist lange her.“ Wieder nichts. Abby begann zu zittern, genau wie ihre Stimme. „Warum bist du gekommen?“ Er schien wirklich überrascht zu sein. „Warum?“ „Ja. Ich verstehe es nicht.“ Ratlos sah er sie an. „Hör mal, ich hatte nach neunhundert Jahren erstmals wieder die Gelegenheit, dich zu sehen. Ich hatte etwas mehr Freunde erwartet.“ Abby konnte nicht glauben dass er das tat. „Du…du machst dich über mich lustig, richtig? Du wolltest mich leiden sehen, deshalb bist du gekommen, und ich kann es verstehen.“ Tränen traten ihr in die Augen, während sie sprach. Es tat so weh. Der Mann, den sie liebte, stand vor ihr, zum Greifen nah, und doch so unglaublich weit entfernt. Galadriel machte einen Schritt auf sie zu, und Abby wich ein Stück zurück. Er wirkte beinahe entsetzt, als er sie wieder ansah. „Sag mal, Abby, was redest du denn da? Willst du mich auf den Arm nehmen?“ Ihm schien eine schreckliche Ahnung zu kommen, daher sah er sie einen Moment mit versteinerter Miene an. „Sag jetzt bloß nicht, dass du mich nach all der Zeit nicht mehr liebst.“ Er war ein wenig blass geworden. „Was?“ flüsterte Abby. „Aber wieso…natürlich liebe ich dich. Das habe ich immer. Aber du?“ „Ich habe dir verziehen, sobald die Tür dort hinten sich geschlossen hat. Ich liebe dich nun mal, das kann man nicht ändern.“ Abby wusste, dass es jetzt auf der Erde Filme gab über Dinge wie die, die hier gerade abliefen, und sie hatte von einem zweifachen Mörder erfahren, dass in den dramatische Liebesstreifen, die man dort unten ansah, kitschige Liebesszenen nicht fehlen durften. Abby fiel Galadriel in die Arme, bevor er es sich anders überlegen konnte, und der Himmel schien wieder zum Greifen nah. Ob sich die Leute, die Liebesfilme guckten, wohl auch so fühlten wie sie sich jetzt gerade? Zunächst war er überrascht gewesen, aber jetzt hielt er sie fest, und er war mindestens genauso glücklich wie sie. „Endlich hab ich dich wieder“, murmelte er. „Wir werden die Vergangenheit hinter uns lassen. Ich habe dafür gesorgt, dass unsere Liebe eine zweite Chance bekommt.“
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Finn saß im Stadtpark auf einer Bank und hörte Musik. Er hatte verschiedenste Klavierstücke auf seinen MP3-Player überspielt, um sie in aller Ruhe auf sich wirken zu lassen und dann eines auszuwählen, dass er im Klavierunterricht für das Winterkonzert erarbeiten wollte. Er spielte schon, so lange er denken konnte, und es gefiel ihm, auch wenn er sich natürlich von den anderen Jungs den einen oder anderen dummen Spruch gefallen lassen musste. Nachdenklich starrte er in die Ferne und lauschte dabei den Klängen von Beethovens Mondscheinsonate. Es war bestimmt nicht jedermanns Sache, aber in ihm löste es eine angenehme Ruhe aus. Ein paar Schneeflocken fielen auf ihn herab, und Finn blickte erstaunt in den Himmel. Es war immer noch November, und für Schnee eigentlich zu warm. Schnee im November hatte er persönlich noch nie erlebt, und er ertappte sich bei dem Gedanken, es könne vielleicht ein Zeichen sein, dass etwas Schönes bevorstand. Ärgerlich schüttelte er den Kopf. Von wem sollte denn ein Zeichen kommen? Von diesem Gott, an den alle anderen glaubten? Angenommen es würde ihn wirklich geben, dachte Finn, warum sollte er mir irgendwelche Hoffnungen machen wollen, jetzt, nachdem alles schief gelaufen ist? Ja, dieser Gott hatte Finn allein gelassen, als er ihn am Dringendsten gebraucht hatte, und so hatte er sich einfach eingeredet, dass es ihn nicht gab, diesen allmächtigen, gütigen Herrn. Und vom Gegenteil würde ihn niemand überzeugen können. Das hatte Finn sich geschworen, und als er sich daran erinnerte, ballte sich seine Hand zur Faust. Seine Wut passte ganz und gar nicht zu der Klaviermusik, aber dass war ihm egal. Die Erinnerung ließ sich nicht einfach abschalten.
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Gerade wollte Finn den Park verlassen. Er hatte sich genug Zeit zum Nachdenken genommen, er wollte noch etwas essen, bevor er sich nachher mit einigen Freunden im Kino treffen würde. Beim Aufstehen rutschte einer der Stöpsel seines Kopfhörers aus seinem Ohr, und einer von Yirumas größten Erfolgen wurde merklich leiser. So konnte er es hören. Das Rauschen. Was genau es war, konnte er nicht einordnen, es klang wie das Flattern von Vogelflügeln, nur sehr viel schneller, lauter und irgendwie panischer. Es schien ihn einzukreisen, von überall her zu kommen, es hatte keinen regelmäßigen Rhythmus, aber es kam immer näher, direkt auf ihn zu. Finns Herz begann schneller zu schlagen, aber statt dem Impuls nachzugeben, den Stöpsel wieder ins Ohr zu stecken und seine Schritte zu beschleunigen, blieb er stehen, sah sich überall um, versuchte, einen Hinweis auf den Ursprung des Geräusches zu finden. Schließlich richtete er den Blick zum zweiten Mal an diesem Tag gen Himmel. Er sah noch, wie eine Art riesiger Schneeball auf ihn zugeschossen kam, doch zum Ausweichen blieb keine Zeit mehr. Wie ein Felsbrocken fühlte sich das Etwas an, als es mit Finn zusammenprallte und ihn von den Füßen riss, sodass er mit dem Rücken auf dem harten Gehweg aufschlug. Ein stechender Schmerz breitete sich in seinem ganzen Körper aus, und er war sich sicher, dass sein Kopf auch etwas abbekommen haben musste, denn er bildete sich ein, ein junges, dunkelhaariges Mädchen neben ihm liegen zu sehen, dass weiße Federflügel auf dem Rücken trug und in einem fort „Ich bin eine Schande für alle Engel“ murmelte, bevor ihm schwarz vor Augen wurde.