Seit die Götter ihre Welt Kalesh im Stich gelassen haben, ist viel Zeit vergangen und Kalesh lebt mit seinen Lebewesen vor sich hin. Doch eine junge Seherin der Kaangra prophezeit eine Katastrophe, die ihr Volk auslöschen soll. Die Kaangra Nilay muss sich Hilfe aus den beiden anderen Völkern holen, doch seit der Entzweiung der Kontinente lebt jedes Volk für sich, entfremdet für den anderen. Nilay wagt die gefährliche Überquerung des Meeres um den König von Jeranja aufzusuchen und um Hilfe zu bitten. Doch Nilay ist anders, sie wird wegen ihrer den Jeranjas fremden Kräfte als Hexe verurteilt und fast verbrannt - doch der junge Jeranja Cerell und seine Schwester Shaleen retten sie und fliehen mit ihr. Nilay weiß, dass die beiden Jeranjas in das Schicksal, das auch ihr bevorsteht, mit eingesponnen sind und so beginnt ein aufregendes Abenteuer, auf der Suche nach dem Erbe der Götter.
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Kapitel I
Vor etwa zehntausend Jahren, so steht es in die Aufschriften der Götterboten, schuf der Gott Melero die Welt Kalesh. Noch war sie leer und tot, und Melero hatte keine Ahnung, wie er die Welt zum Leben erwecken konnte. Zwar formte er Berge, ja ganze Gebirgszüge, Schluchten, Plateaus, Seen und Flüsse, doch auch das Plätschern und Flüstern des Wassers war für Melero nicht das, was er sich gewünscht hatte. Da trat Meleros Schwester Jerasja hervor. Sie bot ihrem Bruder an, Lebewesen zu erschaffen. Melero nahm dankend an. Jerasja machte ihre Sache wirklich gut – schon bald flogen gefiederte Tiere am Himmel, es grasten vierbeinige Tiere am Boden und Tiere mit Flossen besiedelten das Wasser der Seen und Flüsse. Melero war begeistert und zum Dank bot er seiner Schwester an, dass sie als Göttin der Lebenden mit über Kalesh herrschen durfte. Jerasja nahm das Angebot dankend an. In seiner Freude vergaß Melero seine Welt und so stellte er entsetzt fest, dass im Westen Kaleshs große Hitze herrschte und von dem großen, goldenem Gebirge nur noch ein Streifen übrig war. Die brennende Sonne hatte das Gestein tagsüber erhitzt und die eiskalte, darauffolgende Nacht hatte es gesprengt – es waren nur noch winzige Kristalle übrig. Melero zuckte mit den Schultern. Jetzt konnte er es nicht mehr ändern, erÂ
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konnte nur verhindern, dass es auf dem Rest Kaleshs irgendwann auch so aussah. Also widmete er sich wieder den Tieren. Schweigend sahen die Geschwister zu, wie die Wesen sich bewegten, wie sie sich ihr Futter suchten und wie sie sich vermehrten. Um dem Ganzen einen Abschluss zu geben, formte Jerasja verschiedene Formen von neuem Leben: Wesen, die auf zwei Beinen gingen, Arme und Hände hatten und andere Haare hatten. Jerasja sah mit nachdenklicher Miene zu, wie die „Menschen“, wie sie sie genannt hatte, sich genauso benahmen wie die Tiere. Da trat ein weiterer Gott und Bruder von Melero und Jerasja hervor. Ajel sagte, er wüsste, wie man Wesen Dinge beibringen konnte. Melero gab seinem Bruder die Gelegenheit, den Menschen Handwerke beizubringen. Schon nach kurzer Zeit konnten die Menschen reden, sie lernten, Häuser zu bauen und sogar Gesänge und Tänze entstanden. Melero dankte seinem Bruder und bot auch ihm an, ein weiterer Gott zu werden. Ajel nickte und so wurde er zum Gott der Künste. Allein, dass die Menschen Dinge beherrschten, reichte ihm nicht. Gegen Jerasjas Willen lehrte er die Vögel, zu zwitschern, den Grillen, zu zirpen. Jerasja wollte zuerst protestieren, doch dann sah sie, dass es ihren Kreaturen nicht geschadet hatte. Jerasja hatte den Menschen auf Meleros Drängen hin Tiermerkmale gegeben, damit sie nie vergaßen, dass auch sie nur wilde Tiere waren, die göttlichste Macht in
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ihren Händen hielten. Die Menschen schlossen sich zu je drei Völkern zusammen, jedoch blieben sie befreundet. Ein Volk zog sich in die glühende Wüste von Jeranja zurück, womit sie den Namen Jeranjas bekamen. Das zweite Volk wurde in der Mitte, im Gebirge von Kaangra, sesshaft, und nannte sich selbst das Volk der Kaangra. Dann gab es noch ein riesiges Gebiet, das vor Wald und Wasser nur so troff. Dorthin zog das dritte Volk, in das Gebiet von Beranja. Die Beranjaner lernten als einzigste Rasse schwimmen. Dann gab es ja noch die Tiermerkmale. Die Jeranjas besaßen die Augen von Katzen, grün, gelb und manchmal blau. Sie sahen in der Nacht ausgezeichnet und sie waren so elegant wie ihre tierischen Geschwister. Die Beranjaner konnten schwimmen wie Hunde, länger laufen ohne zu ermüden als irgendeine andere Menschenrasse. Ihre Augen waren im Allgemeinen grün, dunkelblau, grau oder braun. Die Augen der Kaangra waren grün, gelb, orange oder sogar rot. Den Kaangra hatte Jerasja prächtige Schwingen gegeben, mit denen sie fliegen lernten, was bei den beschwerlichen Gebirgsstraßen ihres Lebensraumes durchaus nützlich war. Das Tier der Kaangra war der Adler, so waren ihre Augen scharf und ihre Fingernägel wuchsen um einiges schneller und stabiler als bei den Beranjanern und den Jeranjas. Melero sah, dass die Jeranjas unter dem Wassermangel in der Wüste litten, dass das Getreide der Beranjaner von
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Überflutungen zunichte gemacht wurde und dass die Kaangra unter den heftigen Stürmen im Gebirge zugrunde gingen. Er wollte das ändern. Doch Kalesh ließ sich in seinem Klima, seinen Winden und Regenfällen nicht mehr ändern. Also musste Melero die Menschen ändern. Er tat sich mit Ajel zusammen und machte den Menschen zusammen mit seinem Bruder die Magie zugänglich, so, wie es bis dahin nur die Götter tun konnten. Dank dreier Götterboten, für jedes Volk einer, lernten die Menschen, mit der Magie umzugehen und so hielten die Kaangra Stürme von ihrer Stadt fern, die Beranjaner lernten, ihre Felder vor dem vielen Wasser zu schützen und den Jeranjas stand es nun zur Verfügung, das Wasser aus der Erde zu rufen und die sengende Sonne ihres Landes ein wenig zu schwächen. Melero runzelte verärgert die Stirn, als er sah, dass kaum noch Menschen mehr beteten, da sie ihre Probleme ja nun alleine lösen konnten. Also verschloss Melero denen, die nicht glaubten, die Magie. Nach ein paar Jahrzehnten entwickelten die Rassen besondere Charaktere, was die Freundschaft zwischen den Völkern nicht immer unbedingt stärkte. Die Jeranjas waren ein zänkisches und herrschsüchtiges Volk. Bald hatten sie einen König, eine große Stadt und schieden sich immer mehr von ihren menschlichen Brüdern ab. Der erste König hatte sich alles und alle unterworfen und die folgenden Könige waren
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immer die Söhne der vorherigen. Die Könige achteten kaum auf die Straßenkinder, Bettler und Diebe und sehr schnell verwahrloste die niedere Bevölkerung. Kinder und Alte starben, ihre Ernährung bestand nur aus den Früchten von Kakteen, Ameisen und einigen Grassamen. Die Reichen lebten von Fleisch und dem Fisch der wenigen Oasen, den sie extra in die Stadt bringen ließen. Auch das wenige Getreide, das in den Oasen wuchs, ging an die Reichen. Statthalter wurden in die Oasen verwiesen, damit sie dort das „Gesindel“, heimatlose Kinder und alte, schwache Bettler, fernhielten. Hinrichtungen wurden ohne ein faires Gerichtsverfahren vollstreckt, alles entschied der König, oft auch danach, ob der Angeklagte seine Abgaben pünktlich entrichtete, was dann mit angeblichem Mordversuchen und Raufereien eigentlich nichts zu tun hatte. Niemand wiedersprach dem König, alles lief nach einer steifen und grausamen Ordnung. Eine alleinherrschende Königin kam nicht in Frage. Die Kaangra hatten ebenfalls einen Palast und Könige. Es waren Männer und Frauen und die Wörter „königliches Geblüt“ existierten nicht. Das erste Königspaar waren ein Mann und eine Frau, die den Kaangra Mut machten, ihre Stadt instand zu halten und nicht aufzugeben. Sie machten eine Quelle ausfindig und fingen an, vor den Augen der anderen Kaangra einen Kanal zur Stadt zu graben. Schon nach kurzer Zeit machte der Rest des Volkes
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mit und alle Kaangra waren sich einig: Niemand anderes als diese beiden loyalen Kaangra sollten König und Königin werden. Die Könige waren selten die Nachkommen ihrer Vorfahren. Die Ältesten Kaangra wählten einen jungen, kräftigen Jungen oder ein hübsches, junges Mädchen aus dem Volk und machte es zu König oder Königin. Tat der König etwas, das gegen das Volk ging, kam es oft vor, dass das gesamte Volk den König verjagte und für drei Jahre verbannte. Die Beranjaner dagegen bauten weder Städte, noch hatten sie Könige. Sie hatten kleine Siedlungen, umrandet von Teichen und Feldern. Ihre Nahrung bestand aus Korn, Fisch, Fleisch, Beeren, Nüssen und allem, was der Wald, die Wiesen und die Seen zu bieten hatten. Die Beranjaner halfen sich gegenseitig, Männer und Frauen waren gleichberechtigt, die Kinder wuchsen gesund auf. Kein Kind wurde davongejagt, selbst wenn die Felder leer waren und eine Familie über fünfzehn Kinder hatte: Von irgendwoher kam Hilfe, die zu schätzen gewusst wurde. Noch heute, nach mehreren Jahrhunderten, sind die Beranjaner das entgegenkommenste Volk Kaleshs. Viele Jahre war alles in Frieden. Doch Jerasja entwickelte einen gewissen Geiz und so dachte sie sich, wenn sie die Lebewesen Kaleshs erschaffen hatte, sollte sie auch über deren Können bestimmen. Also ging sie mit ihrem Anliegen zu ihrem Bruder und forderte seine Macht für sich. Doch
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Ajel weigerte sich und sagte, dass Jerasja für eine solche Fähigkeit nicht bestimmt war. Jerasja wurde wütend und begann hysterisch, den Streit herauszufordern und zu provozieren. Irgendwann reichte es Ajel und er begann, seine Schwester anzuschreien. Als Melero den Streit bemerkte, war es schon fast zu spät, um ihn zu schlichten. Ajel stampfte zornig auf die kleine, zerbrechliche Welt auf und Kalesh brach an den Grenzen von Jeranja und Kaangra auseinander, ein heftiges Erdbeben brachte die Dörfer und Städte zu Fall und alle Menschen erwarteten den Untergang der Welt. Melero war sich nicht bewusst, wie er einschreiten konnte und so stieß er seinen mächtigen Stab auf die Erde. Die Folge war ein weiteres Erdbeben und die Grenze zwischen Beranjan und Kaangra brach. So waren alle Völker unwiederbringlich getrennt und die Götter gingen zornig auseinander. Ihre großen Tränen aus Zorn und Trauer füllten die Schluchten und das Nichts auf und ein Meer entstand. Dennoch wagte kein Mensch, nicht einmal die Beranjaner, zu schwimmen, denn das Meer galt bald als bodenlose Tiefe, unter der die Hölle wartete. Melero kam als erstes zur Vernunft und sagte seinen Geschwistern, dass es besser wäre, Kalesh zu verlassen – für immer. Ohne die Magie der Götter würde Kalesh stillstehen. Die Tiere und Menschen würden sterben und die Bäume im Nichts verschwinden, wenn Kalesh für immer auseinanderbrach. Es war ein
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trauriges Los, dem Kalesh nicht entkommen konnte. Die Götter nickten und lösten sich langsam auf. Die Menschen erwarteten ihr furchtbares Ende, von der Finsternis verschlungen zu werden. Die Götter verschwanden vollkommen. Und alle Menschen, egal welches Volkes wussten, dass es ihr Ende war. Doch ein winziges Stück Magie blieb zurück und wurde vom letzten, schwachen Windchen verweht …
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Kapitel II
Mit einem Ruck wurde Cerell wach. Hatte er schon wieder geschlafen? Hatte der König dies bemerkt? Würde er deshalb gleich ausgepeitscht werden? Nein. Die Worte des Königs, der Königin und der Prinzessin drangen schwach an seine feinen Ohren. Cerell unterdrückte ein Gähnen und spähte vorsichtig hinter dem Thron hervor und sah sich um. Er nickte seiner Schwester zu, die zusammen mit anderen Frauen an den Wänden stand und sich nicht bewegte. Nur in ihren Augen flammte ein schwaches Glitzern auf, welches immer erschien, wenn sie Cerell sah. Shaleen war genauso wie Cerell Dienerin in der Stadt der Jeranjas. Shaleen war in orangefarbene Tücher gehüllt, die golden schimmerten und Cerell an Abbildungen der Göttin erinnerten. Shaleen und die Prinzessin waren beide wunderschöne, junge Frauen – doch Cerell dachte immer wieder, dass Shaleen die Schönere war. Aber natürlich durfte er das nie sagen. Cerell zuckte zusammen, als plötzlich die Trompeten die Mauern erzittern ließen.
Auf ihrem Weg durch die Stadt hatte Nilay schon einiges gesehen. Einiges hatte sie verwirrt, anderes irritiert und manches hatte sie sogar fasziniert. Auf den staubigen Straßen saßen Händler und verkauften ihre Waren. Es waren seltsame Früchte, Früchte, die Nilay noch nie gesehen hatte.
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Doch zuweilen duftete es wirklich gut. Nilay sah riesige Tiere, fast doppelt so groß wie sie selbst, mit riesigen Ohren und einer langen Nase und mörderisch langen Zähnen, auf denen Menschen saßen … Nilay musste sich zurückhalten, als sie sah, wie ein Huhn geschlachtet und gerupft wurde. Um ein Haar hätte sie sich auf den Menschen gestürzt und ihn erwürgt oder erschlagen. Vögel waren heilig und durften nicht getötet werden. Nilay schluckte ihren Drang, das Huhn zu rächen, hinunter und wendete sich ab. Sie war in einer fremden Stadt, in einem fremden Land, in dem andere Sitten galten. Nilay konnte sich nicht an diese fremde Umgebung gewöhnen. Vielleicht lag es daran, dass sie die einzigste Kaangra hier war.
Cerell lugte interessiert hinter dem Thron hervor. Eine Fremde betrat den Raum. Sie trug ein langes, weißes Gewand, ihr Gesicht war bis auf die Augen vermummt. Ihre Haut war hell – ja fast kalksteinweiß! So etwas hatte Cerell noch nie gesehen. Auf ihrem Rücken hatte sie eine Beule, die beinahe wie ein Buckel aussah – was aber nicht zu ihrem jungen Gesicht passen würde. Cerell war auf ihr Anliegen gespannt. Es musste eine besondere Jeranja sein, deren Haut nicht so dunkel war wie bei allen anderen. Noch dazu eine Buckelige, so wie es aussah. Neben dem Thron brannten zwei Fackeln, die anderen im Gang waren aus. Die Gestalt war nur schwach zu erkennen, da der restliche Raum in
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Dunkelheit getaucht war. „Nun, Fremde“, sagte der König. „Was ist euer Anliegen? Sprecht!“ Die Gestalt trat näher. „Mein König…“ Sie sah sich unruhig um. Sie lief weiter, bis sie sich vor den König kniete. In dem Augenblick, als ihre Knie den Boden berührten, brannten die restlichen Fackeln hell auf. Cerell keuchte zusammen mit den Dienerinnen, dem König, seiner Gemahlin und seiner Tochter erschrocken auf. „Eine Hexe!“, kreischte die Prinzessin.Die Fremde blickte auf und in ihren Augen lag Entsetzen, ehe die Wachen sie ergriffen und fortzerrten. „Das werdet ihr büßen!“, schrie die Fremde voller Hass, bevor sie aus dem Thronsaal geschleift wurde. Cerell konnte es nicht fassen – die Fremde war eine Hexe gewesen. Sein Herz hörte langsam auf, wie verrückt in seiner Brust herum zu hüpfen und Cerells Atem normalisierte sich wieder. Um ein Haar hätte er sich vor Entsetzen übergeben.
Das Urteil war ohne weitere Umschweife gefällt worden - Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen. Als Diener fiel Cerell die Aufgabe zu, den Gefangenen das Essen zu bringen – auch der Hexe. Cerells Magen krampfte sich zusammen, als er mit dem Tablett in der Hand die verrostete Eisentür öffnete, die furchtbar quietschte. Cerell verfluchte den Tag vor fünf Jahren, an dem er und Shaleen in den Palast geholt worden war, um dort Diener zu werden. Diener?  Zuweilen traf Sklave ihren Zustand besser. Cerell stieg die Treppe
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hinab in den Kerker, wo links und rechts die Zellen waren. Das Wimmern, Jammern und Stöhnen der Insassen zeriss Cerell zuweilen fast das Herz. Die Mörder, Diebe und Ehebrecher taten Cerell nicht leid. Es waren die Unschuldigen, Bettler und Straßenkinder, die Cerell so gerne aus dem Verlies geholt hätte. Doch das ging nicht. Sein Leben, das noch eine einigermaßen gute Zukunft hatte, stünde auf dem Spiel. Und das von Shaleen. Nicht nur Menschen waren die Insassen des Kerkers. Auch ausgehungerte Löwen, Elefanten, Geier und Adler warteten darauf, endlich ihr Fressen in der Arena zu bekommen. Cerell eilte, so schnell es eben mit dem Tablett ging, den Gang entlang. Die Hexe war nicht hier untergebracht. Sie war draußen auf dem Stadtplatz, wo sie jeder sehen konnte. Er erreichte eine weitere Tür, die ins Freie führte. Die kalte Nachtluft empfing ihn und das Bellen von wilden Hunden, das Miauen von alten, streunenden Katzen und der Gestank nach Vieh schlug ihm entgegen. Und er vernahm ein leises Wimmern. Cerell sah den eisernen Käfig, in dem die Hexe saß. Sie kommt einem gar nicht bösartig vor, dachte Cerell. Doch gleichzeitig warnte er sich, vorsichtig zu sein. Die Hexe war von den Bewohnern der Stadt anscheinend gequält und gedemütigt worden. An ihrem weißen Gewand klebten die Ãœberreste von faulen Eiern, mit denen sie beworfen worden war und ihr Gesicht zeigte rote Striemen wie vonÂ
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dornigen Zweigen, die man ihr ins Gesicht geschlagen hatte. Sie schreckte ruckartig auf, als Cerell sich ihr näherte. Das kann einfach keine Hexe sein!, dachte Cerell wieder. Doch Cerell sagte nichts, als er das Tablett durch einen kleinen Schlitz in den Käfig schob. Cerell wandte sich wieder zum Gehen. Ich hoffe, dass es die Unterwelt nur für die wirklich Schuldigen gibt, dachte Cerell traurig. Denn er wusste, würde er ihr helfen, würde auch er als Hexer verbrannt werden, geköpft, gehängt, ertränkt, vergiftet oder sie würden ihn verhungern oder verdursten lassen. Oder er würde in der Arena um Leben und Tod kämpfen müssen. Und das wollte er weder sich noch Shaleen antun. „Warte! Bitte!“, drang plötzlich ihre Stimme an sein Ohr. Cerell blieb stehen und kniff die Augen zusammen. Verdammt, Cerell! Wenn du das tust, wird sie dich verhexen!, warnte er sich mit schneidender Schärfe. Dennoch drehte er sich langsam um. In ihren flehenden, gelben Augen funkelte ein kurzes Glitzern von Dank und Erleichterung auf, erlosch jedoch sofort wieder. Erst jetzt fiel Cerell auf, dass ihre Augen anders waren, als bei den anderen Jeranjas. Die Pupillen waren nicht so schmal. Eher greifvogelartig. „Was ist?“, fragte Cerell, schroffer als beabsichtigt. „Hilf mir! Bitte!“, flehte die junge Frau. Cerell musterte sie kritisch. „Um deines und deines Volkes Willen!“, sagte die Hexe eindringlich. Cerell ging ein paar Schritte zurück. „Was
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wolltest du vom König?“, fragte Cerell misstrauisch. „Dich.“ Cerell riss die Augen auf, drehte sich um und rannte davon. Auf die Rufe der Hexe reagierte er nicht mehr.
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Kapitel III
Cerell war von schrecklichen Alpträumen geplagt worden und langsam schwand seine Überzeugung, dass die Frau unschuldig war. Verdammte Hexe, ich hoffe, du schmorst in der Hölle, dachte Cerell bitter, als er zum dritten Mal aufwachte. Als die Glocke schlug, erhob Cerell sich matt. Um ihn herum hatten hunderte andere Sklaven und Diener geschlafen, die jetzt auch aufstanden. Cerell schlurfte zusammen mit den anderen in Richtung Küche, wo sie alle Fladenbrot, Feigen und Datteln bekamen. Aus einem anderen Raum kamen die weiblichen Dienerinnen, darunter auch Shaleen. Cerell wandte seinen Blick schnell ab, als einer der Sklaven eine schallende Ohrfeige von einem der Aufseher bekam, weil er seinen Blick nicht von den jungen Frauen lassen konnte. Sie aßen schweigend in ihrem Raum, bevor sie in den Königshof und in den Thronsaal liefen. Dort traute Cerell sich auch wieder, seine Schwester anzusehen und sie durch ein Lächeln zu grüßen. Dann erfuhren alle Sklaven die frohe Kunde: Sie bekamen die Zeit, um bei der Hinrichtung der Hexe dabei sein zu können. Auch Cerell und Shaleen machten sich auf zum Stadtplatz, wo bereits der Pfahl stand, an den die Hexe gebunden werden würde. Als das ganze Volk versammelt war, führten Soldaten die Gefangene herbei. Ihr weißes Kleid war inzwischen
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gelbbraun geworden und ihre Augen waren gerötet. „Du, weißt du, ich glaube ja nicht, dass das eine Hexe ist“, flüsterte Shaleen ihm so leise zu, dass keiner außer ihm es verstand. Cerell musterte die Hexe nachdenklich. „Ich ja eigentlich auch nicht, aber du weißt, wie die Hexen vor ihr waren“, erwiderte Cerell. Als die Hexe seinen Blick auffing, bekam Cerell eine Gänsehaut. Ihre flehenden Augen waren voller Verzweiflung und … Unschuld. „Sie hat gehext, wir haben es alle gesehen“, sagte Cerell. „Gewiss, aber vielleicht nicht mit böser Absicht“, meinte Shaleen. „Das war eine Drohung und außerdem…“ Cerell hielt kurz inne, bevor er seiner Schwester in kurzen Worten schilderte, was die Hexe am vergangenen Abend zu ihm gesagt hatte. „Klingt recht zweideutig“, meinte Shaleen kritisch. „Ich finde es eindeutig“, meinte Cerell. Wie immer waren die Geschwister zweierlei Meinungen. „Außerdem hast du ihren kalten Blick noch nicht gesehen“, fügte er hinzu. „Doch“, sagte Shaleen. „Ja, aber nicht auf dir. Das ist wirklich grausam“, erwiderte Cerell. „Na gut. Ihre Augen mögen kalt und seltsam sein, aber was kann sie dafür?“, fragte Shaleen. „Hätte sie einfach nicht gehext und ihr Anliegen gesagt, dann wäre sie jetzt nicht hier“, sagte Cerell trocken. Shaleen sah ihn auf einmal mit vor Zorn funkelnden Augen an. „Was wäre, wenn du zaubern könntest und es dir herausrutschen würde? Dann könntest du an ihrer Stelle auf dem
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Scheiterhaufen verbrennen!“, flüsterte sie sauer. Cerell schluckte, denn er wusste, wie recht sie hatte. Er dachte an … Er verbannte den Gedanken, bevor er ihn gedacht hatte. „Ich kann aber nicht zaubern“, sagte er fest und sah in Richtung Scheiterhaufen und Hexe. Die seltsamen Augen waren von anderer Form. Ihre Pupillen waren rund, nicht so schmal wie die Augen der Jeranjas. „Hast du mal ihre Augen gesehen?“, fragte Cerell leise. Shaleen nickte. „Wie die Augen der Adler im Gebirge“, sagte sie. Cerell sah in ihre blauen Katzenaugen und sah Tränen. Cerell blickte auf und sah, wie das Stroh um den Pfahl herum in Flammen aufging. Wie die Augen der Adler im Gebirge, ging es Cerell noch einmal durch den Kopf. Tatsächlich! Shaleen hatte recht. Die Augen, in denen sich die Flammen spiegelten, waren die Augen eines Adlers. Die Frau blickte ein letztes Mal auf. „Cerell, ich bitte dich! Hilf mir!“, schrie sie, als die Flammen ihr Gewand erfassten. Da war Cerell nicht mehr zu halten. Alle Zweifel waren verflogen, dafür war ihm etwas klar geworden: Die Fremde musste eine Kaangra, eine Geborene der Adler, sein! Cerell sprang vor, wobei er sein Messer zückte, das ihm keiner der Wachposten jemals hatte wegnehmen können, sprang zu der Fremden in die Flammen, schnitt ihre Fesseln durch und zog sie mit sich. Das alles hatte weniger als fünf Sekunden gedauert, denn als Jeranja und damit Geborener der Katzen war Cerell auch so
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flink und schnell wie eine solche. Er zog die Frau hoch und stieß sie durch die Menge hindurch, ehe die Wachen einschreiten konnten. „Komm“, keuchte Cerell und zog die Fremde in einen dunklen Gang, der sich leicht in die Tiefe bohrte. Es war ein Geheimgang, den nur Cerell und Shaleen kannten. Cerell zog über sich die Holzplatte zurück und betete, dass die Menschen da draußen ihn nicht finden würden. Während dessen liefen die beiden Flüchtlinge durch den dunklen Gang. „Warte, ich sehe nichts!“, rief die Frau, als Cerell sie schnell weiterzog. Cerell stöhnte. Das konnte keine Jeranja sein, Jeranjas konnten im Dunkeln sehen. „Moment“, sagte die Frau und schnipste mit den Fingern. Eine kleine, aber helle Flamme brannte herauf und tanzte auf ihren langen, krallenartigen Fingernägeln. Cerell spürte einen Schrei in seiner Kehle, denn die Angst vor solchen Kräften umklammerte sein Herz mit eiserner Faust, doch Cerell sah das beruhigende Glitzern in ihren runden Augen und Cerell riss sich zusammen. „Komm“, sagte er wieder und lief weiter. Er kam zu einer weitere Luge, die nach draußen ins Freie führte.
Nilay hatte das Gefühl, die heiße Luft würde ihr Fleisch zerfressen. Eine solche Hitze war sie nicht gewohnt. Doch sie sagte nichts. Es beschämte sie, dass sie kein Wort des Dankes über die Lippen brachte, so erstaunt war sie wegen des Mutes des Jeranjas, der sie soeben gerettet hatte. Sie
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hoffte, der Jeranja würde das dankende Funkeln in ihren Augen sehen. Gleichzeitig fiel Nilay etwas auf. Die Legenden sind wahr! Die Wüstenleute haben tatsächlich die Augen der Katzen!, dachte sie. „Danke“, sagte sie endlich. Sie war zu erschöpft, um größere Worte zu machen. „Jetzt sind wir beide Flüchtlinge und die Wachen werden nicht ruhen, ehe wir beide am Galgen unseren letzten Atemzug tun“, sagte der Jeranja kühl und sah sich um. Er hatte einen gewissen Dialekt, den alle Jeranjas hatten. Er sprach jedes s weicher aus, als es Nilay immer tat. Außerdem kam es vor, dass er manche Buchstaben, meist Vokale, nicht genug betonte. Nilay erschrak, denn darüber, dass sie nun auch ihren Retter in Gefahr gebracht hatte, hatte sie sich keine Gedanken gemacht. Doch sie schüttelte alle ihre Schuldgefühle ab. Sie hatte bekommen, was sie wollte.
Shaleen schlängelte sich durch die Menschenmenge hindurch, bis sie schließlich an das kleine Holzbrett kam, welches der Zugang zu einem Geheimgang war. Unbemerkt verschwand sie in dem Loch, lief unter den Häusern hindurch, unter der Stadtmauer und schob eine weitere Holzplatte zur Seite, um wieder an die Oberfläche zu gelangen. Shaleen hielt ihre Nase in den Wind, um eine Fährte aufnehmen zu können. Ihr Instinkt sagte ihr, dass Cerell und die Fremde sich hinter die nächste Düne gerettet hatten und dass es beiden gut ging. Sie lief los. Der feine
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Wind wehte winzige Sandkörner an ihre Arme und Beine und in ihr Gesicht und rieben die Haut wie Schmirgelpapier auf. Shaleen zog ihr feines Gewand enger um sich und dann hatte sie die Düne erreicht.
Als die Fremde erschrocken aufschrie, fuhr Cerell blitzschnell herum. Auf der Düne stand eine schwarze Gestalt. „Cerell!“, rief die Gestalt auf der Düne, die die Fremde so erschreckt hatte. „Shaleen!“, rief Cerell erfreut zurück. Shaleen kam langsam im weichen Sand heruntergeschlittert. „Keine Sorge, das ist meine Schwester, Shaleen“, sagte Cerell zu der Fremden. Er hielt kurz inne. „Du verstehst doch unsere Sprache, oder?“, fragte Cerell. „Ja, solange ihr die Sprache aller Völker sprecht“, sagte die Fremde. Die Fremde hatte einen seltsamen, fast lustigen Dialekt und die Angewohnheit, jedes Wort mit Nachdruck zu betonen. Außerdem sprach sie jedes Wort gut bedacht und zurechtgelegt aus, so, als würde sie von irgendwoher Befehle bekommen. „Das tun wir ja“, sagte Cerell. „Wir Jeranjas sprechen nur noch die Sprache aller Völker“, fügte er hinzu. „Ja, das mag wahr sein…“, sagte die Fremde. „Wie heißt du?“, fragte Cerell. „Nilay“, sagte die Fremde. „Gut, Nilay. Ich weiß zwar nicht, woher, aber meinen Namen scheinst du ja schon zu kennen“, meinte Cerell. „Ja, das stimmt“, sagte Nilay. „Willst du uns vielleicht erzählen, woher du meinen Namen kennst?“, fragte Cerell. NilayÂ
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nickte. „Gibt es hier vielleicht einen Ort, an dem wir ungestört reden können?“, fragte sie. Cerell nickte. „In einigen Schritten fängt das Gebirge des Ajels an. Dort gibt es viele Höhlen“, sagte er. „Gut“, sagte Nilay. Sie legten einen langen Fußmarsch zurück, wobei sie ihre Gesichter mit Tüchern verhüllen mussten, um nicht als Skelette zu enden. Nilay schien sichtlich Probleme zu haben, weniger mit dem Wind als mit der Hitze und dem Laufen. Sie keuchte, dass man es sogar durch das Pfeifen des Windes hören konnte. Sie schien nahe am Zusammenbrechen zu sein, als endlich der rauhe, gelb-weiße Stein in Sicht war, der das heilige Gebirge kennzeichnete. Cerell ging einige Schritte an der zerlüfteten Felswand entlang, ehe er auf einen Felsvorsprung sprang. Dahinter tat sich eine Höhle auf. Shaleen lächelte Nilay an und kletterte Cerell hinterher. Nilay tat sich sehr schwer und Cerell und Shaleen mussten sie zu sich hinaufziehen. Dann setzten sie sich nebeneinander und schwiegen eine Weile. Dann räusperte Cerell sich. „Du bist keine Jeranja“, sagte er. Nilay lachte leise. „Scharfsinnig“, sagte sie. „Was bist du? Eine Kaangra?“, fragte Cerell. Nilay griff in ihren Nacken und zog ihren Umhang von ihrem Rücken. Zwei riesige Schwingen kamen zum Vorschein. Sie waren schmal und lang und schienen anders zu sein als die Schwingen von Adlern. Sie schienen nur nach außen und nach innenÂ
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beweglich zu sein, nach hinten waren sie scheinbar nicht zu bewegen. Außerdem war Nilays Haar goldblond, eine Haarfarbe, die die Jeranjas gar nicht kannten. „Das heißt dann wohl ja“, murmelte Cerell. Nilay grinste verlegen, bis Cerell erschrocken aufsah. „Wie bist du über die bodenlose Tiefe gekommen? Bist du geflogen?“, fragte er. „Ja“, sagte Nilay. Cerell sprang auf und trat ein paar Schritte zurück. „Reg dich ab. Das große Wasser mag ja bodenlos sein, aber es frisst keine Seelen“, sagte Nilay. Cerell schluckte. „Woher weißt du das?“, fragte Cerell. „Ein kleiner Junge fiel vor einigen Wochen bei seinen Flugübungen ins Wasser – die Priester wähnten ihn schon als verloren, doch er fing an zu weinen - und wie ihr wisst, weinen die Seelenlosen nicht. Sie bringen andere zum Weinen und laben sich an ihrem Schmerz.“ Nilays Stimme wurde hart. „Ich habe den weiten Weg gemacht, um euer Volk vor großem Unheil zu bewahren, und ich werde fast als Hexe verbrannt.“ Cerell zuckte mit den Schultern. „Hättest du nicht gehext“, meinte er trocken. Nilay lachte hart auf. „Woher soll ich wissen, dass euch Wüstenleuten die Magie abhanden gekommen ist?“, fragte sie gereizt. Shaleen blinzelte. „War sie denn jemals in unserem Besitz?“, fragte sie irritiert. „Bei Jerasjas Zöpfen!“, explodierte Nilay. „Wo zum Geier habt ihr die Aufzeichnungen der Götterboten gelassen?“ „Jetzt schrei doch nicht so“, flüsterte Cerell. „Die Aufzeichnungen liegenÂ
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in der Bibliothek, dahin haben wir keinen Zugang“, erklärte er. Nilay lachte wieder kurz. „Aha. Göttliche Macht scheint also nur dem hohen Adel bestimmt zu sein. Aber nicht mal das habt ihr Wüstenleute auf die Reihe gekriegt“, sagte Nilay spöttisch. Cerells grüne Katzenaugen wurden noch schmaler, als sie es ohnehin schon waren. „Nimm das zurück!“, knurrte er. „Warum? Es ist die Wahrheit“, sagte Nilay und ihr Tonfall wurde versöhnlicher. „Gut. Erzähl uns von deiner Geschichte und davon, was dich zu uns getrieben hat“, bat Shaleen. Nilay nickte. „Magie war einst ein natürlicher Bestandteil Kaleshs, doch sie scheint den Jeranjas nun gänzlich verwehrt. Es war der Fluch Meleros, der den Menschen, die nicht glauben, die Magie verschloss“, sagte Nilay und schüttelte ihre goldenen Haare aus. „Wir glauben aber!“, rief Cerell. Nilay sah die beiden Kinder prüfend an. „Ja, das glaube ich euch sogar. Wahrscheinlich könnt ihr nicht zaubern, weil es euch niemand gelehrt hat“, sagte sie. „Gut möglich“, meinte Cerell. „Gut … wo war ich stehengeblieben?“, fragte Nilay. „Von welchem großen Unheil hast du vorhin geredet?“, fragte Shaleen und beugte sich zu Nilay. „Ach ja“, sagte Nilay. „Ich will jetzt hoffen, dass ich nicht wieder als Hexe auf dem Scheiterhaufen lande, wenn ich euch von meinem Volk erzähle“, meinte sie düster. „Wirst du nicht“, versprach Shaleen ihr. „Also. Ich gehöre zu den wenigen Wahrsagern und Hellsehern meinesÂ
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Volkes. Mein Volk wird euer Volk vernichten“, sagte sie kurz angebunden. „Und da kommst du extra zu uns, um uns das zu sagen?“, fragte Cerell spöttisch. „Bist du nicht eher eine Spionin?“ Nilays Augen funkelten wütend. „Echt, Nilay, warum sollten wir dir glauben? Warum kommst du zu uns, um uns, uns niederträchtige Geschöpfe, vor deinem eigenen Volk zu bewahren?“, fragte Cerell und seine Augen musterten Nilay mit unverfehlbarem Triumph. „Weil sie sich gegenseitig vernichten werden, du Dummkopf!“, fluchte Nilay. Cerells Augen wurden plötzlich blind vor Scham, doch dann brach sein Stolz wieder hervor. „Wie sollen sie das denn anstellen?“, fragte Cerell und lachte. Nilay knurrte leise. „Wir Kaangra verstehen uns auf das Messerwerfen, das Bogenschießen und natürlich im Umgang mit zerstörerischer Magie. Ihr Jeranjas werdet mit euren Messerwerfern, euren Kanonen und euren Schwertkämpfern den Kaangra überlegen sein. Die Kaangras werden fliegend eure Stadt angreifen und eure Stadt in Brand setzen, sodass keiner flüchten kann. Ihr Jeranjas werdet die Kaangra alle töten und ihr werdet in einem Inferno aus Flammen umkommen“, sagte Nilay. Cerell schluckte. „Und warum rettest du uns dann?“, fragte er. „Na ja … wie gesagt, mein Volk wird auch ausgelöscht werden und ihr beide seid auserwählt, zusammen mit mir dies zu verhindern“, meinte Nilay leise. „Wir?“, fragte Shaleen. Nilay nickte. „Wir drei,
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doch es fehlen noch drei Auserwählte. Es sind aus jedem Volk zwei, so werden wir sie erst finden müssen, ehe wir etwas verhindern können“, erklärte die Kaangra.  „Na gut“, sagte Cerell. „Angenommen wir würden mitkommen…“, sagte er und grinste schelmisch. „Frieden?“, fragte er. Nilay lächelte. „Frieden“, sagte sie. „Frieden“, grinste Shaleen. Dann traute sich niemand, etwas zu sagen, um nicht das empfindliche Band der Freundschaft, das sie gerade gewebt hatten, wieder zu zerstören.
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Kapitel IV
Sie hatten ein kleines Lagerfeuer gemacht und sich dann zur Ruhe gelegt, in der Hoffnung, dass die Wachen der Jeranjas sie nicht finden würden. Erst jetzt wurde Cerell richtig bewusst, dass er mit seiner Tat sich und seine Schwester zu Verbrechern gemacht hatte, nur, um eine verrückte Kaangra zu retten. Aber wenn es stimmt, was Nilay sagt, dann haben wir noch Chancen auf ein gutes Ende, dachte er.
Am nächsten Morgen sah er als Erstes, dass Shaleen neues Holz, das sie in der Höhle gefunden hatte, in das Feuer legte. Sie lächelte ihm zu. Cerell setzte sich auf und sah, dass Nilay noch schlief. Sie schlief auf der Seite, anders hätten es ihre Flügel wohl auch kaum zugelassen. Ihre großen Schwingen lagen schlaff auf dem Boden. Cerell nahm dankbar ein paar Datteln entgegen, die Shaleen ihm reichte. „Jetzt sag bloß, du warst wegen ein paar Datteln in der nächsten Oase“, murmelte Cerell. „Nein. Wir scheinen nicht die ersten Bewohner dieser Höhle zu sein, dort hinten habe ich ganz viel Mehl und Früchte gefunden“, sagte Shaleen und zeigte in die gähnende Leere der Höhle. „Gut“, sagte Cerell. Nach einigen Minuten wachte auch Nilay auf. „Was ist das?“, fragte Nilay, als Cerell ihr die Datteln ebenfalls hinhielt. „Datteln. Das sind leckere Früchte“, sagte Cerell. Nilay nahm eine der getrockneten Früchte und probierte
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vorsichtig. Dann lächelte sie dankbar. „Wisst ihr, bei uns gibt es nur ein paar Früchte, in der Geröllwüste unterhalb des Gebirges“, sagte sie. Cerell grinste. „Ach ja, was mir heute Nacht noch eingefallen ist“, begann Shaleen. „Warum sollten die Kaangra uns Jeranjas angreifen? Einfach so? Weil es ihnen Spaß macht?“ Cerell lachte mit zerreißendem Spott in den Augen. „Vermutlich denken sie, wir hätten Nilay entführt und wollen sie zurück“, meinte er. Nilays Augen wurden schmal. Dieser Spott war wie ein Stoß in die Eingeweide und was noch schlimmer war, war, dass Cerell eine Möglichkeit aufgedeckt hatte. War es wirklich so? Hatte sie ihre eigene Dummheit vorrausgesehen? Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, es gibt andere Gründe“, sagte sie bestimmt. „Na gut … aber welche?“, fragte Shaleen. „Das weiß ich nicht, aber wir müssen es verhindern“, sagte Nilay. „Angenommen es ist dem so …“, meinte Cerell. „Wie wollen wir es verhindern?“, fragte er. „Habt ihr schon einmal vom Erbe der Götter gehört?“, fragte Nilay. Die Jeranjas schüttelten den Kopf. „Also. Es gibt drei Artefakte, auf jedem Kontinent eines. Das ist das Auge des Ajels, der Knochen von Melero und das Haar der Jerasja“, erzählte Nilay. „Es sind natürlich nicht die echten Ãœberbleibsel der Götter, sondern von ihnen geheiligte natürliche Gegenstände“, erklärte Nilay. „Und wozu sind die gut?“, wollte Shaleen wissen. „Sie sind für denjenigen
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bestimmt, der auserwählt ist, sie zu nutzen. In sich verbergen die drei Artefakte eine nahezu göttliche Macht. Wozu genau die Artefakte verwendet werden sollen, weiß keiner“, erzählte Nilay. „Aber was hat das mit uns zu tun?“, fragte Cerell. Shaleen riss die Augen auf. „Du willst … du glaubst doch nicht etwa, dass wir …“, stammelte das Mädchen. „Nein, nicht wir. Einer von uns sechs. Doch wir müssen die letzten drei erst finden … um schließlich den Auserwählten zu finden“, sagte Nilay. „Wie denn?“, fragte Shaleen. „Die Artefakte sich mehr als nur Gegenstände, sie sind magisch“, sagte Nilay und lächelte. „Moment - wir müssen Jeranja verlassen, richtig? Wie, um alles in der Welt, sollen wir über das große Wasser kommen? Jeranjas sind keine Fische!“, rief Cerell aus. Nilay schnaufte leicht verzweifelt. „Ein Kaangra kann große Lasten tragen und ausgezeichnet fliegen“, sagte Nilay. „Ihr seht mir nicht allzu schwer aus – ich werde euch tragen“, sagte die Kaangra. „Nilay … traust du dir das wirklich zu?“, fragte Shaleen. Nilay nickte. „Ehrlich, Kaangra haben kräftige Körper“, sagte das Mädchen. „Ich glaube ihr“, sagte Shaleen. Cerell schnaufte. „Na gut. Ich komme mit. Hier habe ich ja sowieso nichts zu verlieren“, sagte er. „Gut. Wir werden gleich aufbrechen“, sagte Nilay. „Cerell, kannst du ungefähr sagen, wie lange wir bis zum großen Wasser brauchen werden?“, fragte Shaleen ihren Bruder. „Ja … etwa drei Tage, wenn
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das Wetter günstig ist, auch zwei“, sagte der dunkelhaarige Junge. „Wir dürfen keine Zeit verlieren“, sagte Nilay. Shaleen packte alle Früchte, die sie in der Höhle fand, zusammen. Sie benötigten Wasser, doch davon hatte Shaleen keines gefunden. Nur eine leere Wasserschüssel und einen Wasserschlauch. Shaleen lief etwas weiter in die Höhle und fand eine unterirdische Tropfsteinhöhle vor. Dort war genug Wasser. Dieses Problem war also gelöst. Schließlich war Nilay sich sicher, dass sie bereit zum Aufbruch waren. Sie trat aus der Höhle – und taumelte sofort wieder zurück zu ihren neuen Freunden. Die blasse Kaangra sah sie mit glanzlosen Augen an. „Können wir vielleicht in der Nacht gehen?“, fragte sie kläglich.
Sie mussten wegen Nilay warten, bis es dunkel wurde. Die Kälte der Nacht der Wüste war für Nilay besser zu ertragen als die sengende Hitze am Tag. Nun hielt sie nichts mehr. Sie lief, so schnell es durch den Sand ging. Die beiden Jeranjas folgten ihr. Wie viel ihr daran liegt, ihr Volk zu retten!, dachte Cerell. Ich würde mir für unser Volk nicht einmal fünf Haare ausreißen und Nilay riskiert sogar ihren Hals. Bei den Gedanken an sein Volk zogen sich seine Gedärme zusammen, mit so viel Schmerz war es verbunden. Er erinnerte sich dunkel, wie der König - dieser elende Mörder! - seine und Shaleens Eltern vor den Augen ihrer beiden Kinder gefoltert, verurteilt und umgebracht hatten
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Unheimliche Wut kochte in Cerell auf, die Trauer fachte das Ganze noch mehr an – doch mit der unglaublichen Sturheit der Jeranjas gelang es ihm, seine Gefühle zu ersticken, so wie er es schon viele Jahre getan hatte.
„Verflucht sei dieser Trottel von einem Gott“, fluchte Nilay, als die Sonne aufging. „Wen genau meinst du?“, fragte Cerell lachend, während er und Shaleen begannen, ein Schutzzelt aufzubauen, das sie ebenfalls in der Höhle gefunden hatten. „Melero“, knurrte Nilay. „Dieser Dummkopf hat die Wüste zu dem gemacht, was sie ist“, erklärte Nilay, als sie Shaleens fragenden Blick auffing. Dankbar kroch Nilay in das kleine Schutzzelt. Ihre helle Haut verbrannte wie Baumwolle und schon bald war sie rot und geschwollen. Die Haut der Jeranjas dagegen war dunkel und gegen beinahe alles gewappnet. Als der Mond endlich über die Dünen lugte und die Sonne sich langsam zurückzog, kam Nilay wieder aus dem Zelt. „Sagt mir nicht, dass ihr den ganzen Tag draußen wart“, stöhnte sie. Cerell und Shaleen grinsten sich vielsagend an. „Bei Ajel, ich verfluche diese verdammte Wüste“, fauchte Nilay. Shaleen und Cerell schenkten ihr nur mitleidige Blicke.
Sie zogen weiter, was ohne Zwischenfälle verlief. Eigentlich wollten Cerell und Shaleen die Reise ohne eine Sekunde zu schlafen durchhalten, damit sie das Zelt bewachen konnten,
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doch schließlich siegte ihr Menschenverstand, der ihnen sagte, dass es auf ihrer Reise noch genug schlaflose Nächte werden würden.
Dadurch, dass sie tagsüber schliefen und in der Nacht unterwegs waren, kam der Körper der Kinder bald völlig durcheinander. Sie hatten immer öfter mit Kreislaufproblemen, Kopfschmerzen und Ãœbelkeit zu kämpfen. Daher kann man sich sicher gut vorstellen, wie erleichtert die drei waren, als sie in der Ferne das Meeresrauschen hörten. „Bei Melero, wir haben es geschafft!“, rief Nilay aus, als das Meer in einer kräftigen Welle zu ihr schwappte. „Und das Meer ist wirklich ungefährlich?“, fragte Shaleen. Nilay nickte. Shaleen kniete sich hin und trank von dem Wasser – und verzog angewidert das Gesicht. „Bäh“, sagte sie. „Salzig“, fügte sie hinzu. Nilay lachte leise. „Habt ihr schon einmal eure Tränen geschmeckt?“, fragte sie. Shaleen nickte. „Meinst du wirklich, die Legende ist wahr und das hier sind die Tränen der Götter?“ „Sie werden es uns nie sagen“, meinte Nilay. „Ich hätte nie gedacht, dass das Meer so groß ich“, meinte Shaleen. „Genau genommen ist es ja nur eine sehr breite Wasserstraße zwischen Kaangra und Jeranja“, meinte Nilay. „Meint ihr, wenn der dicke Nebel nicht wäre, dass man bis ans andere Ufer sehen könnte?“, fragte Cerell. „Ich denke schon“, sagte Nilay. „Gut. Können wir?“, fragte Cerell,
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nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten. „Du Dummkopf“, sagte Nilay tadelnd. „Wie soll ich denn mit meinen Schwingen vom Boden aus starten?“, fragte die Kaangra. Cerell sah sie fragend an. „Ich habe nicht die Flügel eines Adlers. Ich muss mich von einer Anhöhe stürzen, damit der Wind mich tragen kann“, erklärte Nilay etwas ruhiger. „Achso. Das wusste ich ja nicht“, sagte Cerell.
Nilay nickte. „Hier wird es doch sicher eine Klippe geben“, meinte Nilay. „Oder du springst ins Wasser und versuchst, beim Sprung zu fliegen“, meinte Cerell. „Ja, vielleicht geht das. Doch wenn ich im Wasser lande, saugen sich meine Flügel voll Wasser und ich ertrinke, so wie es den Tauben in euren Brunnen ergeht“, zischte Nilay. Sie biss sich auf die Lippen und versuchte, das Bild der sterbenden Taube, die sie in der Stadt gesehen hatte, zu verdrängen. Wahrlich, Großmutter hatte recht. Die Jeranjas sind herzlose Holzklötze, dachte Nilay bitte. Allerdings rief sie sich wieder ins Gedächtnis, dass Vögel in der Kultur der Jeranjas keine Rolle spielten – die Jeranjas waren Geborene der Katzen, denen die Katzen heilig waren. Oder sein sollten. Mit schmalen Augen dachte Nilay an die abgemagerten, schwarzen, streunenden Katzen, die sie in den Gassen Jeranjas um Futter betteln sehen hatte. Nilay schüttelte still den Kopf. Wie konnten sich die Wüstenleute so dem WillenÂ
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des Melero entziehen?, fragte sie sich. Und ich dachte immer, unter dem Meer würde die Hölle warten. „Ja, in der Nähe gibt es eine Klippe“, riss Cerell sie plötzlich aus ihren Gedanken. „Wir sollten uns aber beeilen, damit du starten kannst, bevor die Sonne aufgeht“, sagte er. Nilay nickte. „Weshalb kennst du dich so gut aus?“, fragte Nilay. Cerell seufzte. Eine tiefe Trauer lag darin verborgen. „Mein Vater hat oft Ausflüge mit mir hier her gemacht“, sagte Cerell. „Er war schon immer fasziniert von dem, was hinter der bodenlosen Tiefe liegt…“, meinte er. Nilay bemerkte, dass sie soeben Salz in eine nur langsam heilende, seelische Wunde gelegt hatte und wendete beschämt den Blick ab. Diese Jeranjas waren anders. Nilay wünschte sich, zu erfahren, was sie so anders machte. Cerell und seine nur um Weniges jüngere Schwester schienen große Schmerzen und Qualen durchlitten zu haben. Aber warum? Warum waren sie so anders? Inzwischen hatten sie eine kleine, steile Klippe erreicht. Cerell stieg auf der Rückwand, die leicht zu begehen war, nach oben. „Ist das genug Klippe?“, fragte Cerell. Nilay nickte. „Ihr müsst mir jetzt wirklich vertrauen“, ermahnte Nilay sie. Das Schicksal Kaleshs liegt auf meinem Rücken und meinen Schwingen, ermahnte sie sich selbst. Cerell nickte. „Ich vertraue dir“, schwor er. Nilay sah Shaleen an. „Ich auch“, schloss sich die Jeranja an. „Willst du uns auf dem Rücken tragen?“, fragte Cerell.Â
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Ohne, dass Nilay Shaleens Bruder eine Antwort gab, sprang sie. Shaleen spürte einen kurzen, kräftigen Druck in ihrem Genick, der ihr auf schmerzlose Weise das Bewusstsein raubte. Nilay sah, wie das Wasser näher kam. Im letzten Augenblick fuhr ein kräftiger Wind unter Nilays Flügel. Er drückte sie nach oben. Nilay spürte das recht geringe Gewicht der beiden Kinder, die sie mit dem Beutegriff, wie ihn die Kaangra erlernt hatten, in ihren kräftigen Krallen hielt. Es war ein Ãœberbleibsel der Adler, doch wenn Nilay ehrlich war, hatten sie mehr mit einem Fabelwesen Ähnlichkeit als mit den Königen der Lüfte. Der Beutegriff erleichterte die Jagd, das war klar. Aber Nilay war sich sicher, dass die Reise mit den beiden leblosen Bündeln einfacher werden würde als wenn sie wach wären. Denn Nilay war sich sicher, dass die beiden weder die mindestens tausend Fuß Luft unter ihnen, noch das ständige Absinken und Aufsteigen der Kaangra vertragen würden. Der dichte Nebel ließ sich auch mit Nilays scharfen Augen kaum durchdringen. Nilay liebte jedoch die frische Luft und je weiter sie flog, desto kälter wurde es. Nilay liebte ihr Land und dessen Klima. Sie liebte ihre Stadt, die hohen Berge, das Gebirge. Das flache, eisige Wasser der Quelle im Gebirge. Die heißen Quellen. Sie liebte die oft tiefgefrorenen Früchte aus den Bergen. Es faszinierte sie, wie in den Schneewüsten Pflanzen überleben konnten und sie liebte es, denÂ
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Schneehasen beim Hoppeln zuzusehen. Sie sah es mit Freude, wie sich die kleinen Hasenkinder eng aneinanderkuschelten, um sich zu wärmen, wie die Schneeeulenkinder den Schnabel aufsperrten um noch mehr von dem sowieso schon kargen Futter zu erhaschen. Oft war die Kaangra schon mit Futter durch die Gegend geflogen, hatte die Hasen, die Vögel und die Hirsche gefüttert und die Tiere fingen an, ihr zu vertrauen. Als der Nebel sich lichtete, tauchte Nilay wieder aus ihren Gedanken wieder auf. Sie flog mit hoher Geschwindigkeit auf die Kante der Klippe zu und hielt sich mit ihren langen, kräftigen Fingernägeln fest. Kaangra, ich komme!
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Kapitel V
Shaleen erwartete eigentlich Kopfschmerzen und Ãœbelkeit, nachdem, was Nilay ihnen gerade erzählt hatte. „Du hättest uns wenigstens warnen können“, meinte Cerell. „Was? Dass ich euch gleich wie Beute abschleppen werde?“, fragte Nilay skeptisch. „Ich glaube, das hätte nicht zu eurer Reisebereitschaft beigetragen.“ „Na, eigentlich ist das jetzt egal. Aber trotzdem … das ist unheimlich“, meinte Shaleen. „Warum? Wir Kaangra haben nur eine natürliche Schwachstelle gefunden, mit der wir unsere Beute schmerzlos töten können“, sagte Nilay. „Ohne Magie“, fügte sie hinzu. Shaleen nickte. „Und jetzt? Können wir los?“, fragte Shaleen. Nilays gelbe Augen glitzerten frech. „Ich hoffe, ihr Jeranjas könnt klettern“, sagte sie und stürzte sich die Klippe hinunter, stieg wieder auf, flog eine Schleife und landete einige Schritte weiter auf einem Felsvorsprung, wo das Gebirge anfing. Shaleen seufzte und begann zusammen mit ihrem Bruder den Abstieg. Unterhalb der Klippe wurde es schlagartig kälter. Shaleen und Cerell begannen zu frieren. So kalt war es in der Wüste nicht einmal in der kältesten Nacht. Die Sonne schien hier wie von einem Schutzschild ferngehalten zu werden. Als sie den Felsvorsprung erreichten, waren ihre Nasen und Finger schon blau angelaufen. „Au weia“, meinte Nilay, als sie
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die beiden sah. „Bitte, können wir uns nicht ausruhen?“, fragte Shaleen bibbernd. Nilay wurde klar, dass die beiden Jeranjas genauso sehr litten wie sie es in der Wüste getan hatte - doch Cerell und Shaleen konnten diesem Klima nicht aus dem Weg gehen. Nilay nickte und dieses Mal war sie es, die das Schutzzelt für ihre Freunde aufbaute. Sie mussten sich jeweils auf die Gefühle, Gewohnheiten und Besonderheiten des anderen einstellen. Aber dennoch sind wir alle Menschen, dachte Nilay. Nilay überlegte eine Weile, wo sie eine Wärmequelle herbekommen würde. Ob ich in ihrem Volk eine Hexe bin oder nicht – wen interessiert es? Ich kann fliegen, ich kann zaubern, ich könnte mich verteidigen, dachte sie, als sie begann, die Eulen zu rufen.
Felisk zog den Kopf ein, als eine kalte Brise über sie hinwegfegte. Ihr weiches Gefieder war mit Eiskristallen bedeckt. Das leise Wimmern ihrer Gefährten und deren Kücken drang an ihre feinen Ohren. Die traurige Erinnerung an ihre eigenen Kücken, die diesen harten Winter nicht überlebt hatten, brachte Felisk fast um den Verstand. Felisk hatte schon viele Kücken gehabt. Die Schneeeule war erfahren und seit ein oder zwei, oder vielleicht auch drei Wintern erwachsen. Felisk sah verwundert auf, als ein feiner Laut an ihre Ohren drang. Es war die Sprache der Zauberer, der Menschen. Seit wann rufen die Menschen uns? Das letzte Mal war vor ein paar hundert Jahren!, dachte Felisk,
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doch da sie nichts Wichtigeres zu tun hatte, schüttelte sie ihr Gefieder auf und schwang sich lautlos in die eisige Luft. Der magische Laut hatte mehrere Berge und Gipfel überwunden, es war nur noch die Magie der Stimme in dem Ruf gewesen. Felisk überflog einige Bergkämme, bis sie das zierliche, magische Wesen, das die Laute aussendete, sah. Sie tanzte den Tanz der Vögel, so, wie es Tradition beim Adlervolk war. Es war eine Kaangra. Nun war ihre Stimme noch deutlicher und Felisk war sich sicher, dass diese Kaangra ihr nichts Böses wollte.
Es war wie Magie. Mit einem ungläubischen Lächeln auf den Lippen beobachtete Shaleen, wie Nilay den glitzernden Schnee aufwirbelte, einige Schritte lief, absprang, ein Stück schwebte um sanft wieder aufsetzte. Shaleen hatte schon viele schöne Tänze gesehen, ja, bei den meisten Tänzen machte sie ja sogar mit, doch das hier war von einer unbeschwerten Leichtigkeit, wie Shaleen sie noch nie gesehen hatte. Die Tänzerinnen aus Jeranja konnte ja gar nicht frei tanzen. Wie auch? Sie waren Gefangene und Sklavinnen. Fasziniert lauschte Shaleen dem fremden Gesang der Kaangra, der etwas Magisches mit sich brachte. Shaleen kannte den Sinn des Ganzen nicht, bis eine Eule auf ihrem Arm landete. In ihrem Schnabel hielt sie einen trockenen Zweig! Eine weitere Eule landete vor Nilay. Auch sie trug einen Zweig in ihrem Schnabel. Shaleen musste mit
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düsteren Gedanken an die Diener des Königs in Jeranja denken. Doch diese Eulen schienen tatsächlich freiwillig zu helfen. „Danke, ihr Süßen“, sagte Nilay, als sie die Zweige in ihre Händen nahm. Aber das reicht doch niemals, dachte Shaleen mutlos. Als hätte Nilay ihre Gedanken gelesen, lächelte sie, legte die Zweige in ihre linke Hand und begann, ihre rechte Hand über die Zweige zu bewegen. Ein grünliches Licht begann zu sprießen und mit ihm die Zweige – als würden sie wieder Wasser und Sonne bekommen, schossen junge Sprossen hervor und eine warme Brise wehte über Shaleen hinweg. Der Schnee begann in einem gewissen Umkreis zu schmelzen und die Zweige begannen zu wachsen. Schon bald hatten sich lange Ranken gebildet, bis sie sich in die aufgetaute Erde gruben, wo sie anscheinend Wurzeln schlugen und sich aus Nilays Hand wanden, um senkrecht in die Höhe zu wachsen. Das Leuchten in Nilays Hand schwand und Shaleen kam es vor, als würde eine schützende Kugel zusammenbrechen und Eiswasser über ihrem Kopf zusammenschlagen. Der eisige Wind durchfuhr Shaleen und sie betete, dass sie den nächsten Tag noch erleben würde. Sie sah, wie Nilay ein paar Worte sagte, bevor sie einige der Zweige abbrach und mit einer schnellen Geste entzündete. „Los, ins Zelt mit euch“, sagte Nilay zu den beiden Jeranjas. Mit Nilays Hilfe schafften sie es, das Feuer auf seinem Posten zu behalten. Die Flammen nährten
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sich an den Zweigen, die auf magische Weise jedoch nicht verbrannten. Shaleen sah Nilay lächelnd dabei zu, wie sie auf das Feuer aufpasste. Und ihr wurde schlecht, als sie an Nilays Worte dachte, dass die Jeranjas einst auch hatten zaubern können. Nicht wegen der Hexen, die ihr Volk ebenfalls einmal gewesen waren, sondern wegen der Tatsache, dass auch sie und Cerell noch magische Kräfte in sich tragen mussten.
„Ich gehe schnell nachsehen, wie es mit dem Schneetreiben aussieht. Vielleicht können wir schon weitergehen“, sagte Nilay nach einigen Stunden und schlüpfte durch den schmalen Spalt in der Zeltwand, wo sie einen überraschten Laut von sich gab. „Na hoppla, was machst du denn hier? Habe ich euch nicht die Erlaubnis gegeben, nach Hause zu fliegen?“, fragte sie. Shaleen sah Nilay überrascht an, als die Kaangra mit einer Eule auf der Hand in das Zelt zurückkehrte. „Sie wollte nicht wegfliegen“, erklärte Nilay verblüfft. „Warum sollte ich das?“, gurrte die Eule leise. Nilay sah an Shaleens und Cerells unveränderter Miene, dass sie die Schneeeule nicht verstanden. „Hast du denn keine Jungen? Hast du keine Gefährten, denen du Gesellschaft leisten kannst?“, fragte Nilay.
Felisk plusterte sich unglücklich auf. „Schickt mich nicht fort, Herrin“, piepste sie unbeholfen. „Nein, das würde ich
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nie tun - aber warum um alles in der Welt fliegst du nicht zurück?“, fragte die junge Kaangra. „Wohin denn zurück? In meine Kolonie?“, fragte Felisk. „Natürlich! Sie brauchen dich sicher, oder? Und um diese Zeit brüten doch die Eulen“, sagte das junge Mädchen. Felisk antwortete nicht, zu schwer fiel es ihr. „Ist ja egal. Wenn du hier bleiben willst, kannst du das gerne tun“, sagte die Kaangra und lächelte.
Shaleen kraulte die weiße Eule sanft unter dem Flügel, was ihr sichtlich zu gefallen schien. Laut Nilay hieß die Eule Felisk und wollte nicht wieder nach Hause zurückkehren. Shaleen versuchte unterdessen, das Geschehene zu verstehen. Ihr Leben war auf den Kopf gestellt worden und sie hatte ihre Heimat verlassen. Wie sollte sich bloß in dieser eisigen Umgebung überleben können? Shaleen dachte an die magischen Kräfte von Nilay und der Schmerz drohte sie zu überwältigen. Nilay schlief neben ihr, ihre Hände schützend um das Feuer gelegt, um es am Ausbrechen zu hindern. Shaleen seufzte. Sie dachte an jene schreckliche Nacht, während sie die Kaangra betrachtete. Wenn Shaleen doch bloß mit irgend jemandem reden könnte…
Nilay blinzelte verwirrt. Wo war sie? Das hier hatte sie schon einmal gesehen. Ja, natürlich! Das war der Palast von Jeranja! Aber was tat sie hier? Erst jetzt bemerkte sie, dass
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sie keinen Körper mehr besaß und ihr wurde bewusst, dass sie eine Vision hatte. So etwas hatte sie öfters und seit ihrer ersten Vision wusste sie meistens damit umzugehen. Sie hoffte, dass sie etwas Sinnvolles erfahren würde. Vielleicht würde sie endlich erfahren, welche beiden Beranjaner ausgewählt waren, zusammen mit ihr Kalesh zu retten. Wahrsager waren in ihrem Volk geachtet und deshalb hatte ihre Großmutter, die ebenfalls eine Wahrsagerin war, ihr alle Tricks beim Hellsehen beigebracht. Nilay konzentrierte sich auf das, was sie sah. Sie wurde von der magischen Kraft, die sie auf ihren Visionen immer leitete, in den Palast gezogen und fand sich schließlich an einem ihr bekannten Ort wieder. Der Thronsaal. Dort saß der König und daneben die Königin und die Prinzessin. Alle ein paar Jahre jünger. War sie zur Abwechslung in der Vergangenheit gelandet? Auch das war nicht das erste Mal für Nilay, allerdings auch nicht besonders gewöhnlich. Erst jetzt fiel ihr Blick auf eine junge Frau, die von Wachen gezwungen wurde, auf den Teppich zu knien und den Blick zu senken. Neben ihr kniete ein junger Mann, der sich in derselben Situation befand wie die Frau. Nilay war für die Anwesenden unsichtbar, das wusste sie. Außerdem konnte Nilay nicht hören, was die Menschen in ihrer Vision sagten. Aber sie sah, dass der König etwas sagte. Die beiden Menschen sahen auf und Nilay riss die Augen auf. Das waren - das mussten Cerell und Shaleen
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sein! Nun älter, aber eindeutig die beiden Jeranjas. War sie nun in der Vergangenheit oder in der Zukunft gelandet? Nilay verstand gar nichts mehr. Zeitgleich sagten Cerell und Shaleen - wenn es die beiden waren - etwas und ein schriller Schrei zerriss Nilays Vision. Eine Sekunde drohte Nilay das Bild zu entgleiten, doch sie hielt sich krampfhaft daran fest. Was war geschehen? Oder was würde geschehen? Endlich wurde ihre Vision wieder klar und ihr Blick fiel auf zwei kleine Kinder, die von den Wachen festgehalten wurden. Nilay schüttelte verwirrt den Kopf. Auch diese beiden Kinder sahen Cerell und Shaleen sehr ähnlich. Noch ähnlicher als die beiden Erwachsenen. Das mussten Cerell und Shaleen sein! Vor einigen Jahren vielleicht. Und die beiden anderen - bei den Göttern, es mussten Cerells und Shaleens Eltern sein! Aber worum ging es hierbei? Und wieso hatte sie Shaleens Schrei gehört? Das kleine Mädchen mit den langen, schwarzen Locken hatte ein tränenüberströmtes Gesicht und der kleine Junge schien zu schreien. Aber was ging hier vor sich? In diesem Augenblick wurde Nilay in eine Strömung der Zeit gerissen und fand sich an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit wieder. Nilay schluckte. Es war der Platz, an dem sie beinahe verbrannt worden wäre. Und an den Pfahl - bei Ajels Zaubern, das waren Shaleens und Cerells Eltern! Sie waren verurteilt worden, das war Nilay jetzt klar. Sie sah die
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beiden Kinder, die weinten. Das ganze Volk war versammelt. Nilay wurde schlecht vor Mitleid. Schon jetzt war ihr klar, dass der König die beiden hübschen Jeranjas hatte ermorden lassen. Shaleen und Cerell waren Waisen! Das Stroh wurde in Brand gesetzt und sie sah, wie die Kleider der Jeranjas Feuer fing. Der unendliche Schmerz im Gesicht der beiden brannte sich tief in Nilays Seele. Nilay wollte die Vision schon loslassen, damit sie sich all das nicht ansehen musste, als die letzte Bewegung der beiden Jeranjas ihre Aufmerksamkeit erregte. Die beiden Jeranjas nahmen ihre letzte Lebensenergie zusammen und warfen den beiden Kindern etwas zu - Nilay konnte es nicht genau erkennen, doch sie sah, dass es zwei saphirblaue Ringe waren. Die beiden Kinder fingen sie und es strahlte eine unglaubliche Magie auf, doch Nilay wusste, dass Cerell und Shaleen sie nicht sehen konnten, Nilay jedoch war es möglich, da sie sich in einer Vision befand. Die beiden Schreie der beiden Kinder waren so voller Trauer, dass Nilay die Vision nicht länger halten konnte …
Nilay wachte schweißgebadet auf und fand sich Auge in Auge mit Shaleen wieder, die ebenfalls zitterte. Shaleen richtete sich schnell auf. „Entschuldige, ich habe dich wohl geweckt“, murmelte sie. „Nein, nicht wirklich - hast du so geschrien?“, fragte Nilay. Shaleen nickte und wurde rot. „Na, das erklärt alles…“, murmelte Nilay.  Hatte sie also
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Shaleens Schrei gehört, zwei Mal. Sie sah auf. „Hast du auch schlecht geträumt?“, fragte sie. Shaleen nickte und legte sich wieder neben Nilay. „Von was?“, wollte Nilay wissen. Shaleen drehte sich auf ihrem Lager um und Nilay befürchtete einen Moment, dass sie Shaleen verletzt oder beleidigt hatte, warum auch immer, doch da begann das Mädchen schon, mit zittriger Stimme zu reden. „Von dem Tag, an dem meine Eltern ums Leben kamen“, sagte sie leise und Nilay hörte ungeweinte Tränen in ihrer Stimme. Nilay schluckte. „War … war es der König?“, fragte Nilay leise. Shaleen drehte sich ruckartig wieder um. In ihren blauen Katzenaugen funkelten Tränen. „Woher weißt du das?“, fragte sie. „Ich bin eine Seherin, das weißt du doch. Und manchmal sehe ich auch in die Vergangenheit …“, meinte sie. Shaleens Blick verlor sich im Nichts. Nilay sah die unheimliche Qual, die Shaleen ausstehen musste. „Shaleen – man ist nicht schwach, wenn man weint. Was du erlebt hast, kannst du nicht übergehen“, begann Nilay, doch es genügte. In Shaleen schien eine Barriere des Stolzes zu brechen und aller Kummer und alle Trauer brachen aus ihr hervor. „Jetzt erzähl mal. Lass dir Zeit“, sagte Nilay, denn sie wusste, dass Shaleen um alles in der Welt nur reden wollte. „Wo soll ich anfangen?“, schniefte Shaleen. „Warum wurden sie verurteilt?“, fragte Nilay. „Sie waren … Hexen!“, stieß Shaleen hervor. Nilay sah Shaleen mit leichtem Vorwurf an.
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„Es war ähnlich wie bei dir … sie haben ein Feuer entzündet - einfach so!“, rief Shaleen. „Und wer hat sie beim König gemeldet?“, fragte Nilay. „Keine Ahnung - eines Tages wurden sie einfach verurteilt. Cerell und ich haben es zwar kaum fassen können, aber … wir haben es hingenommen.“ Shaleen stieß ein hasserfülltes Lachen aus. „Was hätten wir auch tun sollen? Wir waren zehn Jahre alt und auf den Schutz unserer Eltern angewiesen. Und noch immer weiß ich, dass meine Eltern niemandem etwas angetan hätten“, sagte sie. Nilay dachte nach. „Wo und zu welchem Zweck haben sie das Feuer entzündet?“, fragte sie schließlich. Nilay sah die Sehnsucht in Shaleens Augen, als die Jeranja weitersprach. „Bei uns gibt es häufig Erdbeben, und eines Tages hat ein solches unser Haus zerstört und uns verschüttet“, erzählte sie. „Mein Vater hat einen Fluchttunnel nach draußen gegraben – der Tunnel, durch den Cerell dich gerettet hat“, fügte sie mit einem Grinsen hinzu. „Doch es war zu dunkel und da hat Mutter plötzlich eine Fackel entzündet - so wie du das machst“, erklärte sie mit traurigem Gesicht. „Aber wie konnte das der König erfahren? War noch jemand im Haus, als es passierte?“, fragte Nilay. Shaleen machte ein verdutztes Gesicht und plötzlich wurde ihre Miene steinhart. „Arila! Diese Schlange!“, rief Shaleen plötzlich und sprang auf. „Wer ist oder war Arila?“, fragte Nilay erstaunt. Shaleen setzte sich
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mit finsterem Gesicht wieder. „Arila war unsere Haushälterin. Sie muss uns verraten haben! Und ich… ich habe ihr vertraut!“ Shaleen lief rot an vor Zorn. „Shaleen, ich kann es gut verstehen, dass du wütend bist, aber das bringt uns jetzt nichts“, warf Nilay ein. „Ja, wahrlich. Meine Eltern sind tot und werden niemals wiederkehren können“, sagte Shaleen. Nilay nickte nachdenklich. „Na gut. Schlaf jetzt, wenn du schlafen kannst. Und vergiss nicht, ich bin immer für dich da“, sagte Nilay. Shaleen nickte und lächelte gequält.
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Kapitel VI
Am nächsten Tag versorgte Nilay Cerell und Shaleen mit Fell, das sie von einem Reh, das die eisige Nacht nicht überstanden hatte, abgezogen hatte. Sie hatte es am Feuer aufgetaut und mit schnellen Fingern zu Mänteln verarbeitet. Dann hatte sie das Zelt abgebaut und zeigte das Gebirge hinauf. „Meint ihr, ihr schafft das?“, fragte Nilay. Shaleen wiegte den Kopf. „Ich denke schon. Katzen sind sehr strapazierfähig und dank der Mäntel sind wir nun auch gegen die Kälte etwas geschützt“, sagte sie. „Warum trägst du uns nicht wieder?“, fragte Cerell. „Das ist auf Dauer etwas gesundheitsschädlich. Außerdem ist die Gefahr, gegen einen Felsen zu fliegen, mit einer Last höher“, erklärte Nilay geduldig. „Achso“, machte Cerell. Nilay lächelte. Sie sah ihm an, dass seine Abneigung gegen sie, die Hexe, langsam abnahm. Hatte Shaleen ihm von der letzten Nacht erzählt? „Na gut, dann flieg schon, wir kommen nach“, sagte Cerell. Nilay nickte und stürzte sich von der Anhöhe, die sie sich zum Starten ausgesucht hatte. Sie flog eine Schleife, bis sie dann auf einem Felsen hoch im Gebirge niederließ. Nilay setzte sich hin und betete, dass den beiden Jeranjas nichts zustoßen würde.
Als Shaleen und Cerell bei Nilay ankamen, waren sie reichlich außer Puste, doch sehr glücklich. „Ich gratuliere
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euch!“, rief Nilay ihnen entgegen. „Ihr Jeranjas könnt ja wirklich schnell klettern“, fügte sie mit Anerkennung hinzu. Sie zeigte einen kleinen Hügel hinauf. „Ihr habt es geschafft! Das da ist mein zu Hause!“ Cerell und Shaleen sahen nach oben und stießen einen erstaunten Laut aus. „Das ist ja wirklich märchenhaft“, murmelte Shaleen. „Ja, aber Jeranja ist auch sehr schön“, sagte Nilay. Shaleen sah sie an und ihr Gesicht wurde traurig, als hätte sie Nilays Gedanken gelesen. „Ja, wenn man von dem vielen Mord und den Qualen dort absieht“, murmelte Shaleen. „Kommt, ich will euch meinen Bruder vorstellen“, sagte Nilay schnell. Shaleen und Cerell sahen sich kurz an und sahen dann Nilay zweifelnd an. Nilay räusperte sich. „Ähm…Yairo ist der zweite Kaangra in meiner Offenbarung“, sagte Nilay leise. „Das heißt, er wird uns Fremde akzeptieren?“, fragte Shaleen. Nilay nickte. „Wartet hier, ich hole ihn“, sagte sie und flog davon. Sie schraubte sich senkrecht in den Himmel, bis sie in den Wolken verschwand.
Nach einigen Minuten kam sie zusammen mit einem anderen Kaangra wieder. Die beiden Kaangra landeten sanft vor den Jeranjas. „So…Yairo, das sind meine neuen Freunde, Cerell und Shaleen“, sagte Nilay. „Cerell, Shaleen, das ist mein Bruder Yairo“, fügte sie hinzu. „Sind das die beiden Jeranjas aus deiner Vision?“, fragte Yairo seine Schwester. „Du kannst sie auch direkt anreden, die beiden
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beißen nicht“, kicherte Nilay. „Und ja, das sind sie“, fügte sie grinsend hinzu. „Wahrlich, die Jeranjas haben tatsächlich Katzenaugen“, meinte Yairo erstaunt. Shaleen lächelte den jungen Kaangra an. Er schien etwas älter als Nilay, Cerell und sie zu sein. Man sah deutlich, dass die beiden Kaangras Geschwister waren. Beide hatten weißblondes Haar und gelbe Adleraugen. „Freut mich, euch kennenzulernen“, sagte Yairo und lächelte. „Uns auch“, sagte Shaleen. Nilay räusperte sich. „Ihr alle wisst, warum ihr hier seid?“, fragte sie. Die drei nickten. „Sagtest du nicht, dass wir auch zwei Beranjaner finden müssen?“, fragte Cerell. Nilay nickte. „Auch das Volk der Beranjaner wird nicht nur aus einigen Dörfern bestehen – weißt du, wie die beiden aussehen?“, fragte Cerell. „Nein, aber ich fühle, dass ich es bald erfahren werde“, sagte Nilay. „Mit anderen Worten, wir müssen gleich abreisen?“, fragte Yairo. Nilay nickte. „Je schneller wir sechs uns zusammengefunden haben, desto besser ist es“, sagte sie fest. Yairo nickte und sah die beiden Jeranjas mit einem Lächeln an. „Na dann, los geht’s!“
Nachdem Nilay und Yairo Cerell und Shaleen einen geheimen Gang gezeigt hatten, der unter der Kaangra-Stadt hindurch führte, und die beiden Jeranjas auf der anderen Seite des Gebirges wieder das Tageslicht erblickten, standen die vier Kinder an der Klippe, unter der das Meer zwischen Beranjan und Kaangra lag. „Nicht mehr lange und wir
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werden sie gefunden haben“, murmelte Nilay, mehr zu sich selbst als zu den Anderen. „Wie kommen wir jetzt ans andere Ufer?“, fragte Shaleen. „Na wie wohl? Wir tragen euch“, sagte Nilay. Cerell schluckte. „Hast du Angst davor?“, fragte Nilay. Cerell schüttelte entschieden den Kopf. Nilay warf einen leichten Seitenblick auf Yairo und sah, dass Yairo ebenfalls wusste, dass Cerell sich vor dem Flug fürchtete. „Dieses Mal wird es einfacher, da wir beide jeweils nur einen von euch zu tragen haben. Deshalb können wir das ganz normal durchziehen“, sagte Nilay. „Das heißt wir imitieren jetzt nicht mehr eure Beute?“, fragte Shaleen skeptisch. Nilay nickte. „Wir haben vorgesorgt“, sagte Yairo und zog zwei dünne, aber anscheinend kräftige Seile hervor. „Wir binden euch an uns und dann tragen wir euch rüber. Ich hoffe, dass die Reise ohne Zwischenfälle verläuft“, murmelte Nilay. „Das wird sie bestimmt“, sagte Shaleen zuversichtlich. „Hoffentlich“, sagte Nilay. „Nun gut“, sagte Nilay und band sich eines der beiden Seile um den Bauch. „Abflug“, sagte Yairo fröhlich.
Felisk betrachtete die kleine Menschengruppe mit finsterem Blick. Das Kaangramädchen hatte sie gebeten, zurück zu fliegen, zu ihrer Gruppe. Was hätte sie mir alles ersparen können, dachte Felisk traurig. Widerstrebend war die Schneeeule dem Wunsch der Kaangra nachgekommen - und am Nistplatz hatte sich ihr ein grausames Bild dargeboten:
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In den letzten Tagen, die sie bei den Menschen verbracht hatte, hatte sie im Schatten des magischen Feuers nicht gemerkt, wie kalt es geworden war. Alle Eulen waren erfroren, ihre Eier und ihre Küken. Felisk hatte ihnen ein Massengrab in den Schnee gescharrt, damit die Körper ihrer Gefährten nicht das Opfer hungriger Füchse werden würden. Dann hatte sich Felisk schweren Herzens wieder in die Luft geschwungen und hatte die Menschen wieder aufgesucht. Nun sah sie, wie die beiden Kaangra abhoben und die beiden anderen Menschen - waren es vielleicht Beranjaner? - hinter sich herzogen. Felisk überlegte, ob die Kaangra sauer sein würde, wenn sie ihnen folgte. Doch schließlich schwang sie sich lautlos in die eisige Luft und folgte den Menschen, die gerade die Überreise begonnen hatten.
Als Nilay und Yairo landeten, waren Cerell und Shaleen fast bis auf die Knochen durchgefroren, doch die warme Brise von Beranjan ließ sie alles schnell wieder vergessen. „Ich fass es nicht!“, rief Cerell aus. „Unglaublich!“, rief Yairo. „So etwas habe ich noch nie gesehen“, sagte Shaleen. „Wahnsinn“, meinte Nilay. Was sie sahen? Bäume. In der kargen Wüste von Jeranja gab es nur Palmen und die Bäume in Kaangra waren kahl und tot. „Ich wusste nie, dass richtige, echte Bäume so schön sein könnten“, sagte Shaleen. Cerell sah sie skeptisch an. „Hast du schon einmal falsche Bäume gesehen?“, fragte er. „Nur die Palmen der
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Oasen unseres Landes“, sagte Shaleen. „Ich war mir nie bewusst, wie tot unser wunderschönes Land doch ist“, meinte Nilay. Yairo nickte. „Los, wir schlagen hier ein Lager auf“, sagte er und begann, das kleine Zelt aufzustellen. Nilay machte ein Feuer, dieses Mal außerhalb des Zeltes, denn das Klima war hier so weit gemäßigt, dass die Flammen nicht sofort den Geist aufgeben würden. „Nilay!“, rief Shaleen plötzlich.
Nilay lief zu Shaleen. „Ach Felisk“, sagte Nilay zu der Eule, die wie ein Häufchen Elend auf Shaleens Arm saß. Sie war zu Tode erschöpft von ihrer Reise und Nilay spürte den Schmerz des gefiederten Geschöpfes. „Es tut mir so leid“, sagte die Kaangra, denn sie befürchtete, zu wissen, was geschehen war. „Bitte Herrin, bitte lasst mich hier bleiben!“, gurrte der schneeweiße Vogel. „Ja, natürlich darfst du bleiben. Und es tut mir so leid, ich konnte doch nicht ahnen, was passiert ist. Ich wollte nur das Richtige tun“, sagte Nilay traurig. „Herrin, ich werde mich so gut wie unsichtbar machen und dir nicht zur Last fallen“, piepste Felisk. Nilay lachte. „Felisk, ich bitte dich. Nenn mich Nilay.“
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Kapitel VII
Nilay blinzelte. Sie sah vor sich Jeranja und schauderte. Sie sah, wie ein gewaltiges Heer auf die Stadt zustürmte. Und nicht nur am Boden, auch in der Luft. Sie sah die Zerstörung Jeranjas durch ihr eigenes Volk. Diese Vision hatte Nilay schon einmal gehabt. Das war, bevor sie aufgebrochen war, um Cerell und Shaleen zu suchen und zu finden. Wieso hatte sie die selbe Vision noch einmal? Würde sie nun die beiden Beranjaner gezeigt bekommen, so wie beim ersten Mal Shaleen und Cerell? Da fiel Nilay ein winziges Detail auf, eines, das ihr beim ersten Mal so unwichtig erschienen war, dass sie es nicht bemerkt hatte. Eine zierliche Frau stand auf einer benachbarten Sanddüne und schien das Heer anzufeuern und zu treiben. Als sich ihr Blick langsam auf Nilay richtete, bekam die Kaangra einen Schreck. War sie sichtbar? Das konnte nicht sein! Doch da wurde Nilay das Bild der Vision plötzlich fortgerissen, doch Nilay kam das Gesicht der Frau bekannt vor… Plötzlich sah Nilay zwei sonnengebräunte Gesichter, ein Junge und ein Mädchen. Das waren die Beranjaner! Das Mädchen hatte fast bodenlanges, rotes Haar, der Junge braunes kurzes. Die Augen der beiden waren eindeutig die von Hunden. Und dann passierte etwas Beängstigendes, was Nilay jedoch nicht das erste Mal bemerkte. Plötzlich pflanzten sich die Namen der beiden
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Beranjaner in ihren Kopf, obwohl Nilay sie nie gesehen hatte. Nilay wurde bewusst, dass das Mädchen Mara hieß. Der Junge hieß Nej. Auf diese Weise hatte Nilay auch erfahren, dass es Cerell und Shaleen gab und wie sie hießen. Nilay wurde zur nächsten Vision gerissen. Was sie sah, war ein Wald, der tief, dunkel und finster vor ihr lag. Sie wurde hineingesogen und fand sich im nächsten Augenblick vor einem Knochen wieder. War es überhaupt ein Knochen? Nein. Es war Holz, jedoch weiß und von einer Form, wodurch es mit einem Knochen leicht zu verwechseln war. Feine, magische Zeichen waren eingeritzt. Sie sah sich selbst, Shaleen, Cerell, ihren Bruder und die beiden Beranjaner, wie sie wild durcheinander sprachen. Dann berührte sie, Nilay, das Holz und hob es vorsichtig hoch. Konnte es sich hierbei um den Knochen von Melero handeln? Nilay wurde wieder in einen Strom der Zeit gerissen und fand sich vor einer Spinnenwebe wieder – einer goldenen Spinnenwebe. War es das Haar der Jerasja? Kunstvoll schlang es sich die felsigen Wände hinauf. Nilay wollte sich gerade umsehen, um festzustellen, ob sie und ihre Freunde ebenfalls da sein würden, doch da wurde sie schon wieder fortgezogen. Sofort war ihr klar, was sie nun sah: Das Auge des Ajels lag vor ihr und glitzerte. Es war ein kleiner Kristall der zart blau strahlte. Nilay betrachtete ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen. Sie kannte die
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Legenden und wusste, dass aus dem Erbe der Götter der „Stab der Götter“ zusammengesetzt werden musste und dass das Auge des Ajels einen Großteil davon bildete – das Herzstück des Stabes sozusagen. Doch von der magischen Kraft, die das Auge angeblich haben sollte, sah Nilay nichts. Lag es daran, dass es nur eine Vision war? Aber Nilay hatte doch auch die magischen Ringe von Cerell und Shaleen und deren Magie gesehen … Man sollte angeblich Bilder aus der Zukunft und der Vergangenheit in dem Kristall sehen – doch er schimmerte nur blau. Nilay wollte sich umsehen, ob es alle bis hierher schaffen würden, da zerriss auf einmal Shaleens erschrockener Schrei ihre Vision und Nilay wachte auf. Nilay schreckte hoch und sah sofort, was passiert war. Shaleen hockte vor dem Zelteingang und ihr gegenüber ein anderes Mädchen, das nicht weniger erschrocken war als Shaleen. „Mara!“, rief Nilay verblüfft aus. Wäre der Name nicht so kurz gewesen, hätte Nilays Stimme mitten im Wort versagt. Dass Nilay den Namen des Mädchens kannte beruhigte die Beranjanerin nicht gerade. Sie blinzelte verwirrt. „Woher kennst du meinen Namen?“, fragte sie. „Ich bin eine Seherin – ich habe es auch gerade erst erfahren“, sagte Nilay. Sie hoffte, dass wenigstens ihre zittrige Stimme dem Mädchen sagen würde, dass sie ihr nichts Böses wollten. „Wieso um alles in der Welt siehst du ausgerechnet mich? Ich kenne unsere Seher und du bist eine
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Fremde“, sagte Mara. „Ich bin eine Kaangra – Mara, wie soll ich dir das alles erklären?“, fragte Nilay hilflos. „Sag es einfach, irgendwie werde ich es schon verstehen“, sagte Mara zuversichtlich. „Kennst du die Sage vom Erbe der Götter?“, fragte Nilay. Mara nickte. „Du weißt auch, dass sie zum Stab der Götter zusammengefügt werden müssen?“ Mara nickte wieder. „Und nur mit diesem Stab können wir eine Katastrophe verhindern“, schloss Nilay. „Wir?“, fragte Mara ungläubig. „Ja, wir. Wir sechs sind auserwählt, Kalesh zu bewahren und einer von uns, den Stab zu beherrschen“, sagte Nilay. Erst jetzt fiel Maras Blick auf die beiden Jungen, die sich im Hintergrund gehalten hatten. „Aber wir sind nur zu sechst“, stellte Mara fest. „Ein zweiter Beranjaner fehlt noch – kennst du einen Jungen namens Nej?“, fragte die Kaangra. „Ja, mein Bruder!“, rief Mara. Nilay wechselte einen kurzen Blick mit den anderen. „Ich bin Nilay, das ist meine Freundin Shaleen, das ihr Bruder Cerell und das da ist mein Bruder Yairo“, sagte sie schließlich. Mara nickte. „Warum ich?“, fragte sie. Nilay grinste gequält. „Das fragen sich hier alle!“
Nej schüttelte entschieden den Kopf. „Ich werde nicht mitkommen“, sagte der junge Beranjaner. „Aber Nej, wenn es stimmt, was die Fremden sagen, dann hängt an uns das Schicksal Kaleshs!“, sagte Mara. „Ja, wenn“, sagte Nej. „Wir können dich nicht zwingen, aber wenn du mitkommen
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würdest, wäre das Kalesh gegenüber sehr entgegenkommend“, meinte Yairo, der sich, genauso wie die anderen „Fremden“ im Hintergrund hielt. Er sah zu Nilay, die an einem Felsen lehnte und sehr abwesend war. „Wenn du nicht mit uns kommen willst, werden die Städte von Kaangra und Jeranja zerstört werden“, murmelte sie. „Das hat dich natürlich nichts anzugehen“, fügte sie leise hinzu. Ihre Augen bohrten sich ins bloße Nichts. Nej sah Yairo an. „Ist sie immer so? Sie macht mir Angst“, sagte er. Yairo lachte. „Seit sie gehen kann“, sagte er. „Sie kann in die Zukunft sehen und manchmal in die Vergangenheit“, erklärte Yairo. „Nilay?“, fragte Nej. „Was siehst du jetzt?“ „Nur die drei Artefakte können die Kaangra, von was auch immer sie angetrieben werden, aufhalten. Ich sehe, dass Kalesh von einer bösen Macht beherrscht werden und in Schutt und Asche liegen wird“, sagte sie leise und unheimlich. Yairo musste sich auf die Lippe beißen, um nicht zu grinsen, denn er sah, wie Nej eine Gänsehaut bekam. In diesem Augenblick klarte sich Nilays Blick und sie sah Nej skeptisch an. „Aber ehrlich gesagt brauche ich dazu nicht einmal meine hellseherischen Fähigkeiten, um mir das ausmalen zu können“, sagte sie fest. Nej sah kurz zu der schwarzhaarigen Jeranja, die ihn flehend anblickte, ließ seinen Blick auf Yairo fallen, der ihm aufmunternd zulächelte und sah schließlich zu seiner Schwester, die ihn
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wartend und ungeduldig ansah. „Na gut“, sagte er. „Ich komme mit.“
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Kapitel VIII
Sie übernachteten im Zelt und am nächsten Morgen lag dicker Nebel über den Wiesen. Als die Sonne sich dann langsam über die Berge traute, leuchtete der Nebel golden und rosa. „Wundervoll“, meinte Nilay. „Ja, nicht wahr?“, lächelte Mara. „Das wäre doch…“, begann Nej, doch er brach ab, als er bemerkte, wie sich die Blicke der „Fremden“ auf ihn richteten. „Der perfekte Augenblick zum Tanzen“, lächelte Mara und kroch aus dem Zelt. „Wie meint ihr das?“, fragte Cerell. „Tanzen!“, sagte Mara. „Einfach froh sein, kennt ihr das nicht?“ Shaleen und Cerell blinzelten sich kurz an und schüttelten dann entschieden den Kopf. „Es wird Zeit, dass ihr das lernt“, sagte Mara. Nej lächelte und nahm ein Tamburin hervor. Cerell und Shaleen sahen sich kurz an. Dann erklang der feine Laut der Schellen und Glöckchen am Tamburin und der Trommellaut weitete sich in den Wiesen aus. Mara begann, sich zu drehen und zu tanzen und Shaleen lächelte. Es war so viel Freiheit und Freude dabei…
Nilay sprang auf und begann, zu tanzen wie es bei den Kaangra üblich war. Sie tänzelte leichtfüßig über die Erde, sprang ab, flog ein Stück und landete sanft wieder. Dazu sangen die beiden Mädchen zum Takt des Tamburins. Plötzlich nahm Yairo eine kleine Harfe hervor und begann, sanft auf den Saiten zu spielen. Yairo und Nej sahen sich an
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und grinsten, während sie den beiden Mädchen zusahen und ihre Instrumente führten. Nej war erstaunt, wie die Kaangra tanzen konnte.
Bis jetzt hätte er schwören können, dass seine Schwester am besten tanzen konnte. „Komm, Shaleen! Tanz mit uns!“, rief Nilay der Jeranja zu. Shaleen sah zweifelnd zu Cerell. „Los, Shaleen, du bist die beste Tänzerin Jeranjas“, sagte Cerell, als er eine kleine Knochenflöte aus seiner Ledertasche nahm. Shaleen lächelte scheu doch dann stand sie auch auf. Als dann die Flötenklänge sich zu den beiden anderen mischte, begann Shaleen, sich so katzenartig zu bewegen, wie es ihre Vorfahren taten. Nej vergaß beinahe, das Tamburin zu spielen, so sehr begeisterte der Tanz der Jeranja ihn. Ihr feines Gewand flatterte im Sommerwind und verlieh ihr diese katzenartige Anmut. Wenn sie geschmeidig in die Knie ging und in einem Dreh wieder nach oben schoss, wie eine jagende Katze nach vorne sprang und wieder zurückschnellte, dabei ihre Arme bewegte wie eine Schlange, dass die Umrisse fast verschwammen. Nej sah darin die Abbilder der Göttin. Er verfluchte sich deshalb, denn niemals durfte ein Mensch mit einem Gott gleichgesetzt werden – aber wenn es nunmal so war? Die Jerasja sollte zwar goldenes Haar gehabt haben, doch in Sachen Anmut und Schönheit überragte Shaleen die Göttin sicher um Meilen. Cerell sah seit fünf Jahren zum ersten Mal
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wieder wahre Lebensfreude in Shaleens blauen, wachsamen Katzenaugen.
„Du kannst wirklich wunderbar tanzen“, sagte Mara zu Shaleen. Die beiden Mädchen saßen unter einem Baum und redeten miteinander. Shaleen wurde rot. „Alle Jeranjas tanzen so“, sagte sie. „Wer hat dir das beigebracht?“, fragte Mara. Shaleen seufzte. „Ein paar Angestellte aus dem Palast“, sagte sie. Wie sollte sie Mara beibringen, dass sie eine Sklavin war? „Du warst im Palast? Bist du eine Prinzessin?“, fragte Mara erstaunt. Shaleen lachte. „Nein. Diese paar Angestellte waren die Sklaventreiber“, sagte sie. Einen Augenblick lang sah Shaleen Entsetzen in Maras Gesicht. „Oh“, sagte die Beranjanerin und wendete den Blick ab. „Das tut mir leid“, sagte sie. Shaleen winkte ab. „Bei uns gibt es einen Haufen Sklaven“, sagte sie. „Ja, aber warum?“, fragte Mara. Shaleen zuckte mit den Schultern. „Wieso ausgerechnet du?“, fragte Mara. „Unsere Eltern wurden der Hexerei bezichtigt“, sagte Shaleen. „Wieso? Was haben sie getan?“, fragte Mara. „Sie haben eine Fackel entzündet“, sagte Shaleen. Zu spät fiel ihr ein, dass die Beranjaner genauso wie die Kaangra die Magie noch beherrschten. „Das ist doch kein Verbrechen!“, sagte Mara. „Bei euch nicht“, sagte Shaleen. „Aber was wir nicht kennen, macht uns Angst und der Auslöser wird ,entsorgt‘“, sagte Shaleen sarkastisch. Mara sah Shaleen entsetzt an. „Ihr
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könnt nicht mehr zaubern, richtig?“, fragte die Beranjanerin schließlich. „Stimmt“, sagte Shaleen. Sie holte Luft. „Aber unsere Eltern beherrschten es“, sagte sie. Sie zögerte kurz. „Und ich glaube, dass wir beide die Magie auch in uns tragen“, sagte sie schließlich. „Was ist mit den magischen Ringen?“ Mara und Shaleen fuhren erschrocken herum, denn sie hatten nicht erwartet, dass Nilay plötzlich hinter ihnen stehen würde. „Was für Ringe?“, fragte Shaleen verständnislos. „Die Ringe, die deine Eltern dir und Cerell gegeben haben. Ich habe sie in meiner Vision gesehen“, sagte Nilay. „Achso“, sagte Shaleen und streckte ihre Hand von sich. Dort glänzte der kleine, saphirblaue Ring an ihrem Zeigefinger. „Das sind die einzigen Andenken an unsere Eltern“, sagte Shaleen. „Diese Ringe glühen regelrecht vor Magie“, sagte Nilay. Sie sah Shaleen lächelnd an. „Wer weiß? Wenn wir es schaffen, diese Magie freizusetzen und auf euch zu übertragen, vielleicht erlernt ihr dann auch die Magie“, sagte Nilay. Shaleen schauderte bei dem Gedanken daran. Doch dann machte sie sich klar, dass sie so von größerem Wert bei ihrer Reise sein könnte. Aber würde Cerell genauso denken? „Gut. Machen wir das so“, sagte Shaleen.
Nilay wusste nicht, ob es richtig war. Hatten sie überhaupt Zeit, den beiden Jeranjas die Magie zu lehren? Würden sie es überhaupt schaffen? Nilay kniete vor den beiden
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saphirblauen Ringen und überlegte. Wie konnte sie die Ringe dazu bringen, die Magie freizugeben? „Nilay, vielleicht kannst du die Ringe mit deiner anderen Sicht an die Ringe kommen?“, fragte Yairo. Nilay sah zu ihm. „Nur weil ich hellsehen kann, heißt das nicht, dass ich solch übermenschliche Kräfte habe – der oder die Einzigste, die das jemals können wird, wird der Besitzer des Stabes der Götter sein…“, sagte Nilay. „Aber wenn wir jenen Besitzer doch ohnehin schon unter uns haben ist es vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, die magische Energie wiederzuerlangen“, meinte Shaleen nachdenklich. „Du meinst wir können abwarten bis der Stab der Götter in unserem Besitz ist?“, fragte Nilay. Shaleen nickte und sah zu Cerell, der ebenfalls nickte. „Wir können warten – Kalesh kann es anscheinend nicht“, sagte sie. Nilay nickte. „Wenn es euch nichts ausmacht würden wir dann morgen aufbrechen – auch wenn ich nicht weiß, wo wir suchen sollen“, sagte sie. „Ist doch klar! Auf Beranjan liegt der Knochen von Melero im geheiligten Wald des Meleros“, sagte Mara und grinste. „Woher weißt du das so genau?“, fragte Nilay und blinzelte verwirrt. Mara sah Nilay verdutzt an. „Wo habt ihr denn die Aufzeichnungen der Götterboten gelassen?“, fragte sie. Shaleen und Cerell kicherten los, schließlich waren dies genau Nilays Worte gewesen, als Cerell und Shaleen keine Ahnung von Kalesh und seinen
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Geheimnissen gehabt hatten. Nilay blinzelte verwirrt. „Nilay, ich glaube nicht einmal die Kaangras haben es geschafft, alles aufzubewahren“, meinte Yairo und lachte. „Der Knochen von Melero befindet sich auf Beranjan, Jerasjas Haar auf Kaangra und das Auge des Ajels auf Jeranja – wusstet ihr das nicht?“, fragte Mara. Nilay schüttelte den Kopf. „Nun gut – wir wissen, wo welcher Gegenstand zu finden ist – aber wo genau?“, fragte Nilay. „Bei uns hier im gesegneten Wald von Melero“, sagte Mara. „Und Jerasjas Haar ist an der heiligen Quelle der Jerasja in Kaangra zu finden…“, fügte Yairo hinzu. „Die Quelle kenne ich – sie ist das Leben unserer Stadt!“, rief Nilay aus. „Dann ist Ajels Auge sicher im heiligen Gebirge von Ajel versteckt!“, schloss Shaleen triumphierend. Nilay nickte. Dann sah sie sich mit einem ermutigendem Lächeln um. „Es wird Zeit, etwas zu verändern!“
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Kapitel IX
Nilay runzelte die Stirn. Vor ihr erhob sich der Wald von Melero, tief und finster. „Niemals wird der Knochen allein und schutzlos da drin liegen“, murmelte Nilay. „Ja, die Artefakte werden von Wächtern bewacht – sie sollen größer sein als alles, was sonst auf Kalesh lebt“, sagte Mara. Felisk gurrte aufgeregt auf Nilays Arm. Nilay strich vorsichtig über das weiße Federkleid. „Je schneller wir uns hineinwagen, desto schneller können wir auch wieder draußen sein“, sagte Nilay. „Wir sind auserwählt, Kalesh zu retten, also wieso sollten wir es nicht schaffen? Es wäre sinnlos“, meinte Yairo. Nilay nickte. „Du hast recht“, sagte sie und trat ein. Als Mara, die als Letzte ging, die letzten Sonnenstrahlen verlassen hatte, schlangen Lianen und Äste sich um die Bäume und versperrten den Rückweg. Dann war es stockfinster. „Wir haben kein Licht“, jammerte Shaleen. Mara lachte. „Ach wirklich nicht?“, fragte sie. Plötzlich flammten vier kleine Lichter auf. Nilay, Mara, Nej und Yairo grinsten die beiden Jeranjas an. Auf ihren Fingernägeln tanzten blaue Flammen, die weder heiß noch zerstörerisch waren. Der Wald schien das Licht jedoch zu ersticken. Sie liefen langsam nach vorne. Cerell stolperte über Wurzeln, Maras lange Haare verfingen sich in den Lianen, Shaleen verstauchte sich beinahe den Knöchel in
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einem Erdloch und Nilay schreckte ständig vor Cerells leuchtenden Katzenaugen zurück, wenn er zurücksah und sich vergewissern wollte, ob seine Gefährten ihm noch folgten. Shaleen schrie erschrocken auf. Nilay schnappte nach Luft. Vor ihnen glühten zwei dämonisch rote Augen auf. „I-ist das der Wächter?“ „Das hättest du nicht sagen sollen“, murmelte Nilay und versuchte verzweifelt, ihr Herz zu beruhigen. Die Augen fixierten sie jetzt direkt. „Macht das Licht aus“, zischte Shaleen. Schnell pusteten die vier Zauberer ihre Flammen aus. Ein schrilles Fauchen zerriss die Stille. „Das war auch nicht das Richtige“, murmelte Mara langsam. Sie hörten das Knirschen trockener Erde unter riesigen Füßen – und plötzlich flammte um die Kinder ein Feuer auf. Felisk flatterte erschrocken auf und landete weiter oben auf einem Ast. Jetzt wurde auch das Wesen sichtbar. Es war eine gigantische Spinne, deren acht Augen unheilvoll leuchteten, von ihren tödlichen Klauen tropfte Gift. „Kämpft!“, schrie Nilay und zog ein dreieckiges Messer, welches sie blitzschnell von sich schleuderte und die Spinne nur knapp verfehlte. Cerell zog sein Schwert und schwang es wild durch die Luft. Mara und Nej ließen zwei kalte, aber sicher tödliche Feuerbälle aufflammen und warfen nach der Spinne. Die Haare der Spinne versengten unter den Flammen und Nilays Messer schnitten der Spinne tief in eines der acht Beine. Yairo spannte seinen Bogen und
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zielte. Dabei musste er aufpassen, seine Gefährten nicht zu verletzen. Er schoss und traf den dicken Körper des Monsters. Schwarzes Blut tropfte heraus und stank ekelerregend. Nilays Messer durchschlug ein Bein der Spinne und trennte es ab. Das Bein zappelte noch einige Sekunden, dann war es tot – im Gegensatz zu der Spinne. Ihre Klauen klapperten und sie gab ein schreckliches, beängstigendes Geräusch von sich. „Los!“, rief Nilay zu Shaleen, die sich Cerells Dolch geschnappt hatte. Shaleen stach zu. Mit einem schmierigen Geräusch schlug sie noch ein paar Mal um sich, doch schließlich klappte sie zusammen. Tot. Nilay atmete genauso heftig wie ihre Gefährten. „Haben – haben wir es geschafft?“, fragte sie. „Da! Seht nur!“, rief Shaleen und zeigte auf einen Ast, der in den erstickenden Flammen völlig unversehrt schwebte und langsam landete. „Meleros Knochen“, hauchte Nilay. Nilay streckte den Arm aus und berührte das Holz. Die Zeichen, die auf dem Holz eingeritzt waren, glühten schwarz auf. Schwarze Wolken stiegen in die Luft und rochen warnend nach Tod. Nilay zog erschrocken die Hand zurück. Die Schwaden zogen sich in den Knochen zurück. „Der Stab ist nicht für mich bestimmt“, meinte Nilay ein wenig enttäuscht. Nej streckt vorsichtig die Hand aus und berührte den Knochen. Grünes Licht erglühte aus dem Knochen und es fraß sich in den Knochen hinein. Es entstand am dickeren
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Ende eine Kerbe. „Nej! Er ist für dich bestimmt!“, rief Mara erfreut aus.
Nej wurde blass. „Aber … wie soll ich einen Stab der Götter führen? Kann ich das schaffen?“, stammelte der Beranjaner. „Natürlich!“, sagte Mara zuversichtlich. Nej sah nicht sonderlich glücklich aus, doch schließlich nahm er den Knochen in die Hand. Mara wollte Nej umarmen, doch dabei berührte sie den Knochen – hellgrünes, glitzerndes Licht sprühte heraus und Zacken wie bei einem Fackelhalter wuchsen um die Kerbe herum. Mara blinzelte verwirrt. „Wir sind als Beranjaner für Meleros Knochen verantwortlich“, erkannte Nej. „Nun ist der Knochen bereit für das Auge des Ajels – aber wer soll denn nun über den Stab herrschen?“, fragte er. „Der Stab wird es entscheiden“, sagte Nilay. Mara und Nej nickten und lächelten. „Hinter euch!“, schrie Shaleen in diesem Augenblick auf. Mara und Nej wirbelten herum, genauso wie die beiden Kaangra. Die roten Augen der Spinne glühten wieder! Schwach, aber doch stark genug erhob sich das Gestell von einem Monster und schritt mächtig auf sie zu. „Mara, pass auf!“, schrie Shaleen, doch es war zu spät. Eine der mächtigen Klauen bohrte sich in Maras Arm. Die Beranjanerin schrie vor Schmerz auf. Cerell stieß sein Schwert in die Spinne und sie verendete mit einem quietschenden Geräusch. „Wer weiß, wie lange die Wächter nur tot sind! Mara, kannst du laufen? Wir müssen hier
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raus!“, rief Nilay und warf einen Blick auf Maras Arm. Eine klaffende Wunde zeigte sich, woraus ständig Blut tropfte. Mara nickte tapfer. Felisk flatterte wieder auf Nilays Arm. Cerell durchschlug mit seinem Schwert sämtliche Lianen und Gebüsch, bis sie sich ins Freie gekämpft hatten. Nej trug den Knochen. „Und jetzt? Mara braucht Hilfe“, sagte Nilay. „Ins Dorf“, sagte Nej. Nilay ließ alle Einwände unausgesprochen und so beeilten sie sich, möglichst schnell zu dem Beranjanerdorf zu kommen, in dem Mara und Nej lebten. Nej rief die Leute zusammen, doch in diesem Augenblick brach Mara zusammen und wand sich unter den Krämpfen, die das Gift ihr verursachten. Die Dorfbewohner stellten keine weiteren Fragen, als sie den Knochen von Melero sahen und beeilten sich, Mara zu versorgen. Nej holte seine Großeltern und stellte ihnen unterdessen die Kaangras und die Jeranjas vor. Da die Beranjaner sich von Natur aus nicht häufig aufregten und Vorurteile hatten, war Nejs Großmutter ihnen sofort freundlich gesinnt. Da Nej den Knochen besaß, flößte es den anderen Leuten großen Respekt ein. Nilay, Shaleen, Nej, Cerell und Yairo knieten voller Sorge vor Maras Bett. Wie gefährlich war das Gift? Konnten die Beranjaner sie retten? Würde Mara vielleicht sterben? „Wo sind eure Eltern?“, fragte Shaleen leise. Bis jetzt hatte sie nur die Großeltern der Beranjaner zu Gesicht bekommen. „Sie sind tot“, sagte Nej tonlos. „Oh“, machte
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Shaleen traurig. Sie sah zu Mara, die unter Schmerzen zuckte, jedoch bewusstlos war. Der Schweiß auf ihrer Stirn zeugte von hohem Fieber. Felisk hockte auf der Bettkante und sah mit ihren weisen Augen auf das Mädchen herab. „Was ist ihnen passiert?“, fragte Cerell leise. „Sie sind vor fünf Jahren an einem Gift gestorben – auch ich und Mara währen fast umgekommen, jemand scheint uns alle vergiftet zu haben“, sagte Nej. „Nilay…“, begann Yairo, doch seine Schwester schnitt ihm das Wort ab. „Nein, Yairo. Das gehört nicht hierher“, sagte sie leise. „Was?“, wollte Nej wissen. „Ich glaube er meint, dass unsere Eltern auch vergiftet wurden, genau wie wir“, sagte Nilay leise. „Nilay, da besteht eine erschreckende Ähnlichkeit!“, sagte Yairo. Shaleen runzelte die Stirn. „Wer könnte das gewesen sein? Wer war in eurer Nähe?“, fragte sie. „Unser Hausmädchen Ayla war immer da…“, meinte Nilay leise.
„Wir hatten eine gute Freundin und Nachbarin, sie hieß Alyna“, sagte Nej leise. Shaleen schlug sich mit der rechten Hand in die linke Handfläche. „So eine einfallslose Ziege! Sie hat sich durch ihre Decknamen selbst verraten. Alyna, Ayla und Arila – das klingt sehr ähnlich. Die Mörder unserer Eltern sind dieselben!“, sagte sie. „Bestimmt hätte Arila auch uns vergiftet, aber die Möglichkeit des Verrats an meinen Eltern kam ihr grade recht“, sagte Shaleen. „Hatte Arila etwa Flügel?“, fragte Nilay. Shaleen hielt inne. „Nein,
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natürlich nicht“, murmelte sie. „Alyna hatte auch keine Flügel. Sie war eine Beranjanerin“, sagte Nej. „Na gut. Dann kann sie eben ihre Gestalt ändern!“, rief Shaleen. Plötzlich erinnerte sich Nilay an ihre Vision, an die Zerstörung Jeranjas, und an die Frau, die ihr so bekannt vorgekommen war. „Shaleen hat recht!“, sagte die Kaangra. „Ich habe sie in einer meiner Visionen gesehen, als die Kaangra, die sie gewesen war, als sie unser Hausmädchen gewesen war – als Ayla.“ „Sie wird sich also die Kaangra untertan machen und mit ihnen als Werkzeuge Kalesh unter ihre Herrschaft bringen“, murmelte Shaleen. In diesem Augenblick wurden sie von einer energischen Ärztin zur Seite geschoben.
Shaleen riss die Augen auf. „Nein!“, rief sie. „Mara darf nicht sterben!“ Die Ärztin schüttelte traurig den Kopf. „Sie wird in ihrem Zustand bleiben und wenn kein Wunder geschieht, nie wieder aufwachen“, sagte sie. Shaleen schluckte. „Wir besorgen das Wunder“, sagte sie fest. „Genau. Wir werden die Artefakte finden und Mara mit dem Stab der Götter retten“, schloss Nilay sich an. „Kinder, habt ihr nicht gesehen, was der Wächter des Knochens dem armen Mädchen zugefügt hat? Hier findet ihr Hilfe, aber in Kaangra und Jeranja – verzeiht, aber es ist so – werdet ihr das nicht“, sagte die Ärztin. „Wir geben nicht auf! Wir sind auserwählt, den Stab der Götter zurückzubringen und was ist unser Hals wert, wenn Kaleshs Schicksal an uns hängt?“
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Cerells Stimme duldete keinen Widerspruch. „Eher sperre ich euch ein, als dass ich euch gehen lasse“, murmelte die Ärztin. „Nein. Jetzt sind wir so weit gekommen, jetzt lassen wir uns nicht unterkriegen“, sagte Shaleen. Die Ärztin seufzte. „Nej, deine Großmutter wird mich umbringen“, jammerte sie. Sie stöhnte. „Na gut, dann lauft schon!“, sagte sie. Die Kinder lächelten kurz, dann nahm Nej den Knochen und gemeinsam machten sie sich nach Kaangra auf.
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Kapitel X
Nachdem Yairo und Nilay zusammen mit Cerell, Shaleen und Nej nach Kaangra geflogen waren, warteten die beiden Kaangra geduldig, bis der Beranjaner und die Jeranjas den Felsen hinaufgeklettert waren. Die Sorge um Mara waren für die erdgebundenen Menschen wie Flügel, deshalb hatten sie die Quelle der Jerasja bald erreicht. Klares, blaues Wasser sprudelte den Kanal hinunter, der in die Stadt führte. „Aber wo sollen wir suchen?“, fragte Nilay. „Da! Seht doch! Da ist eine Höhle!“, rief Yairo. Er zeigte auf ein von Lianen verhangenes Erdloch. Nilay nickte und trat vorsichtig ein. Dass plötzlich eisiges Wasser vor die Höhle schoss und zu Eis wurde, überraschte die Kinder kaum. Wieder saßen sie in der Falle, doch wenigstens war es nicht so dunkel. „Was mag uns wohl hier erwarten?“, fragte Nilay leise. Felisk auf ihrem Arm gurrte leise. „Meinst du es wird schlimmer sein als diese Spinne?“, fragte Nilay die Eule. „Ich weiß genausowenig wie du“, gab die Eule zu. Ein hohes Zischen ließ die Kinder herumfahren. Doch da war niemand. „Weiter“, zischte Nilay. Sie liefen weiter und gelangten in eine Sackgasse. Dort sahen sie die Lichtquelle, die die Höhle erhellte. „Jerasjas Haar!“, flüsterte Shaleen. Es leuchtete golden, schlang sich die Felswand hinauf und schien zu leben. „Achtung, seid immer auf der Hut!“, flüsterte Nilay
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und in ihrer Hand blitzte das dreieckige Messer auf, wie es die Kaangra gerne zu ihrer Verteidigung nutzten. Sie hörten das Zischen ein zweites Mal. Nilay sah nach oben – an einem abgestorbenem Ast hing eine dicke Schlange die warnend ihre Giftzähne zeigte. Nilays Gedanken überschlugen sich. Konnten sie das schaffen? Warum waren sie auserwählt? Wie konnten sie sich so sicher sein, es schaffen zu können? Sollten sie fliehen? Würden sie sterben? Warum nahmen sie das alles auf sich? Was, wenn es ihnen nicht gelang, den Stab wiederherzustellen? Nilays Gedanken wanderten mit ihren hellseherischen Fähigkeiten Meilen weg und dort fand sie Mara, die sich vor Schmerzen wand, scheinbar endlose Meere der Qual durchquerte, das Ufer erreichte und wieder zurückgezogen wurde. Dann fand sich Nilay bei sich selbst wieder. Deshalb waren sie hier. Das Schicksal verlangte Mut. Sie mussten es zumindest versuchen. Sie mussten Mara retten, um jeden Preis. Die Zweifel und die Angst formten sich in Zuversicht und Mut um. „Kämpft!", rief sie, so, wie sie es bei der Spinne schon getan hatte. Yairo spannte seinen Bogen und schoss, jedoch verfehlte er den schlanken Körper des Monsters. Die Schlange ließ sich auf den Boden herab und bäumte sich unheilvoll auf. Nilay schleuderte ihr Messer von sich und trennte der Schlange den letzten Teil ihres Körpers ab. Die Schlange wand sich unter dem Schmerz und fauchte. YairosÂ
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nächster Pfeil fand im Körper der Schlange sein Ziel. Nilay ließ einen Feuerball aufflammen und schleuderte damit nach dem Ungetüm. Schwarze Brandwunden zeichneten das Schuppenmuster von nun an. Shaleen schnitt die Haut der Schlange auf und das Blut bedeckte den Boden, der ganz aus Eis bestand. Mit einem Schwertschlag beendete Cerell den Kampf und des Monsters Dasein als Wächter. Nilay und Yairo schritten zu der Wand, an dem das zweite magische Artefakt aufbewahrt wurde. Gemeinsam bewührten sie es. Silbernes Licht sprühte auf und das Haar der Jerasja begann zu schweben, löste sich von der Felswand und schien auf etwas zu warten. Nej schritt hinzu und hielt den Knochen von Melero in die Luft. Der Knochen entzog sich seinen Händen und begann ebenfalls zu schweben. Das Haar der Jerasja begann, sich kunstvoll um den Knochen zu wickeln und über der Kerbe und der Halterung entstand eine filligrane Kugel aus dem Haar, das nun hart wie Metall wurde und so der Platz für das Auge des Ajels freihielt. Langsam senkte sich der Knochen wir in Nejs Hände. Nilay lächelte schwach. „Wir werden Mara retten", sagte sie leise und strich mit ihrer Hand über den Knochen. Und dieses Mal strömte ein silbernes Licht heraus.
Nilay saß stumm vor dem Knochen, der immer mehr zum Stab der Götter wurde. Sie war in Gedanken bei Mara und Tränen stiegen ihr in die Augen. All das haben wir
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durchgemacht – Mara verdient eine Chance, dachte sie. Am nächsten Tag würden sie sich aufmachen, das Auge des Ajels zu gewinnen. Nilay schloss die Augen und sah vor sich Mara – als sie noch gesund gewesen war. Wie sie gemeinsam getanzt hatten – der Zauber dieses Morgens war verflogen. Und dann hatten sie sich dem Ungeheuer gestellt. Wenn sie doch nur früher gegangen wären! Dann wäre Mara jetzt bei ihr... Das Mädchen mit den langen kupferfarbenen Haaren fehlte ihr. Nilay hatte sie in ihr Herz geschlossen. Sie öffnete die Augen wieder und ihr Blick fiel auf den Stab. Die feinen Haare, die nun zu Metalldrähten geworden waren, spiegelten das Licht der ungehenden Sonne. Felisk landete neben den Stab und legte den Kopf schief. „Nilay, mach dir keine Sorgen. Wir werden es schaffen", sagte die Eule ermutigend. Nilay gab keine Antwort. Felisk sah zu der todunglücklichen Kaangra. „Weißt du, wir hätten es niemals so weit treiben dürfen. Was geht einen Haufen Kinder die Angelegenheiten anderer an?" Nilay schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich habe sie alle in Gefahr gebracht", sagte sie. „Es ist dein gutes Recht, deine Welt zu bewahren", sagte Felisk weise. „Du bist junge fünfzehn Jahre alt, willst du dein Leben wegschmeißen, bevor es begonnen hat?" „Aber was, wenn Mara nicht überlebt?", jammerte Nilay. Felisk seufzte. „Ich kenne diese verlockende Nähe des Selbstmitleids", sagte sie. „Bevor du mich riefst habe ich es
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am eigenen Leib erfahren. Aber glaube einer alten, weisen Eule – es bringt dich nicht im Geringsten weiter." Mit diesen Worten schwang Felisk sich in die Luft und überließ die junge Kaangra ihren eigenen Gedanken.
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Kapitel XI
Am nächsten Morgen sah die Welt ganz anders aus. Zwar machte Nilay sich immer noch Selbstvorwürfe, doch sie hatte alle Tränen hinuntergeschluckt. Sie hatte auch keine Zeit, weiterhin nachzudenken. Zusammen mit Yairo flog sie die erdgebundenen Menschen nach Jeranja und dann begann ein erschöpfender Marsch durch die Wüste. Doch dann nach drei Tagen erreichten sie unter Cerells Führung das Gebirge des Ajels. Sie suchten eine Höhle auf, denn Cerell war fest der Meinung, das Auge müsste sich in einer solchen befinden. „Ist das nicht die Höhle, in der wir unsere ersten Momente miteinander verbracht haben?“, fragte Nilay. Shaleen nickte, als sie die gemeißelten Treppen hinabstieg, zu der Tropfsteinhöhle. „Ich spüre, dass sich hier Magie befindet“, sagte Cerell. „Wie kannst du das spüren?“, fragte Nilay. „Es ist wie damals, als ich dich das erste Mal sah“, erwiderte Cerell. „Ich spüre es auch“, sagte Shaleen. Sie schritten weiter zwischen den unterirdischen Seen, Flüssen und Tümpeln hindurch und schließlich lag dort das Auge des Ajels. „Seid gewarnt!“, wisperte Nilay. „Wir wissen nicht, was der Wächter ist und wie sehr er das Herzstück des Stabes verteidigen wird. Plötzlich drang ein leises Zischen an die Ohren der Kinder, gefolgt von einem Kreischen. Darauf folgte ein Gebrüll, welches die Wände erzittern ließ.
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Die Kinder fuhren herum. Auf der Treppe wartete die Spinne, die Spinne, die sie in Beranjan besiegt hatten! Die Spinne, die Mara verwundet hatte.Die Kinder erschraken furchtbar, als sich plötzlich die Schlange einen Tropfstein herunterschlängelte. Neben der Treppe schritt ein mächtiger, gewaltiger Löwe hervor. „Sollen wir gegen all diese Monster kämpfen?“, fragte Nilay und ihre Stimme versagte fast. „Weshalb? Ihr habt schon gesiegt.“ Die mächtige Stimme des Löwen erfüllte die gesamte Halle. Keiner der Kinder wagte es auch nur, zu atmen. „Habt keine Angst – die Artefakte des Meleros und der Jerasja gehören euch – doch schafft ihr es auch, den Stab zu benutzen, um uns zu erlösen? Nur dann können wir euch gehen lassen“, sagte der Löwe. Nilays Herz schlug ihr bis zum Hals. Doch dann schritt sie langsam auf das Auge zu und winkte Shaleen und Cerell zu sich. Cerell und Shaleen lächelten sich kurz zu, dann hob Cerell das Auge in die Höhe und Shaleen legte ihre Hand darauf. Das Auge begann zu schweben. Der Stab in Nejs Hand flog zu dem Auge. Die feinen Drähte öffneten sich langsam. Das Auge sank in die für es auserlegte Kerbe. Langsam schlossen sich die Haare der Jerasja um das Auge. Die Magie verflog und der Stab sank wieder in Nejs Hand. Doch er blieb tot. Im Auge des Ajels regte sich nichts. „Komm schon“, flüsterte Nej. Das Auge färbte sich dunkelgrün, wurde aber danach schwarz. Es blinkte kurz
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auf, als würde es auf jemanden warten. Nej gab den Stab an Shaleen weiter. Das Auge verfärbte sich braun und wurde schließlich wieder schwarz. Wieder blinkte es kurz. Shaleen gab den Stab traurig an Cerell weiter. Das Auge verfärbte sich ockerfarben, dann wurde es abermals schwarz und blinkte suchend. Cerell gab den Stab an Nilay weiter. Das Auge verfärbte sich kurz silbern, danach erlosch das Licht wieder und es blinkte ungeduldig. Nilay runzelte die Stirn und gab den Stab an ihren Bruder weiter. Doch auch in Yairos Hand wechselte es seine Farbe nur kurz ins graue, dann erlosch das Licht wieder. „Sie sind nicht die wahren Besitzer!“, donnerte die Stimme des Löwens durch die Halle. „Sie haben die Artefakte gestohlen!“ Nilay keuchte auf. Mara!, dachte Nilay entsetzt. Mara ist der wahre Besitzer! Der Löwe, die Schlange und die Spinne wollten sich auf die Kinder stürzen. Nilay riss entsetzt die Augen auf. „Halt!“ Shaleens Stimme brachte beinahe die Tropfsteine zum Beben. Die Wächter blieben tatsächlich stehen. „Wenn ihr uns vernichtet, erreicht ihr genau das, was die Götter nicht wollten!“, sagte Shaleen. „Dann wird Kalesh zerstört!“ In ihren hellblauen Augen spiegelte sich pures Flehen wieder. „Aber ihr konntet den Stab nicht aktivieren“, stellte der Löwe richtig. „Aber dennoch liegt das Schicksal Kaleshs in unseren Händen!“, sagte Shaleen. „Unsere Freundin ist die Besitzerin des Stabes und wenn wir
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ihn ihr nicht bringen wird sie sterben!“ Shaleens Stimme überschlug sich fast. Ihre Augen fixierten die Spinne. „Du hättest sie beinahe umgebracht!“, fauchte sie. Nilay konnte nicht fassen, was sich vor ihr abspielte. Die schüchterne Shaleen nahm es mit den drei mächtigsten Wesen Kaleshs auf. „Gewährt uns, ihr den Stab zu bringen und Mara zu heilen … ansonsten … werden wir als Staubkörner im Universum verenden“, sagte sie leise. Der Löwe sah Shaleen etwas verwirrt an. „Nun gut. Ich lasse euch gehen. Doch wehe euch, ihr missbraucht die Macht des Stabs“, drohte der Löwe. Shaleen nickte und nahm vorsichtig den Stab. „Wir werden euch nicht enttäuschen“, sagte sie und machte einen hastigen Knicks vor dem Löwen. Dann gab sie ihren Freunden einen Wink zum Verlassen der Höhle.
Als sie am Meer angekommen waren, landete Felisk auf Shaleens Arm. „Sie sagt, dass sie sehr stolz auf dich ist“, übersetzte Nilay. Shaleen lächelte. Sie sah auf den Ring, den sie am Finger trug. Vielleicht würde er seine gespeicherte Magie irgendwann freigeben… Shaleen lächelte als sie an ihre Eltern dachte. Es ist schon seltsam, wie sich alles entwickelt hat…es ist Schicksal, dachte sie. Dann begannen die fünf und Felisk ihren Ãœberflug nach Kaangra.
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Kapitel XII
„Mara!“, rief Nilay und stürzte an Maras Bett. Ihre Freundin war so bleich wie Schnee, sogar Nilay und Yairo hatten dagegen noch Farbe im Gesicht. Mara atmete in flachen Zügen und kaum wahrnehmbar. Aber noch lebte sie. „Ihr habt es tatsächlich geschafft!“, rief die Großmutter der beiden Beranjaner, die anscheinend auch schon halb krank vor Sorge war. „Oh Mara“, flüsterte Shaleen. Nej reichte Shaleen den Stab der Götter. „Oh ihr Götter – hoffentlich kann sie sich selbst helfen“, flehte Nilay leise, als Shaleen Mara den Stab ihre die bleichen, kraftlosen Hände legte.
Es fühlte sich an, als würde sie aus endlosen Tiefen eines dunklen Ozeans auftauchen. Es fühlte sich an, als wären ihre Lungen voll Wasser, sie könne nicht mehr atmen und dennoch lebte sie – in einem Meer aus Schmerz. Mara wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, sie konnte nichts tun, außer hilflos um sich zu schlagen. Sie sah ein Ufer, fühlte den Sand, den sie hätte erreichen können, der sie hätte retten können … und schon wurde sie wieder von einem dunklen Dämonen zurückgezogen. Sie stand die ganze Panik, die schwindende Hoffnung und das Gefühl von Tod noch einmal durch und versuchte wieder, ein Ufer zu finden, etwas, an das sie sich klammern konnte … und dann fand sie etwas. Es war wie ein Stück Treibholz, zerbrechlich und
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doch überlebenswichtig in ihrer Situation. Mara kämpfte mit dem gleichen Kampfeswillen wie damals, als ihre Eltern gestorben waren. Aber damals waren sie zu zweit gewesen. Sie und Nej. Damals hatten sie vor dem gleichen Tor des Todes gestanden und hatten sich geweigert, einzutreten. Sie hatten sich zurückgekämpft. Sie hatten überlebt, mit einem unglaublichen Kampfeswillen, der sie davor bewahrte, einfach alles aufzugeben. Heute jedoch war sie alleine, hatte mehr als einmal vor dem Tor des Todes gestanden, das sich ihr geöffnet hatte und dann war sie wieder zurückgeglitten, zurück in den Ort zwischen Leben und Tod. Es war weit qualvoller, ständig zwischen Erlösung, Qual und Leben hin-und herzupendeln als einfach alles hinzuschmeißen. Aber dann dachte sie verschwommen an ihren geliebten Bruder, an Cerell, Shaleen, Nilay und Yairo und schwor sich, niemals freiwillig aufzugeben. Und wenn der Tod ihre Seele in noch so kleine Teile riss, sie würde nicht gehen. Und dann war da dieses Holz, das sie unter ihren Händen spürte. Sie spürte neue Energie und spürte, wie ihr verkrampfter Körper sich wieder entspannte. Sie spürte eine Wärme, die sie seit Tagen nicht mehr gespürt hatte. Es war die Wärme des Lebens. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie wusste nicht, wer sie war. Sie wusste nicht, was mit ihr geschah. Doch sie wusste, dass sie langsam wieder auf das Leben zustolperte.
Sprachlos hatten Nilay, Shaleen, Yairo, Cerell und Nej der
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Magie zugesehen, die sich vor ihnen ausbreitete. Als Shaleen Mara den Stab der Götter in die Arme gelegt hatte, hatte er angefangen, hellblau zu leuchten. Das warme Licht verteilte sich bald überall im Raum und das Licht schien auch in Mara aufzuglühen. Das Auge blinkte erfreut. Eine Welle der Wärme fegte über die Kinder hinweg und Maras Gesicht wurde farbiger. Dann öffnete Mara die Augen. Verwirrt blinzelte sie und setzte sich auf. „Nej!“, rief sie und fiel ihrem Bruder um den Hals. „Shaleen, Nilay, Yairo, Cerell! Was ist passiert?“, wollte das Mädchen wissen. „Die Antwort liegt in deinen Händen“, sagte Nilay. Mara sah auf den Stab herab, der nun nur noch schwach blau glühte und dessen Licht pulsierte. „Ich?“, fragte Mara leise. „Du“, erwiderte Nilay und lächelte. Mara lächelte. „Ihr habt es geschafft“, flüsterte sie. Sie ließ ihre Hand über das Auge gleiten. Plötzlich wurde ihr Blick in das Auge hineingezogen und sie sah einen prächtigen Thronsaal. Dort saßen ein König und eine Königin auf dem Thron, beide Kaangras. Vor ihnen stand eine Kaangra mit roten Augen und goldenem Haar. „Mein König, das Heer steht. Im Morgengrauen werden wir Jeranja angreifen“, sagte die Kaangra. Ihre Stimme klang leer und hohl und doch bedrohlich. „Mara? Ist alles in Ordnung?“, fragte plötzlich Nilay und im nächsten Augenblick fand sich Mara wieder in ihrem Zimmer bei ihren Freunden wieder. Sie nickte
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verwirrt. „Wir sollten uns beeilen“, fügte sie hinzu.
Sie standen vor der großen Stadt von Kaangra. „Rein“, sagte Nilay. „Was?! Sie werden uns…“ Cerell wurde von Nilay unterbrochen. „Sie werden uns gefälligst zuhören, denn sie wissen nicht, was wir wissen“, zischte sie. Sie lief zum großen Stadttor und machte ein überraschtes Gesicht, als sie dort niemanden vorfand. Sie stieg auf eine Erhöhung, von der sie sich in die Lüfte schwang und sich nach oben schraubte, wo sie einen Hebel betätigte und das Tor aufschwang. Yairo führte seine Freunde in die Stadt, während Nilay wieder sanft auf dem Boden landete. „Wo sind denn nur die ganzen Leute?“, fragte er rhetorisch. „Sie sind im Thronsaal, ich habe es gesehen“, sagte Mara. „Das Auge spricht zu dir?“, fragte Nilay. Mara nickte und lächelte. Yairo ließ Nilay keine Zeit für weitere Fragen und zog seine Freunde bis zu dem Tor, welches den Thronsaal vom Rest der Stadt trennte. „Seid auf alles gefasst“, schärfte Yairo seinen Gefährten noch einmal ein. Dann stieß er das Tor auf. Das gesamte Volk der Kaangra drehte sich zu ihnen um. Der Blick der Kinder fiel auf die Kaangra, die im Mittelpunkt aller stand. Shaleen kniff die Augen zusammen. Sie erkannte ganz klar die Jeranja, die sie einst behütet hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Mara riss die Augen auf. Das war die nette Nachbarin, die so oft mit ihr über ihre Sorgen geredet hatte! Nilay holte Luft.  „Ayla!“,
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zischte sie, sodass es im ganzen Thronsaal widerhallte. „Arila!“, fauchte Shaleen. „Alyna!“, schnaubte Mara. Die Kaangra starrte die Kinder hasserfüllt an. Ihre roten Augen schienen zu glühen. „Wie könnt ihr es wagen, euch in meine Angelegenheiten einzumischen?!“, schrie sie und wandte sich der Wache der Kaangra zu. „Na los, worauf wartet ihr? Verhaftet die Fremden!“, schrie sie und ihre Stimme überschlug sich fast. „Halt! Ich bin eine Kaangra und manche kennen mich und meinen Bruder! Und wenn ihr unseren Freunden auch nur ein Haar krümmt, wird es euch leidtun!“, sagte Nilay mit fester Stimme. Die Wache zögerte. Viele kannten die junge Seherin und mochten sie und ihren Bruder. Jeder kannte das Schicksal ihrer Eltern und viele hatten den beiden Kindern Trost gespendet. Nein. Sie konnten Nilay nicht verhaften. Oder doch? „Verdammt, verhaftet sie! Auf der Stelle! Habt ihr vergessen, was ich euch versprochen habe? Lasst euch nicht aufhalten!“ Aylas Stimme versagte beinahe in ihrem Zorn. Die Wache begann zu tuscheln und dann ging sie bedrohlich wie eine Lawine auf die Jugendlichen zu. „Keinen Schritt weiter!“, rief Mara und streckte ihnen den Stab der Götter entgegen. Ehrfürchtiges Gemurmel erhob sich und die Wache schreckte zurück. „Wo habt ihr den her?“, keifte Ayla. „Das spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass wir den Stab der Götter besitzen und dass du niemals Kalesh beherrschen
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wirst!“, schrie Nilay zurück. „Ich? Wer hat denn etwas von beherrschen gesagt?“, fragte Ayla und tat wie die Unschuld selbst. Mara, die einen Moment abwesend gewesen war, löste ihren Blick von dem mächtigen Artefakt, welches sie in ihren Händen hielt. „Das Auge des Ajels“, sagte Mara. Ayla lachte schrill. „Kindchen, hast du vielleicht noch mehr Märchen auf Lager?“, fragte die Kaangra höhnisch. „Nein, nur Fakten“, sagte Mara und ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. „Eigentlich waren unsere Eltern die wahren Erben der Artefakte, doch du musstest es verhindern, wenn du dir Kalesh ausliefern wolltest – also hast du sie vergiftet, du hast sie kaltblütig ermordet – und beinahe auch uns. Doch wir sind stärker als unsere Eltern und konnten es überleben – und nun sind wir deine Feinde und wir werden Kalesh bis zum letzten Atemzug verteidigen.“ Nilay war von Maras Worten maßlos erstaunt. Hatte das Auge ihr all das gesagt? Oder hatte sie nur eins und eins zusammengezählt? Ayla wurde rot vor Wut. „Na gut. Wenn ihr verfluchten Kaangra sie nicht angreifen wollt, werde ich es eben selbst tun!“, schnaubte sie. Plötzlich schien sie zu explodieren und als sich die rote Wolke aus Flammen und Tod verzogen stand dort eine Dämonin, deren rotbraune Flügel sich zu einem monströsen Gebilde entfalteten. Ihre Augen schienen Funken zu sprühen, während sie drohend auf die Kinder zustapfte. Mara wich
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einen Schritt zurück. Doch dann stieß sie der Dämonin ihren Stab entgegen. Blaue Blitze hüllten die Dämonin ein und schwächten sie. „Nein!“, schrie Ayla. „Ich komme wieder!“ Dann löste sie sich in einer rauchenden Wolke auf. Es wurde still. Dann brach lauter Jubel los. Mara lächelte und streckte den Stab der Götter in die Höhe. Dort funkelte das Auge des Ajels und schien den Kindern zuzwinkern zu wollen.
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Kapitel XII
Shaleens wachsame Augen durchbrachen das Finster der Nacht. Sie saß am Fenster und erfreute sich dem schwachen Schein des Mondes, der über dem dichten Wald Beranjans stand. Die Bauweise der beranjanischen Häuser gefiel ihr und sie hatte sich daran gewöhnt. Nur ganz kurz wanderten ihre Gedanken im ihre Heimat. Es würde noch sehr lange dauern, bis sie und Cerell zurückkehren konnten. Mara besaß den Stab der Götter und die Dämonin Ayla schien im All verschwunden zu sein … Shaleen sah zu der Halterung, in der der Stab der Götter seinen Platz gefunden hatte. „Die Gefahr ist noch nicht gebannt“, sagte Mara, die auf ihrem Bett lag und an die Decke starrte. „Ich weiß. Aber es ist ein Anfang“, sagte Shaleen. Nej trat neben Shaleen. Shaleen reagierte nicht, doch sie sah den Blick, mit dem er sie ansah. Sie wusste es. Nej mochte sie. Doch … sie war kein naiver Fisch, der einfach anbiss. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Züge. Ich bin gespannt, ob ein Hund eine Katze einfangen kann, dachte sie schelmisch.
Melero sah mit gerunzelter Stirn auf die Welt herab, die er vor vielen tausend Jahren zusammen mit seinen Geschwistern erschaffen hatte. Er spürte ihre Gegenwart. „Was denkst du, Schwester?“, fragte er. Jerasja trat neben ihn und hob hochmütig das Kinn. „Ich denke, es ist Zeit, unsÂ
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Kalesh zurückzuholen“, sagte sie. Melero nickte. „Du kennst die langsamen Sterblichen – so etwas braucht Zeit.“ Jerasja nickte und ein arrogantes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Wollen wir sehen, zu was uns Ayla noch verhelfen kann.“