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Was hat ein 14-jähriges Mädchen mit einem 10kg schweren Rucksack auf einem Friedhof zu suchen? Vor zwei Monaten hätte ich mir so etwas nicht mal vorstellen können, aber jetzt war diese Person ich.Â
Ich kniete vor einem Doppelgrab, dem Grab meiner Eltern. Neben mir stand mein Rucksack, meine Muskeln waren gespannt, jederzeit dazu bereit, loszusprinten.
Vor zwei Monaten hätte ich so etwas in Filmen gesehen und mit meinen Freunden darüber diskutiert, wie die Regisseure auf diese und jene Schauspielerin kamen. Aber vor zwei Monaten hatten meine Eltern auch noch gelebt. Vor zwei Monaten hatte ich noch die Illusion von einem normalen Leben gehabt. Ich ging zur Schule – mehr oder weniger gerne -, traf mich mit meinen Freunden, verliebte mich – meistens hoffnungslos – und lebte mein Leben.                               Dann, am 10. Mai passierten all diese merkwürdigen Dinge...
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Morgens, als ich zur Schule ging, fühlte ich mich ständig beobachtet, in der Schule sah mich mein Mathelehrer, Herr Kringe die ganze Zeit so mit einer Mischung aus Schadenfreude und gespieltem Mitleid. Als ich dann nach Hause kam, waren meine Eltern nicht da, was an sich nichts merkwürdiges ist, da sie nie Mittags da waren, aber sie hatten mir heute versprochen, dass wir heute nach der Schule gemeinsam etwas unternehmen würden und wenn meine Ma etwas versprach, hielt sie es zu 100 Prozent. Ich nahm meine Kopfhörer aus meinen Ohren und rief: “Mum? Dad? Seid ihr da? Hallo?!?!“ Keine Antwort. Ich schlüpfte aus meinen schnürsenkellosen Chucks und stapfte wütend vor mich hinmurmelnd in mein Zimmer. Dort schmiss ich meine Tasche in die Ecke, nahm mein Telefon und legte ich auf mein Bett, währen ich die Handynummer meiner Ma wählte. Nachdem es ein paar mal geklingelt hatte, legte ich auf und versuchte es bei meinem Dad. Da ging auch keiner ran. Na super! Der Nachmittag fing ja gut an!
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Ich legte das Telefon wieder auf meinen Schreibtisch, nahm stattdessen meinen Laptop und ging zu Facebook. Dort postete ich erstmal als Status: “Meine parents wollten eig heute da sein. Und was ist? Sie sind nicht da und ihre Handys sind aus -.- War ja klar!“
Kaum hatte ich das gepostet, hörte ich ein Auto kommen und da unsere Straße sehr wenig befahren ist, sah ich nach. Es war NICHT das Auto meiner Eltern, sondern die Polizei. Seufzend sank ich wieder auf mein Bett zurück, um mich wieder meinem Computer und Facebook zu widmen. Plötzlich klingelte es an der Haustür. Ich zuckte zusammen. ’Wer ist denn das? Etwa die Polizei?’, dachte ich. Ich ging ohne Eile runter zur Haustür und sah durch den Türspion. Es war tatsächlich die Polizei. Das Blaulicht des Autos war an und zwei Beamte standen direkt vor der Tür. Das verhieß nichts gutes. Ich sagte mit lauter, gefasster Stimme, ohne die Tür zu öffnen (man weiß ja nie): “Kann ich bitte Ihre Ausweise sehen?“ Sie antworteten nicht, sondern nahmen ihre Ausweise und hielten sie nacheinander vor den Türspion.
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Anschließend öffnete ich die Tür und die Polizisten stellten sich vor und gaben mir die Hand. Ich bat sie herein und führte sie in die Küche, wo ich ihnen etwas zu trinken anbot, ganz die wohlerzogene Dame. Sie lehnten jedoch ab. Dann kamen sie zum Grund ihres Kommens, ein Grund, den ich nicht hören wollte. “Nim, deine Eltern sind...“ “Sie sind gestorben. Es tut mir sehr leid. Es war ein Autounfall, auf der A7. Sie waren sofort tot. Deine Eltern haben nicht gelitten.“ ’Nicht weinen, auf keinen Fall darfst du jetzt weinen. Zeig keine Schwäche. Zeig ihnen, dass du stark bist.’ Ich richtete mich zu meinen Stolzen 1,63m auf und konzentrierte mich daruf, dass meine Hände nicht zittern. Dann sagte ich mit der gleichen ruhigen Stimme, die Leute haben, wenn sie ein verletztes Tier beruhigen wollen: “Ich würde Sie bitten, jetzt zu gehen. Ich möchte allein sein.“ Nach einigen Protesten, wie: “Bist du sicher, dass du klarkommst?“ und: “Sollen wir nicht doch noch bleiben?“, gaben sie auf, stiegen in ihr Auto und fuhren weg. Ich schloss die Tür und rutschte an ihr herunter. Dort blieb ich ca. 10 Minuten sitzen, bis ich mich wieder einigermaßen gefasst hatte. Die eigentliche Nachricht war noch gar nicht zu mir zurchgesickert.
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Wie auch? Da waren zwei Bullen, die mir gesagt hatten, dass meine Eltern tot waren! So etwas passierte in Filmen, aber nicht im echten Leben! Ich stand auf, ging in die Küche und schaltete das Radio an. Dann machte ich mir einen schönen heißen Kakao und ging wieder nach oben an meinen Computer. Ich hatte inzwischen 10 Kommentare zu meinem Status, meist so etwas, wie: “Naja, jetzt hast du Sturmfrei! xD“, oder “Da sieht man mal, wie Eltern zu ihren Versprechen stehen! :P“ Und von meiner besten Freundin kam: “Das tut mir leid für dich. Soll ich zu dir kommen??“ Ich schrieb einfach: “Ja, passt schon. Dann kann ich mich den ganzen Tag vor die Glotze klemmen. @Julia: Nein, du brauchst nicht zu kommen. Ich wette eh, dass du schon was mit deinem Freund vorhast :*“ Dann klappte ich den Computer zu und schlief ein.
Abends wachte ich wieder auf. Ich stand vom Bett auf und ließ meine Knochen knacken. Dann ging ich ins Wohnzimmer, um nachzusehen, ob meine Eltern inzwischen da waren. Sie waren es nicht, das Wohnzimmer war leer. Plötzlich fielen mir wieder die beiden Polizisten ein. Anscheinend hatten sie doch die Wahrheit gesagt.Â