Kamuy blickte missmutig auf die sich dem Bergkamm nähernde Sonne. Er hatte seinen Platz nicht verlassen, seit er ihn am gestrigen Abend bezogen hatte. Die grünlich-türkise Feder, die ihm an der Schläfe steckte, wiegte sich sacht im Wind, der hier immer wehte, und kitzelte ihn ein wenig. Er schüttelte mit dem Kopf. Durch diese Feder erkannte man ihn sofort, genau wie durch die lange, feine Narbe über dem linken Auge, auf der kein Fell mehr wuchs. Der Mensch hatte sie ihm damals zugefügt, kurz bevor Kamuy es geschafft hatte, ihm den Hals zu zerfetzen. Die Feder sah aus wie ein harmloses Schmuckstück, doch eigentlich war sie Teil seines Fluches und wuchs ihm direkt aus dem Kopf. Sein Erkennungszeichen. Alle seiner Art hatten eine Feder am Kopf, die vom Fluch kündete. Ansonsten war Kamuys Erscheinung nicht allzu auffällig. Er war von mittlerer Statur, weder besonders groß, noch besonders schmächtig, hatte dichten, fein glänzenden silbergrauen Pelz, der auf dem Rücken dunkel und an Brust und Bauch etwas heller war, und leuchtend gelbe Augen. Kräftige Klauen und lange, spitze Reißzähne, wie es sich für den Jäger eines Wolfsrudels gehörte. Das war es, was Kamuy sein wollte. Ein Jäger seines Rudels. Nicht mehr und nicht weniger. Ein Jäger war nützlich. Ein Jäger war wichtig. Er wollte seinem Rudel dienen, für sie da sein, für sie Zweck sein. Tatsächlich war er zwar ein Jäger seines Rudels, ohne Zweifel ein erfolgreicher, aber eben nicht nur, sondern auch das. Das Andere, das Sonderbare. Das Grauen. Sein größter Feind war seit Jahren er selbst. Er hatte gelernt, mit dem Fluch zu leben, ihn akzeptieren können würde er wohl aber nie. Die Sonne war tiefer gesunken. Am liebsten hätte er sie mit seinen Zähnen gepackt und vom Himmel gerissen, damit sie nie wieder unterging. Missmutig blinzelnd legte er den Kopf in die Pfoten. Alles, was wollte, war nicht Das zu sein.
„Du solltest etwas essen.“ Aus dem Augenwinkel konnte Kamuy erkennen, wie Sekk neben ihm einem toten Kaninchen mit einem scharfkantigen Stein den Pelz am Bauch der Länge nach aufschlitzte. Sekk hatte ein Wolf sein wollen, und war einer geworden. Sekk hatte es geschafft, die Grenzen, die sein Körper ihm gesetzt hatte, zu durchbrechen. Aber Sekk war anders als Kamuy. Sekk war trotziger und widerspenstiger. Er akzeptierte die Dinge, die ihm widerfuhren, nicht einfach so. Kamuy zog es vor, Geschehenisse hinzunehmen und stumm zu leiden. „Ich habe keinen Hunger “, antwortete er.
„Das glaube ich dir nicht.“ Sekk zog die Bauchdecke des Kaninchens auseinander, sodass kein Pelz mehr im Weg war, und riss mit den Zähnen ein großes Stück heraus, das er hastig hinunterschlang.
„Dann lass es.“ Der Wolf richtete seinen Blick wieder auf die Sonne. Der leichte Geruch von Blut und die Fressgeräusche seines kleinen Bruders störten ihn nicht. Er wollte wirklich nichts essen, dazu war er nicht in Stimmung. Er wollte nur, dass es so bald wie möglich vorbeiging. Als von dem Kaninchen, abgesehen von seinem Fell, nichts mehr übrig war, ließ Sekk sich wieder neben ihn fallen und warf einen prüfenden Blick auf die Baumkronen unterhalb der Klippe, auf der sie saßen. „Was das wohl sein wird… “, murmelte er.
„Wölfe “, antwortete Kamuy. „Und Kobolde.“
„Das habe ich auch gemerkt.“ Sekk rollte mit den Augen. „Aber warum so viele auf einmal? Und das so plötzlich? Wir hatten noch nie so viele Wachen auf einmal auf Posten.“
„Das stimmt. Es erinnert mich an die Zeit der letzten Schlacht. Und es beunruhigt mich.“ Es war wirklich außergewöhnlich, dass der Alpha so viele Grenzwachen einsetzte. Das bedeutete beinahe eine Verdoppelung der Posten. „Irgendwas kommt da. Bestimmt.“
„Ach.“ Sekk pulte sich ein Stück Knorpel aus den Zähnen. „Bisher sind wir noch mit allem fertig geworden.“
„Ja, das ist richtig. Mit allem bis auf eine Ausnahme.“ Kamuy warf einen weiteren prüfenden Blick auf den Sonnenstand. Es dauerte nicht mehr lange. „Wir werden es noch früh genug erfahren “, stellte er fest. Dann zog er es vor, schweigend zuzusehen, wie die Sonne Stück für Stück hinter dem Berg verschwand. Sein Herz klopfte so lächerlich laut, dass er sicher war, dass Sekk es hören musste. Er war es gewohnt, und doch immer noch so ängstlich. Er wollte es nicht, und das so sehr und mit jeder Faser seines Körpers. Sekk sprang wieder auf die Füße, als die Sonne fast nicht mehr zu sehen war, und wich einen Schritt zurück. Dann verschwand sie. Kamuy holte tief Luft und schloss die Augen. Es tat nicht weh – er wünschte, es würde weh tun, damit seine Angst wenigstens einen rationalen Grund hatte. Aber es fühlte sich seltsam an, wie seine Beine dicker und seine Zehen länger wurden, sein Körper sich veränderte, in seiner kompletten Form wandelte. Der Pelz verschwand und der Schwanz auch, seine Klauen schrumpften. Der Geruch nach Kaninchenblut verflüchtigte sich allmählich und die Dämmerung wurde zur Nacht. Es war vorüber. Kamuy öffnete die Augen und sah an sich herunter. Arme und Beine, gehüllt in eine dunkle Leinenhose, ein grobes graues Wams und einen schwerer lehmfarbener Umhang. Seine Hände steckten in ledernen Handschuhen und seine Füße in eisenbeschlagenen Stiefeln. Er schluckte, zog sich die Handschuhe aus und strich sich vorsichtig den wüsten Schopf silbergrauer Haare aus dem Gesicht, die ihm fast bis an die Schultern reichten und dicht waren wie der Pelz eines Wolfes. Der Vollmond hatte mal wieder offenbart, was aus ihm werden konnte, wenn er es wollte. Kamuy war einer der ganz wenigen Rakh oder Wandler, wie sie auch genannt wurden. Wann immer ein Wesen in einer Vollmondnacht geboren wurde und genau im gleichen Moment ein anderes Wesen starb, verbanden sich ihre Seelen zu einem eng verflochtenen Band mit enormen magischen Kräften. Die Neugeborenen erhielt die Fähigkeit, zwischen beiden Gestalten zu wechseln, mit Ausnahme zweier Tage im Zyklus des Mondes. Der Neumond zeigte ihre wahre Gestalt und der Vollmond das, was sie sein konnten. Kamuy war ein Rakhmensch. Er hasste es, sich zu verwandeln und hatte es nie absichtlich getan, aber an diesem einen Tag im Mondzyklus konnte er es nun mal nicht verhindern. Langsam ließ er sich absinken, legte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte in den Himmel.
„Vielleicht ist es ein anderes Rudel “, sagte Sekk auf einmal.
„Was meinst du?“, fragte Kamuy, nun ebenfalls in der Koboldsprache. Seine Stimme klang so ungewohnt, so fremd. Schließlich hörte er sie auch nicht sehr oft.
„In unserem Revier. Ein anderes Rudel. Die Wachposten.“
„Kann ich mir nicht vorstellen. Das am nächsten lebende Rudel ist das von Alpha Khann, und er hat schon einmal zu spüren bekommen, was es bedeutet, die Grenzen der Reviere zu missachten. Das wird er nicht noch mal tun.“
„Es wäre trotzdem die logischste Erklärung.“ Sekk erhob sich und verschwand im Gebüsch. Nach wenigen Augenblicken kehrte er mit einem Packen Totholz zurück zur Klippe, ließ es auf den Boden fallen und verschwand wieder, um noch eine Ladung zu bringen. Dann hockte er sich hin, schichtete kleine Zweige übereinander und schob Birkenrinde und trockene Blätter dazwischen, die leicht anzufackeln waren.
„Meinst du? Es könnten auch Wolfsjäger sein.“ Kamuy stand auf und kam zu Sekk herüber. Seine Bewegungen sahen ein wenig unbeholfen aus.
„Dann wäre mir ein Rudelkrieg aber um Einiges lieber.“ Sekk entzündete die Birke mit wenigen gezielten Hieben seines Feuersteins und beeilte sich dann, kleine Stöcke nachzulegen, um dem Feuer vorsichtig beim Wachsen zu helfen. Sekk beherrschte es gut, das Feuer. Schon als er kleiner war, begannen die Kobolde, ihn in dessen Geheimnisse einzuweihen, und er war ein fleißiger Schüler gewesen. Kamuy war nie ganz wohl dabei gewesen. Er hatte keine Angst davor, weil er Sekk vertraute, aber es bereitete ihm trotzdem ein flaues Gefühl im Magen. Feuer war so heiß, dass man nicht nah herangehen konnte, und fraß den Wald und die Bäume. Er fühlte sich noch schutzloser als Mensch durch die Tatsache, dass er ein Feuer brauchte, um nicht zu frieren, und dass er kaum etwas sehen, riechen oder hören konnte. Er konnte nur tasten. Durch den fehlenden Pelz war die Haut so empfindlich, dass man jede Einzelheit auf ihr spürte, sogar den leisesten Windhauch. Das war das einzige, was Kamuy an seinem menschlichen Körper mochte. Er starrte ins Feuer, das nun schon um Einiges größer war als vor ein paar Minuten. Sekk pustete sacht hinein, um es noch größer zu bekommen, und legte einen dicken Stock mittendrauf. „Die Kämpfe mit Alpha Khanns Rudel sind auch schon eine ganze Weile her, oder?“
Kamuy nickte. „Wir hatten uns gerade erst auf der Lichtung angesiedelt und waren dabei, uns mit den Kobolden zu arrangieren. Alpha Khanns Jäger haben die Grenzen, die wir völlig konform mit den Gesetzen markiert hatten, nicht beachtet, und rissen immer wieder Beute in unserem Revier. Du warst noch nicht bei uns. Es gab immer wieder Raufkämpfe zwischen den Jagdgruppen, wenn sie sich begegnet sind. Teilweise mit üblen Bissen und Verletzungen. Alpha Karor wusste nicht recht, was er tun sollte, es war schließlich erst kurz nach dem Tod meines Vaters und er hatte noch keine wirkliche Routine als Alpha. Aber als Alpha Khanns Späher Suule allein erwischt und schlimm verwundet haben, ist er sehr wütend geworden und hat alle losgeschickt, auch uns Jährlinge. In kleinen Gruppen sind wir über die Grenzen gewandert, haben uns zwischen Alpha Khanns Spähern durchgeschlichen und es geschafft, bis zu ihrem Lager zu gelangen. Dort waren nur er, seine Gefährtin, ein paar Jährlinge und ihre Welpen. Wir haben gedroht, sehr laut und sehr viel. Alpha Karor hat Alpha Khann Ehrlosigkeit vorgeworfen und Respektlosigkeit vor den Gesetzen der Wölfe. Es kam schließlich zum Zweikampf zwischen den Beiden. Der Sieger würde die beiden Rudel unter seiner Führerschaft vereinen.“
Sekk sah Kamuy gebannt an. „Und wer hat gewonnen?“
„Niemand. Es endete unentschieden. Sie haben sich müde gerauft, über mehrere Stunden hinweg, und sind dann vollkommen erschöpft nebeneinander zusammengebrochen.“ Kamuy rümpfte die Nase. „War doch auch besser so, oder? Könntest du es dir vorstellen, mit Alpha Khanns Wölfen als deinen Brüdern und Schwestern zu jagen und zu leben? Oder könntest du dir ein Leben unter Alpha Khanns Führerschaft vorstellen?“
Sekk schüttelte sich. „Du hast Recht, Bruder “, stellte er fest. Dabei war Alpha Khann weder von schlechtem Charakter noch ein schlechter Rudelführer. Es passte einfach nicht. Er und sein Rudel war – anders. Sie hatten eine andere Art zu jagen, eine andere Art zu leben, ihre Angelegenheiten zu regeln, Streitigkeiten auszutragen und ihre Welpen aufzuziehen. Die beiden Rudel lebten so nah beieinander, und doch waren sie so verschieden. Kamuy war bereits mehr als einmal mit ein paar von Alpha Khanns übermütigen jungen Jägern aneinandergeraten, wenn er im Grenzgebiet zu ihrem Revier unterwegs gewesen war. Es war nie zu mehr gekommen als zu halbgaren Beißereien, nichts weiter Tragisches, aber es zeigte, wie sehr sich die Rudel des Bergmassivs untereinander uneins waren. Obwohl sie alle Wölfe waren, sich an die gleichen Gesetze hielten und nach denselben Traditionen lebten, konnte man kein Rudel mit dem anderen vergleichen. Im Laufe der Jahrhunderte hatte es unzählige Rudelkriege gegeben, die oft auch blutig ausgegangen waren und viele Opfer gekostet hatten. Es war von Alpha zu Alpha verschieden, wie das Rudel sich verhielt und wie friedlich es war. Ein Wolf war frei, ein Wolf war unabhängig, davon war Kamuy überzeugt. Doch innerhalb des Rudels fügte jeder sich ein und besetzte genau den Platz, der ihm zugewiesen wurde und an dem er benötigt wurde. Das Rudel funktionierte durch gegenseitigen Respekt und Ehrerbietung denen gegenüber, die ihrem Rang Ehre brachten. Ein guter Alpha wusste das und richtete seine Führung danach aus.
Sekk warf noch ein Stück Holz ins Feuer. „Hast du das gehört?“
„Nein, was denn?“ Kamuy drehte den Kopf und horchte. Nichts.
„Ich glaube, das war Rhon. Er hat nach seinem Späherpartner gerufen. Sie müssen ganz in der Nähe sein.“ Sekk zuckte mit den Ohren. Er konnte sie fast so gut drehen wie ein Kobold. Kamuy wurde missmutig. Er fühlte sich wie taub und blind in diesem menschlichen Körper, kaum in der Lage, in der Dunkelheit etwas zu sehen oder zu hören. Alles, was er riechen konnte, war das Feuer. Ihm juckte die Nase davon und vom Rauch tränten seine Augen. Ein kurzer Blick auf den Mond sagte ihm, dass die Nacht erst knapp zur Hälfte vorüber war. Die Sonne würde erst in ein paar Stunden wieder aufgehen.
„Schau nicht so grimmig “, sagte Sekk. „Es dauert nicht mehr lange.“
„Aber noch lange genug.“
„Sag mal, Bruder “, begann Sekk dann. „Hast du eigentlich noch nie versucht, die Vorteile dieses Körpers auszunutzen?“
„Was denn bitte für Vorteile? Kaum fängt es an zu dämmern, sehe ich nichts mehr, ich rieche kaum etwas und höre schlechter als Ashgor. Ich kann keine langen Strecken zurücklegen, weil meine Beine zu schlottern anfangen, sobald ich über Steine laufe, ohne diese störenden Hüllen und ein Feuer würde ich in kühlen Nächten erfrieren und ich kann noch nicht einmal mehr die Sprache meiner Brüder und Schwestern verwenden.“
„Du malst das alles viel zu schwarz, Kamuy. Du kannst keine langen Strecken laufen, schlecht hören und sehen, weil du diesen Körper nicht trainierst, sondern immer nur auf den Vollmond wartest, dich auf diesen Felsvorsprung verziehst, die Nacht über hier herumsitzt und dich selbst bemitleidest. Ich bin beeindruckt davon, dass du überhaupt in der Lage bist, deine Arme und Beine zu verwenden, so selten, wie du sie benutzt.“
„Was würde es mir bringen?“
„Ein menschlicher Körper bringt schon ein paar Vorteile. Du kannst dich festhalten. Du kannst auf Bäume klettern und an Felswänden hinauf, du musst es nur üben. Du kannst Werkzeuge und Waffen verwenden, Feuer machen, andere Sprachen aussprechen als die der Wölfe, du könntest so viel. Aber du trainierst es einfach nicht. Es könnte dir so viel bringen.“
Kamuy schnaubte. Er hörte das von Sekk nicht zum ersten Mal. „Aber ich will es nicht, Sekk. Ich verabscheue diesen Körper.“
„Das ist Quatsch und das weißt du auch. Du verabscheust die Menschen, was ich verstehen kann. Ich verabscheue die Menschen ja auch. Aber das hier bist du. Du bist kein Mensch, Kamuy.“ Sekk sah ihn lange an. „Was bin ich?“, fragte er dann.
„Du bist ein Wolf. Und mein Bruder.“ Die Antwort fiel Kamuy nicht schwer.
„Ich bin ein Wolf “, bestätigte Sekk. „Habe ich einen Pelz? Habe ich Reißzähne? Oder einen Schwanz? Ich habe einen menschlichen Körper und bin trotzdem kein Mensch. Was ist an mir anders als an dir, außer, dass du die Wahl hast? Dieser Körper verschafft dir so viele Möglichkeiten, Bruder. Nutze sie doch endlich!“
Kamuy seufzte. „Du hast Recht… irgendwie. Aber ich kann es nicht.“
„Ich glaube, irgendwann wird der Tag kommen, wo du es können müssen wirst.“
Sekk hatte Recht, das wusste Kamuy. Irgendwann würde er vor seinem menschlichen Körper nicht mehr davonlaufen können. Aber bis es so weit war, hoffte Kamuy inständig, er würde niemals kommen.