Kurzgeschichte
Halbstark, wie man sieht

0
"Halbstark, wie man sieht"
Veröffentlicht am 25. April 2012, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Menschen tun Dinge an Orten aus Gründen.
Halbstark, wie man sieht

Halbstark, wie man sieht

Beschreibung

In der Tat habe ich den Text ein halbes Jahr geschrieben,bevor ich dann wirlich ausgezogen bin...

Seit ich vierzehn bin, plane ich meinen Auszug. Ich hatte schon damals eine genaue Vorstellung davon, wie meine Wohnung aussehen sollte, mit so riesigen Boxen, wie mein Vater sie hat, aus denen heraus dich der Sound von the Cure an die gegenüberliegende Wand katapultiert, einem alten, viel zu niedrig gebauten Sofa mit Batikdecken darauf und ausrangierten Bananenkisten als Alternative für einen Couchtisch. Während in meinem Kopf nach und nach neben so diffusen Einzelbeispielen wie die Farbe meiner Mikrowelle auch zentralere Aspekte eine Rolle zu spielen begannen, wurde ich immer sicherer. Nichts würde mich davon abhalten, dem mütterlichen Schoß, angereichert mit Seba-Med-Seife und Pumpernickel, sofort bei Antritt meiner gesetzlichen Volljährigkeit zu entfliehen. Ich stellte eine Liste mit Songs zusammen, die ich für meine Erzeugerin auf CD brennen und bei besagter Flucht hinterlassen würde. Ich stellte es mir unglaublich aufrüttelnd für sie vor. In meiner Vorstellung sah ich sie vor mir, völlig aufgelöst, mit reichlich schuldbewusster Miene vor einem CD-Player sitzend, der ihr den Klassiker "girls just wanna have fun" vorspielte, gefolgt von dem endgültig augenöffnenden Meilenstein "Rebell" von den Ärzten. Ich habe mich gefühlt wie eine alternativ angehauchte Lörelai Gilmore - nur, dass ich nicht schwanger war. Gott sei Dank, schließlich hatte  ich noch eine Wohnung einzurichten. Irgendwann wurden die Listen immer zahlreicher und länger. Von Haushaltsprognosen, Möbeln, die ich gerne hätte, über Preisvergleiche verschiedener Stadtviertel bis hin zu den Leuten, die ich zu meiner Einweihungsparty einladen wollte, neigte ich dazu, alles aufzuschreiben. Ich versteckte die Listen immer, so gut es ging, und Gott sei dank hat meine Mutter sie nie gefunden. Neben der ganzen Wohnungsplanerei klebten hier und da auch gerne mal Zettel mit Verwünschungen auf sie dazwischen. Durch den Gedanken, eines Tages auszuziehen, an dem ich mich wehemend festklammerte, wurde der Gedanke, Zuhause zu wohnen, für mich immer unattraktiver, was dazu führte, dass ich mich nicht mehr allzu oft dort blicken ließ. Wann immer ich es einrichten konnte, setzte ich mich in den nächsten Zug, der mich in die Stadt brachte. Weg von Kühen, weg von Dorfdisco, weg von arroganten Jungs auf klapprigen Mofas, weg von Leuten, dich anstarren wie einen Alien, nur, weil du aktuell eine andere Haarfarbe hast als die, mit der du geboren wurdest. Das zentralste Problem, das ich mit meinem Dorf habe, ist, dass da alle gleich aussehen. Die Frauen tragen Klamotten von Bon Prix, haben zwei Kinder dabei und ein drittes im Anmarsch, die Männer haben kurze Haare und dicke Schnäuzer, oder sie haben einfach gar keine Haare und dafür Bomberjacken und Springerstiefel. Die Jugendlichen haben entweder den typischen Kinder-vom-Land-Annorak-Style oder versuchen vergeblich, Monrose und Bushido zu kopieren. Die Omas tragen alle weiße Blusen und rosa Westen, dazu kurze, hochtoupierte Haare und Birkenstocksandalen. Opas gibt es scheinbar nicht. Sie sehen aus wie ein ganz fürchterlich schief gegangenes Klonexperiment, und zwar alle miteinander.
Ich hatte einfach genug davon. Auch, wenn ich es gewöhnt bin, in einem Dorf voller spießiger Eifler zu wohnen, ertrage ich es doch nur in angemessenen Dosen. Um dem gerecht zu werden, etablierte sich bei mir eine regelrechte Pendlermanie, und jedes Mal, wenn ich in mein Dorf zurückkehrte, hatte ich das Gefühl, mich in einem schlecht gemachten Heimatfilm zu befinden. Die Hauptstraße war wie leer gefegt, und zum High Noon trafen sich die afghanischen Jungs aus dem Asylbewerberheim mit den rechtsorientierten Jugendlichen aus dem Neubaugebiet zur allwöchendlichen Klopperei. Es hatte - das lässt sich jedoch nicht leugnen - immerhin einen gewissen Witz. Und irgendwie war so eine Prügelei auch ganz interessant, vor Allem, weil die blöden Möchtegern-Faschos, die so harte Männer waren, wirklich immer den Kürzeren zogen und hinterher angeknackst und mit blauen Augen heulend zu ihren politisch sehr ähnlich orientierten Eltern zurückkehrten, die den Kampf dann auf ihrer Ebene fortführten, als hielten sie die Reichsflagge in der Hand. Ich war in solchen Fällen einfach nur froh, mich mit der Gewissheit beweihräuchern zu können, niveaulich weit über diesen ganzen konservativen Deppen zu stehen. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet änderte sich zwar nie die Natur meiner Lage, aber wenigstens mein Bezug dazu, und es ist doch beruhigend, nicht zu dieser Gruppe aus Ingos, Jupps und Sandras zu gehören, die jeden Freitag kegeln gehen und einmal im Jahr ihren Schützenkönig küren. Inzwischen bin ich zwar achtzehn, streite mich immer noch täglich mit meiner Mutter, mein Zimmer liegt noch gegenüber von dem meines Bruders und meine Mikrowelle ist auch nicht olivgrün, aber das ist nicht so schlimm. Denn im Austausch dafür muss ich keine teuren Karten für Kabarettshows kaufen kaufen.
Und inzwischen mag ich sogar Pumpernickel.

http://www.mscdn.de/ms/karten/beschreibung_70651-0.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/beschreibung_70651-1.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_693515.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_693516.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_693517.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_693518.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_693519.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_693520.png
0

Hörbuch

Über den Autor

jimihurricane
Menschen tun Dinge an Orten aus Gründen.

Leser-Statistik
14

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
Zeige mehr Kommentare
10
0
0
Senden

70651
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung