Wie und als was wir geboren werden, können wir uns nicht aussuchen. Nur das, was wir daraus machen und wie wir damit umgehen. Kamuy, ein junger Wolf aus einem Rudel, das sich weit oben in einem Bergmassiv vor seinen Feinden versteckt, weiß das ebenfalls. Seine Gabe, die ihm mit der Geburt gechenkt wurde, ist für ihn eher ein Fluch, eine Krankheit, für die er sich schämt. Bis zu dem Tag, an dem das Schicksal von ihm verlangt, diesen Fluch zum Schutz seiner Liebsten einzusetzen. Nach und nach verstrickt er sich in ein wirres Geflecht aus Pflicht, Verlangen, Angst, Hass, Liebe und Freundschaft, aus dem er sich nicht mehr zu befreien vermag.
Die Tannen wiegten sich sanft im Wind, der ohne Pause über das gesamte Gebirge strich, Sommer wie Winter. Eine warme Brise zog über die Lichtung, auf der das Rudel seinen Unterschlupf hatte, brach sich an den steilen Felsen umher und kündete von einem reichen, warmen und langen Sommer. Hoch oben befand sie sich, zwischen zwei gewaltigen Bergen, gut versteckt an ihrem Fuße, verborgen von dichten Tannen, Felswänden, die kaum ein Tier zu erklettern vermochte, Büschen und den Tarnungen der Kobolde, die mit den Wölfen diesen Platz teilten. Die Lichtung befand sich so hoch oben in den Bergen, dass noch nie ein Mensch sie betreten hatte, solang das Rudel dort lebte. Im Rücken die beiden Felsklippen, die wie Hände zerklüftet und kalt aufragten, vor sich die verworrenen und gefährlichen Wälder, die sich über den ganzen Rest des Massivs bis fast zu seinen Ausläufern erstreckten, schienen sie sicher zu sein vor den Fallen der Menschen, ihren Waffen und ihrem Hass. Der Frühling ging gerade in den Sommer über und die Tage wurden allmählich lang und warm. Die Welpen dieses Jahres hatten bereits ihre Zähne und Stimmen und gewannen immer mehr an Kraft. In einer großen Gruppe tollten sie über die Wiese vor der Höhle, rauften sich gegenseitig und übten die Jagd und den Kampf. Ein paar Ältere, die faul auf den niedrigen Felsen lagen, sahen ihnen gelangweilt zu. In den Stunden des Nachmittags ruhten sie, um Kraft zu sammeln. Kraft für die Jagd am Abend, im Zwielicht, wenn die Augen ihrer Beute langsam versagten und sie müde und verletzbar wurde. Ein paar Jungwölfe, Welpen aus dem letzten Jahr, hockten oben am Rand der Felswände oberhalb der Lichtung und hinter den Bäumen an ihren Vordergrenzen. Bis ihre Zeit als Jäger gekommen war, dienten sie dem Rudel als Wachposten. Einer der Jungwölfe, die sich oberhalb der Felsen befanden, hob den Kopf und starrte gebannt in eine niedrige Tanne hinauf. „Sekk!“, rief er ungeduldig. „Siehst du ihn?“
In der Tanne raschelte es. Ein vernarbtes Bein kam zwischen den Ästen zum Vorschein, dem folgte ein ebenso vernarbter Oberkörper, bis schließlich ein Junge vor dem Jährling stand, mit rabenschwarzem, hoffnungslos verfilztem Haar und in nichts gekleidet als eine kurze, an den Säumen ausgefranste Leinenhose. Der Junge kratzte sich am Kopf. „Nichts “, gab er zurück. „Nichts Ungewöhnliches. Einhörner, Tannen, Eichhörnchen, Adler und die Berge.“ Er warf einen kurzen Blick auf den kleineren der beiden Gipfel vor ihm und maß den Abstand zur Sonne mit einem Finger. „Komm, Bocca “, sagte er dann. „Es ist Wachwechsel, und ich bin das Hocken in den Tannen leid.“ Er antwortete dem jungen Wolf in der Sprache der Kobolde, da sein Mund nicht in der Lage war, die knurrenden Laute der Wölfe gut genug nachzuahmen, dass er sich wirklich hätte verständlich machen können. Bocca ging voran, als sie die Klippen hinunterkletterten. Als sie auf der Hälfte auf ihre Ablösung trafen, zwei schmächtige braune Wölfinnen, kostete es ihn seine gesamte Konzentration, nicht abzustürzen. Als sie schließlich unten ankamen, war er fast ausser Atem, und ließ sich deshalb einfach nur neben Ashgor auf den Boden fallen, statt mit Bocca zusammen hinter den Welpen herzujagen. Ashgor drehte den Kopf, um ihn ansehen zu können, denn eines seiner Augen hatte er vor langer Zeit im Kampf gegen einen Menschen verloren. Sofort blickte Sekk auf den Boden. Ranghöhere Rudelmitglieder sah man nicht direkt in die Augen. Niemals. „Junge “, brachte Ashgor hervor und schnupperte kurz an Sekk. „Wo ist dein Bruder?“
„Ich weiss nicht “, gab Sekk zurück und hob den Blick bis auf Ashgors Hals. „Er ist heute sehr früh auf den Berg gestiegen. Wahrscheinlich will er allein sein. Morgen ist es wieder so weit.“
Der andere Wolf nickte. „Morgen ist es wieder so weit. Jetzt zum vierten Mal, seit die Welpen geboren sind. Dir ist klar, was das bedeutet?“
Sekk schluckte. „Natürlich.“ Ihm graute vor diesem Moment, jedes Jahr aufs Neue. Wenn die Welpen geboren wurden, erzählten ihre Eltern ihnen von den Menschen und der Gefahr, die von ihnen ausging. Kein Wolf lebte in diesem Rudel, der keine panische Angst vor ihnen hatte, und die Älteren, die schon gegen sie gekämpft hatten, wussten, dass diese Angst mehr als begründet war. Ebenso war es Sitte, den Welpen einen Tag vor dem vierten Neumond ihres Lebens die Geschichte der großen Schlachten zu erzählen, die die Wolfsrudel dieses Landes so weit hoch in die Berge getrieben hatten, und so weit weg von leichten Jagdrevieren, die nun den Bären und Füchsen gehörten. Ashgor stand auf und schüttelte seinen Pelz. Sofort hielten die Welpen inne in ihrem Spiel, auch Bocca blickte auf. Langsam kamen die Welpen zu ihm und sahen ihn mit großen Augen an. Er war der älteste Wolf des Rudels und hatte somit einen sehr hohen Rang. Ausgeschlossen von der Jagd und der Wache aufgrund seines Auges und altersschwachen Körpers trug er die Legenden der Wölfe weiter und war zuständig, den nachfolgenden Generationen alles beizubringen, was sie wissen mussten. Sanft blickte er in die Runde von großen, gespannten Kinderaugen, die ihn neugierig anstarrten. Da Welpen von der Rangordnung noch ausgeschlossen waren, mussten sie sich auch nicht an die ehrerbietenden Gesten halten. „Vier Monde sind seit euer aller Geburt verstrichen “, begann er. „Alt genug seid ihr also nun, die Geschichte der großen Schlachten zu erfahren.“ Er blickte einen nach dem anderen weise an. „Ihr alle kennt unseren größten Feind. Eure Eltern haben euch vor ihm gewarnt und euch klargemacht, wie gefährlich er ist. Wer kann mir seinen Namen sagen?“
„Mensch!“, riefen die Kleinen alle auf einmal. Natürlich kannten sie ihre Feinde. Ein Wolf ist vorsichtig.
„Der Mensch ist es, ganz genau.“ Ashgor schüttelte seinen Pelz und legte die Pfoten übereinander. Sekk tat es ihm nach und legte sich auf den Bauch. „Eure Eltern haben euch erzählt, dass die Menschen gefährlich sind und böse, und dass sie einen Wolf töten, wann immer sie die Gelegenheit dazu haben. Wann immer sie können, ermorden sie uns mit ihren Waffen, ohne die sie nicht sehr stark sind. Ich will euch heute erzählen, warum die Menschen das tun und warum sie uns Wölfe so sehr hassen.“
„Weil sie böse sind?“, vermutete ein besonders kleiner Welpe mit schwarzem Pelz.
„Fast, Mitola. Aber nicht ganz.“ Ashgor lächelte kurz und freudlos. „Die Menschen trachten uns nach dem Leben, weil sie Angst haben. Angst vor den Wölfen mehr als vor jedem anderen Tier, dass in diesen Bergen lebt. Sie fürchten uns, weil sie uns für Monster halten, die aus der Macht eines bösen Gottes entspringen. Sie halten uns für blutrünstige Bestien, die nur darauf aus sind, sie zu töten und zu fressen, und glauben, dass wir Spaß daran haben, die Menschen mit unseren Klauen und Fängen zu zerfetzen.“
„Aber warum denken sie das?“, fragte einer.
„Das wissen selbst wir nicht, mein Kleiner. Viele denken, weil wir in früherer Zeit, als wir noch mit den Menschen Tür an Höhle gelebt haben, in schlechten Zeiten ihr Vieh stahlen, oder weil wir uns zur Wehr setzten, als ein paar der Menschen uns wegen unserer Pelze gejagt haben. Aber diese Meinung teile ich nicht. Menschen haben Angst vor Allem, was sie nicht verstehen, und sie verstehen uns Wölfe nicht. und alles, vor dem sie Angst haben, das zerstören sie, um ihre Angst zu beruhigen. So geschah es auch damals, als die Großen Schlachten entbrannten. Wir lebten noch in den Ausläufern der Berge, wo das Wild nicht so schwer zu jagen war und die Winter nicht so kalt wurden. Teilweise konnten die Menschen in ihren Dörfern unser Jagdheulen hören und trafen uns auf ihren Streifzügen durch den Wald. Menschen und Wölfe hatten immer mehr oder weniger friedlich nebeneinander existieren können, ohne große Probleme. Doch eines Tages, es geschah unten bei den Dörfern am Fuß unserer beiden Berge, gerieten drei Wölfe aus einem anderen Rudel und ein paar Männer aus den Dörfern in einen Kampf um Wild. Einer der Wölfe und fünf der Menschen starben bei diesem Kampf. Aber es war nur der Auftakt für noch mehr Blutvergießen, denn die Menschen werteten diesen einen Kampf als Kriegserklärung gegen ihre gesamte Sippe. In den folgenden Jahren heuerten sie Jäger an, die sich auf Wölfe spezialisiert hatten, und stießen selbst in Teile des Gebirges vor, die sie vorher gemieden hatten. Gezielt suchten sie nach den einzelnen Rudeln, erschlugen und erschossen alte und junge Wölfe, selbst vor den Welpen machten sie nicht Halt. Als wir endgültig erkannten, dass sie uns alle töten wollten, war es bereits zu spät, und von den fast einhundert Rudeln waren nur noch dreißig übrig geblieben. Wir verbliebenen retteten uns in die Höhen des Gebirges, wo die Menschen uns nicht hin folgen können. Seitdem leben wir hier auf dieser Lichtung, zusammen mit den Kobolden und Einhörnern, die uns wohlwollend akzeptieren, obwohl der Platz sehr begrenzt ist, nun, da wir ihn uns teilen müssen. Gerade unser Rudel hat stark gelitten während der Großen Schlachten, die Menschen haben uns damals fast vollkommen ausgelöscht. Nur zehn Wölfe haben diesen Krieg überlebt.“
„Warst du damals dabei?“, wollte die kleine Mitola wissen.
„Natürlich, mein Kind “, antwortete Ashgor sanft. „Ich war acht Jahre alt zu Beginn der Schlachten, und mit meinem neunzehnten Lebensjahr endeten sie. Im letzten Kampf, den ich ausfochten musste, verlor ich mein Auge.“ Er drehte den Kopf so, dass alle Welpen das wulstige Loch in seinem Gesicht sehen konnten, über dem sich mit der Zeit narbige, fast pelzlose Haut gebildet hatte. „Ich bin nicht der einzige, der verstümmelt aus diesem Krieg hervorging. Viele Wölfe wurden unheilbar verletzt. Und viele starben.“
„Wie lange ist die letzte Schlacht her, bevor das Rudel hier hoch zog?“, fragte ein anderer.
„Etwas mehr als sechs Jahre. Die letzte Schlacht war vielleicht die tragischste überhaupt für das Rudel, denn sie bedeutete für alle einen großen Verlust. Für jeden aus dem Rudel, aber ganz besonders für Kamuy. Ihr alle kennt Kamuy, den Wolf mit der Feder, den grünen Augen und der langen Narbe im Gesicht.“
Die Welpen nickten.
„Er und seine Familie wurden während der Wanderung angegriffen und vom verbliebenen Rudel getrennt. Kamuys Vater Ram war damals unser Alpha. Er, seine Gefährtin Shanye und alle ihre Kinder wurden getötet, bis auf Kamuy, der schließlich entkommen konnte, verletzt und schwach, nachdem er hatte zusehen müssen, wie ein einzelner Mensch seine gesamte Familie ausgelöscht hatte. Er war noch ein Jungwolf, gerade ein Jahr alt, und somit noch nicht erfahren genug, seinem Vater als Alpha nachzufolgen. Karor übernahm die Führung, ihr kennt und schätzt ihn als Alpha alle miteinander.“
„Ist Kamuy deshalb immer so griesgrämig?“, wollte Mitola wissen.
„Was meinst du, meine Kleine?“, fragte Ashgor.
„Er ist immer nur grimmig und lächelt nie, hat nie für jemand ein nettes Wort übrig. Und meine große Schwester hat mir erzählt, dass er ihr als Gefährte versprochen war und es ausgeschlagen hat. Aber sie wollte mir nicht erzählen, warum. Ich habe ihn gefragt, aber er sagte nur, weil er krank sei, und wollte mir nicht mehr erzählen.“
Ashgor sah sie lange an. „Kamuy sollte der Gefährte deiner Schwester Suule werden, das ist wahr. Schon, um irgendwann seinen rechtmäßigen Platz als Alpha einzunehmen und deinem Vater nachzufolgen. Aber Kamuy besitzt eine besondere Fähigkeit, die ihn von allen anderen Wölfen unterscheidet. Er selber bezeichnet diese Fähigkeit als Krankheit, weil er sich dieser Fähigkeit schämt und sich wünscht, sie nicht zu besitzen. Aber es liegt nicht in meiner Rechenschaft, euch zu verraten, was diese Fähigkeit ist. Wenn die Zeit gekommen ist, wird er es euch allen zeigen.“ Ashgor blickte sich in der Runde um. „Kamuy ist wie wir alle gezeichnet von den großen Schlachten. Er vollbrachte das, was vor ihm noch nie ein Wolf gewagt hatte: Er griff den Menschen an, der bereits seine Eltern und seine 5 Geschwister, die allesamt noch Welpen waren, kaum größer als ihr jetzt, getötet hatte. Er hatte nicht den Hauch einer Chance gegen den Mann, weil er selber noch ein halber Welpe war, aber die Verzweiflung und der grausame Tod seiner Familie gab ihm die Kraft, gegen das Monster zu bestehen. Er schaffte es, sich in seiner Kehle zu verbeißen und ihn zu töten, wobei er selbst schwer verletzt wurde. Roo und Suule fanden ihn Tage danach, als er den Spuren des Rudels zu folgen versuchte. Sie brachten ihn auf die Lichtung, wo die Kobolde ihn verarzteten.“
Ashgor blinzelte. „Jetzt kennt ihr die Geschichte der Großen Schlachten. Was für Fragen habt ihr an mich?“
„Ashgor “, sagte Mitola vorsichtig, „mein Vater hat mir erzählt, wie gefährlich die Menschen sind, und du jetzt auch… Aber niemand hat mir erzählt, wie sie eigentlich aussehen und wie ich sie erkennen kann.“
Ein Raunen ging durch die Welpen. Anscheinend wusste es keiner von ihnen. Ashgor blickte zu Sekk hinüber. Der zuckte nur mit den Schultern und nickte kurz.
„Sie sind leicht zu erkennen “, fing Ashgor dann an. „Sie gehen auf zwei Beinen wie die Kobolde, aber haben anders als sie keinen durchgehenden Pelz. Ihr Körper ist nackt, Haare haben sie nur am Kopf, unter den Armen und zwischen den Beinen. Um nicht zu frieren, hüllen sie sich in Stoff und Pelze. Ihre Ohren sind rund, genau wie ihre Pupillen. Die Frauen tragen den Kopfpelz in der Regel lang, die Männer kurz. Ihr reiner Körper ist schwächer als der der meisten Tiere in diesen Bergen, aber durch die Waffen, die sie fertigen können, sind sie fast unbesiegbar, obwohl sie keine Magie wirken können.“ Ashgor hielt inne und blickte in die Runde. Die Welpen hatten sich alle nach Sekk umgedreht und starrten ihn sehr entsetzt an. Trotzig erwiderte er ihre Blicke. „Ashgor?“, fragten sie vollkommen verängstigt. „Ist Sekk ein Mensch?“
Der alte Wolf nickte.
„Warum lebt er dann bei uns? Warum tötet ihn niemand, wenn er ein so böses und blutrünstiges Wesen ist?“
Ashgor sah sie sehr streng an. „Hat Sekk auch nur einem von euch jemals Leid zugefügt? War er unredlich auch nur zu einem von euch, oder wisst ihr, dass er es einem anderen Wolf gegenüber war?“
Zögerlich schüttelten die Welpen die Köpfe. Sekk sah alle einen nach dem anderen an. „Mein Körper “, sagte er, „ist der eines Menschen. Das habt ihr richtig erkannt. Ich habe nackte Haut und laufe auf zwei Beinen wie ein Kobold, ebenso vermag ich die Sprache der Wölfe nicht mit meinem Mund zu formen. Aber trotzdem gehöre ich zu diesem Rudel genau wie ihr, ich wache mit euren Brüdern und Schwestern und jage mit euren Eltern. Es gibt niemanden in diesem Rudel, der etwas gegen mich vorzubringen hätte. Und bevor ihr nicht nach dem Gesetz fähig zum Zweikampf um die Ehre seid, würde ich euch raten, es auch nicht zu tun.“
Mitola sah ihn mit großen Augen an. „Warum bist du bei uns?“
„Ich war schon immer hier.“ Sekk sah sie lange an. „Seid ich mich erinnern kann, habe ich in diesem Rudel gelebt. Deine Tante Roo war es, die mich großgezogen hat. Und dein Vater, Alpha Karor, hat entschieden, mich in dieses Rudel aufzunehmen. Ich bin Mitglied deiner Familie, Cousine Mitola, falls du das schon wieder vergessen hast.“
„Wie könnte ich das vergessen, mein Vater hat es mir mehr als einmal erzählt.“
„Dein Cousin Sekk ist ein Wolf, Mitola “, meldete sich Ashgor wieder zu Wort. „Er ist ein Wolf in allem außer im Blute. Er dient diesem Rudel mit all seinen Kräften und hat noch nie gegen unsere Gesetze verstoßen, was ich beileibe nicht von allen Wölfen hier behaupten kann. Dass er den Körper eines Menschen hat, tut nichts zur Sache, denn er führte schon immer das Leben eines Wolfes, seit Roo ihn damals während der Unruhen als Baby in der Tiefe des Waldes fand und zu uns brachte. Und der beste Beweis dafür, dass Sekk zu uns gehört und nicht zu den Menschen, ist die Tatsache, dass Kamuy, der so viel Grund hat, alle Menschen zu hassen und alle, die aussehen wie Menschen, mit Sekk die Blutsbruderschaft einging. Ihr habt also keinen Grund, ihn anders zu behandeln als eure anderen Rudelgenossen.“ Ashgor sah kurz zu Sekk hinüber, der ein wenig betreten aussah. Jedes Jahr musste er die entsetzten Blicke der Welpen ertragen, als sie begriffen, dass er eigentlich ein Mensch war. Und dabei kannte er weder die Sitten der Menschen noch ihre Sprache. Seine Eltern waren einfach geflüchtet, als sie auf Roo getroffen waren, und hatten ihren Sohn liegen lassen, in der Hoffnung, sie würde ihnen nicht nachkommen, wenn sie mit dem Kind beschäftigt war. Für niemanden aus dem Rudel war begreiflich, wie Eltern so etwas tun konnten, am allerwenigsten Sekk. Er hasste die Menschen und seine Eltern mehr als alles Andere, doch würde er niemals das Paar, was ihn damals zurückließ, als Mutter und Vater bezeichnen. Seine Mutter war Roo, die struppige, dickköpfige Schwester von Alpha Karor, und so nannte er sie auch. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, sich selbst als Mensch zu bezeichnen.
Ein lautes Heulen kündigte die Jagd an, die nun, da es Abend wurde und langsam die Dämmerung eintrat, unmittelbar bevorstand. Sekk erhob sich und blickte sich um, wer gerufen hatte. Oben auf den Felsen stand Alpha Karor, der seinen Trupp zur Jagd rief. Um Sekk herum erhoben sich fünf andere erwachsene Wölfe und folgten ihm auf die Felsen. Sekk blickte sich suchend um. Kamuy war noch nicht zurückgekehrt. Er machte sich keine Sorgen, aber wundern tat er sich schon ein bisschen, da Kamuy es war, der eigentlich die heutige Jagd anführen sollte. Kopfschüttelnd folgte er dem Trupp die Felsen hoch, um seinerseits auf die Jagd zu gehen, jedoch nicht nach Beute, sondern nach seinem Bruder.
Es dämmerte. Langsam, aber sicher wanderte die Sonne in Richtung Berggipfel, um sich an den Fels zu schmiegen. So hoch in den Bergen kam die Nacht früh und kontinuierlich. Mit der Nacht dann die Kälte und mit der Kälte der Tod. Zumindest im Winter. Eine Fledermaus schoss über die Wipfel unter dem Massiv hinweg, auf dem Kamuy es sich halbwegs bequem gemacht hatte, und stieß zur Jagd hinab. Im Gegensatz zu ihm drückte sie sich nicht vor ihren Pflichten. Er hätte jetzt eigentlich auch auf der Jagd sein müssen, zusammen mit seinem kleinen Bruder und seinem Trupp. Stattdessen saß er hier oben und starrte auf die Sonne. Der Alpha würde ihn bestrafen, aber das war ihm egal. Morgen Nacht war es wieder soweit. Da war sich Kamuy vollkommen sicher. Und trotzdem konnte er nicht zurück zum Rudel, nicht jetzt. Und das aus bloßer Panik, er habe sich im Tag vertun können. Manchmal fragte er sich, ob er sich wirklich so sehr selbst hasste, wie er immer dachte. Er kam zu keinem Schluss. Er stellte es sich ziemlich schwierig vor, sich so ausführlich und über so langen Zeitraum hinweg selbst zu betrügen. Eigentlich unmöglich. Das schafften vielleicht die Menschen mit ihrer verlogenen Art, aber er… Mitten im Gedanken schien sein Kopf stehen zu bleiben. Wie immer, wenn er Wölfe mit Menschen verglich. Er konnte es immer noch nicht so richtig. Wahrscheinlich würde er es nie können. Jedenfalls nicht vor sich selbst. Es gab seines Wissens nach Niemanden, der die Menschen so sehr verachtete wie er. Feige, unreflektierte Kreaturen, die sich einen Dreck darum scherten, mit der Macht, die ihnen gegeben worden war, verantwortungsvoll und gerecht umzugehen. Hockten in ihren Häusern, die blind und taub für die Umwelt machten, und fürchteten sich vor der ganzen Welt, unzugänglich für die Tatsache, dass es die Welt war, die sich noch viel mehr vor ihnen fürchtete. Eine Wolke schob sich vor die Sonne und tauchte die Umgebung für kurze Zeit in dunkle Schatten, bevor sie die letzten Strahlen des Tages wieder freigab. Lange würde es nicht mehr dauern. Kamuy verschränkte die Pfoten vor der Brust und legte den Kopf darauf. Blinzelnd starrte er ins Licht. Es war er nächste Nacht so weit, da war er sich vollkommen sicher, aber trotzdem hatte er Angst. Angst davor, was diese Nächte aus ihm machten. Wie schwach und nutzlos er sich jedes Mal fühlte. Und wie sehr er es auch war. Er hatte schon so viel ausprobiert, um den Fluch zu verhindern, aber nichts hatte gewirkt. Keins der Kräuter, die die Gnome ihm angedreht hatten, kein Zauberspruch, kein Ort, an den er gehen konnte. Er konnte dem Fluch, seinem Schicksal, nicht entkommen. Dem Fluch, den Ashgor eine Gabe nannte. Der alte Narr. Leicht reden hatte er, wo er selbst sich nicht mit so etwas herumplagen musste. Ich könnte dasselbe behaupten, wenn ich nichts zu tun hätte als den lieben langen Tag auf dieser Lichtung herumzuliegen und den Welpen Geschichten zu erzählen, dachte Kamuy. Er würdigte den alten Ashgor und behandelte ihn immer mit dem Respekt, der seiner Stellung gebührte, war aber oft der Meinung, dass seine Geschichten der Rede nicht wert waren. Ashgor war vor seiner Verstümmelung ein großer Kämpfer und dem Rudel eine Bereicherung gewesen, keine Frage. Aber das lange Herumsitzen hatte ihn wunderlich gemacht, kein Zweifel. Die Sonne berührte jetzt den Kamm des Berges vor ihm. Kamuy schluckte. Er war so konzentriert auf die untergehende Sonne, dass er die Geräusche, die von dem Besucher kündeten, erst bemerkte, als dieser nur noch wenige Meter entfernt war. Langsam drehte er den Kopf, um zu sehen, wer da von hinten kam. Aber eigentlich wusste er es schon, und deshalb war er keineswegs verwundert, als Sekk seinen narbigen Körper aus dem Gebüsch drückte, zu ihm herüberkam, sich neben ihn an den Abgrund der Klippe setzte und die Beine baumeln ließ. Er betrachtete die untergehende Sonne, ohne etwas zu sagen. Sekk redete gerne und viel, aber er wusste auch, wann es klüger war zu schweigen. So saßen sie eine ganze Weile wortlos nebeneinander und sahen der Sonne beim Sinken zu. Kamuy brach die Stille, als sie zur Hälfte hinter dem Bergkamm verschwunden war. „Heute war der Tag, oder?“
„Der Tag der Geschichte von der großen Schlacht?“ Sekk nickte.
„Wie haben sie es aufgenommen?“
„Wie jede Welpengeneration vor ihnen auch. Schock und Missverständnis. Es wird sich bald legen.“
Kamuy drehte den Kopf und blickte Sekk in die Augen, das erste Mal, seit er gekommen war. „Wie fühlst du dich, kleiner Bruder?“
Sekk blickte zurück. „Mach dir keine Sorgen, Kamuy, ich bin es inzwischen doch gewohnt.“
„Kein Grund, dass es dich nicht trotzdem verletzt.“ Der Wolf senkte den Blick. „Ich sollte auch daran gewöhnt sein, schließlich erlebe ich es jeden Vollmond… und es tut jedes Mal aufs Neue weh, und auch jedes Mal gleich. Der Schmerz wird nicht weniger und geht auch nicht weg, egal, wie oft ich es erlebe. Man ist nur irgendwann in der Lage, es zu ertragen.“
„Sie werden dich bald fragen, denke ich. Ashgor hat von deiner Fähigkeit erzählt.“
„Ja, das dachte ich mir schon. Wenn es doch bereits heute Nacht so weit ist, bleibst du dann bei mir und wachst die Nacht mit mir durch?“
„Es ist erst morgen so weit, Bruder, ich habe nachgezählt. Und ich wache jedes Mal mit dir die Nacht durch, wenn es so weit ist. Ich lasse dich nicht im Stich, das weißt du doch.“
„Ja, das weiß ich, Bruder.“
Die Sonne versank hinter den Bergen. Die letzten Strahlen wärmten Kamuy noch eine kurze Weile den Pelz, bevor es dunkel wurde. Er hielt für ein paar Sekunden die Luft an und sah hoch zum fast vollen Mond. Es würde nicht passieren, das wusste er. Und trotzdem packte ihn wie jedes Mal die Angst.
Takkie hatte sich in die Krone eines kleinen Baumes verzogen und beobachtete die Wolfslichtung aus seinem Schutz heraus. Die Welpen, die wie jeden Tag übermütig über die Wiese tollten, gingen ihr gehörig auf die Nerven. Wie der alte Ashgor das immerzu ertragen konnte, war ihr ein Rätsel. Die Wolfskinder waren wie ein Sack Flöhe, sie konnten nicht still stehen und bereiteten ihr bei mehr als einer Gelegenheit einen juckenden Pelz. Immer laut, immer in Bewegung, ineinander verbissen oder übereinander fallend lärmten sie den lieben langen Tag und gönnten weder Takkie noch sonst einem anderen Nachtspäher seine wohlverdiente Tagesruhe. „Kinder sind halt so “, pflegte Karor, der Alpha der Wölfe, zu sagen, wenn sie mal wieder entnervt vor ihnen flüchtete, und lachte dann immer leise. Klar, das musste er sagen, wo er doch selbst der Vater von vieren dieser Lärmbündel war. Takkie kratzte sich am Kopf und lehnte sich gegen den Baumstamm. Dann schloss sie die Augen und versuchte zu dösen. Es klappte nicht wirklich. Sie wog kurz ab, ob sie sich Blätter in die Ohren stopfen sollte, verwarf es aber recht schnell wieder. Es war ja doch kein Kraut gewachsen gegen die jungen Wölfe, und da die Kobolde jetzt schon seit über sechs Jahren mit dem Rudel das Zuhause teilten, tat Takkie eigentlich auch besser daran, sich langsam mal damit abzufinden. Sie setzte sich auf ihrem Ast wieder auf und bog ein paar Blätter zur Seite, um einen besseren Blick auf die Lichtung zu haben. Abgesehen von dem übermütigen Knäuel Welpen waren nicht viele Wölfe da. Der alte Ashgor hockte an der gleichen Stelle wie immer, ein paar Jährlinge standen oben auf den Klippen über der Wolfshöhle und wachten über die nahen Wälder, weitere raschelten leise zu ihren Füßen im Unterholz. Die meisten Erwachsenen schliefen um diese Tageszeit noch, vor Allem diejenigen, die am Abend zuvor auf der Jagd oder auf Nachtwache gewesen waren. Auch von Karor war nichts zu sehen. Es wunderte Takkie nicht, dass er die gestrige Jagd hatte anführen müssen, um für Kamuy einzuspringen. Ihrer Meinung nach war es seine eigene Schuld, wenn er dumm genug war, Kamuy einen Abend vor Vollmond zur Jagd einzuteilen. Jeder wusste, dass er immer ein bis zwei Tage vorher verschwand und erst nach Vollmond zurückkehrte. Es blieb geheim, wohin er ging, und niemand war respektlos genug, ihm zu folgen. Er wollte allein sein, wenn es passierte. Nur sein Bruder durfte bei ihm sein. Dieses ungleiche Paar traf man ohnehin zumeist im Doppelpack. Sekk war einer der wenigen Wölfe, der es schaffte, dem sonst so grimmigen Zyniker ab und zu ein Lachen zu entlocken. Sekk kannte Kamuy besser als jeder andere Wolf oder Kobold, der auf dieser Lichtung lebte. Sogar besser als der Alpha. Aus dem Augenwinkel bemerkte Takkie einen Schatten, der sich in der Wolfshöhle bewegte, dann traten Roo, die Schwester des Alphas, und Suule, seine Tochter, heraus, sich suchend umsehend. Suule hielt die Nase in den Wind und schnüffelte. Dann schüttelte sie ihren weißen Pelz und trottete in Richtung der Baumnester der Kobolde, die sich ein kleines Stück entfernt von der Lichtung in einem Birkenhain befanden. Takkie rümpfte die Nase. Die beiden wirkten nervös. Nervös und ängstlich. Gerade der starrköpfigen Roo sah das ganz und gar nicht ähnlich. Sie verhielt sich stets wohlüberlegt, besonnen und ruhig. Jetzt wirkte sie eher, als wäre sie im Wald einem Menschen begegnet. Genau wie Suule, die sich nur äußerst vorsichtig bewegte und sich ständig umblickte. Roo blieb im Höhleneingang stehen, legte den Kopf in den Nacken und stieß einen lauten Heuler aus, lang und durchdringend. Der Wald um die Lichtung herum geriet in Aufruhr. Alle erwachsenen Wölfe, die sich nah genug befanden, um den Ruf zu hören, folgten ihm zur Lichtung. Auch Suule kam zurück zur Höhle, jetzt in Begleitung der Ältesten und ein paar Nachtspähern. Einer von ihnen sah sich um, entdeckte Takkie auf ihrem Ast und gab ihr ein Zeichen, zu ihnen zu kommen. Also rappelte sie sich auf, sprang vom Baum herunter und bahnte sich durch die Welpen, die jetzt still dasaßen und die beiden Wölfinnen skeptisch beobachteten, einen Weg zur Höhle. Auch Ashgor setzte sich in Bewegung. Das muss ja was wichtiges sein, dachte Takkie und bückte sich durch den niedrigen Eingang, um zu den anderen zu gelangen. Die Älteste der Kobolde saß auf einem kleinen Felsbrocken und sah betreten auf den Boden, während die anderen Nachtspäher wild gestikulierend miteinander redeten. Alpha Karor, seine Gefährtin Danya und seine Schwester Roo lagen schweigend nebeneinander zu ihren Füßen, während Suule im Höhleneingang stehengeblieben war, um die anderen Wölfe in Empfang zu nehmen. Im hinteren, von unzähligen Stalagtiten abgetrennten Bereich der Höhle regten sich träge die Ruhenden. Die Jüngeren verließen die Höhle nach und nach, während die Älteren sich zu dem Alpha und den Kobolden dazugesellten. Auch von der Lichtung stießen jetzt die restlichen Wölfe des Rudels dazu, deren Rang hoch genug war, um dem Rat beizuwohnen. Die Älteste zog ihre Kleidung zurecht und blickte zu Karor hinüber. „Wärst du nun so freundlich, mir den Grund dafür zu nennen, warum ich meinen Nachtspähern den wohlverdienten Schlaf raube?“ Sie war nicht begeistert von Suules Störung um diese Tageszeit, das konnte man genau sehen. Die Älteste war eine verbissene und zähe Person, die schon manche große Durststrecke in ihrem Leben zu bewältigen gehabt hatte. Wenn die Wölfe ein Problem hatten, bei dem sie Koboldhilfe brauchten, sollte es ihrer Meinung nach schon ein großes sein. Ihre Zeit ließ sie sich nicht nutzlos stehlen, auch nicht von Alpha Karor. Dieser ließ sein linkes Ohr wandern und vergewisserte sich, dass alle ihn hören konnten. „Ein Bote kam gestern am Abend. Wir trafen ihn, als wir von der Jagd zurückkehrten.“
„Wer hat ihn geschickt?“, fragte die Älteste.
„Das westliche Rudel. Wie ihr wisst, lagern sie nicht ganz so tief im Massiv wie wir, sie sind also um Einiges näher an den Menschen. Und sie haben einen Wanderer entdeckt.“
„Einen Wanderer?“, fragte Ashgor erstaunt. Karor nickte. „Einen Menschen. Eine Menschenfrau. Anscheinend kommt sie aus einem der südlichen Dörfer am Fuß des Zangenzahnberges. Erst bewegte sie sich nur am Rand des westlichen Reviers entlang, aber mit der Zeit wanderte sie immer weiter und immer tiefer ins das Massiv hinein. Sie verbringt mehrere Tage am Stück in den Wäldern, schläft in einem Tuch, dass sie in einen Baum hängt, und sucht nach Wolfsfährten, denen sie immer so lange folgt, bis sie die Wölfe findet. Allerdings hat sie bisher nie angegriffen, sondern ist immer mit erhobener Waffe geflüchtet. Trotzdem scheint sie die Konfrontation mit den Wölfen gezielt zu suchen.“
Ein Raunen ging durch die Anwesenden. Eine Jägerin? Eine Kundschafterin? Oder Kriegerin? All das konnte Takkie sich nur schwer vorstellen, wo diese Aufgaben bei den Menschen immer nur die Männer erledigen durften. Menschfrauen gingen nur den langweiligsten Beschäftigungen nach, wie Essen bereiten oder das Lager sauber halten. Und sie kümmerten sich um die Kinder. Aber auf der Jagd oder mit einer Waffe hatte Takkie bisher kaum eine Frau gesehen. Auch die Älteste schien das zu wundern. „Wie stark ist sie? Und wie gefährlich?“, wollte sie wissen.
„Das konnte der Bote nicht sagen, sie hat bisher keinem Wesen des Waldes einen Grund zum Kampf gegeben und ist bei Gefahr immer geflohen.“ Karor setzte sich auf. „Der westliche Alpha vermutet in ihr eine Späherin, die die Lager der Rudel finden will. Er hält sie für äußerst gefährlich.“
Einer der Späher legte sich die Hand auf die Brust zum Zeichen dafür, dass er um die Erlaubnis zu sprechen bat. Karor und die Älteste nickten ihm kurz zu. „Warum haben sie sie nicht getötet?“, wollte er wissen.
„Sie hat Niemandem bisher einen Anlass zur Gewalt geliefert, ist wie gesagt immer geflohen. Zwar mit erhobener Waffe, aber anscheinend nur, um sich zu verteidigen für den Fall, dass ihr Gegenüber angreifen würde.“
„Aber sie ist ein Mensch, das allein ist doch Gefahr genug!“, ereiferte sich der Nachtspäher. Ein paar Kobolde und Wölfe stimmten ihm raunend zu. Karor sah ihn lange an. „Menschen töten Wölfe, weil sie Wölfe sind “, war alles, was er darauf entgegnete. Er wandte sich zur Ältesten um. „Wir werden ab sofort die Wachen verstärken und auf ein größeres Gebiet aufteilen “, verkündete er. „Können wir auf eure Unterstützung setzen?“
Die Älteste nickte. „Das ist mir nicht geheuer. Menschenfrauen tun so etwas normalerweise nicht. Die Menschen haben eine klare Aufgabenverteilung nach Geschlecht in ihren Dörfern und durch den Wald wandern und Wölfe mit Waffen zu bedrohen gehört normalerweise nicht zu den Handlungen, die eine junge Frau ausübt. Vor Allem nicht so hoch im Bergmassiv. Von den Dörfern am Fuß des Zangenzahnberges dauert es zwei Tage, in das Gebiet des westlichen Rudels vorzudringen. Dass diese Frau die Strapazen und Gefahren eines solchen Marsches auf sich nimmt, zeugt von einem starken Herzen. Wir sollten uns alle vor ihr in Acht nehmen.“
„Könnte es eine Wolfsjägerin sein?“, fragte Ashgor.
„Der Bote hat sie nicht so beschrieben “, entgegnete Danya.
„Und was ist, wenn sie sich gar nicht für uns interessiert?“, brachte Rhon an, nachdem er die Erlaubnis zu sprechen erhalten hatte. Er war, wie Kamuy auch, einer der Jagdführer und damit von recht hohem Rang. „Wenn es eine Kräuterfrau ist, die in den Bergen nach Pflanzen für ihre Hexereien sucht?“
Takkie musste kichern. Nichtswissender Wolf.
„Es gibt keine Kräuter im Gebiet des westlichen Rudels, mit deren Kraft man auch nur einen Stein versetzen könnte. Und Kräuterkundige wissen das auch.“ Die Älteste sah Rhon lange an. „Und selbst, wenn es so wäre. Eine Kräuterfrau ist keine Hexe.“
Rhon schüttelte den Kopf, sodass sein brauner Pelz wellenartig um seinen Hals schlabberte, und sah zu Boden. Er war halt ein Jäger. Man muss ja schließlich nicht von Allem Ahnung haben, dachte Takkie sich. Sie sah zur Ältesten hinüber. Die nickte ihr nach einer Weile zu. „Wann wird die Frau unsere Gebiete erreicht haben?“, wollte sie wissen.
„Das ist unklar “, antwortete Danya. In zwei Tagen, in zwei Wochen, vielleicht dreht sie auch wieder um und kehrt in ihr Dorf zurück, um nie wiederzukommen. Niemand kann das einschätzen.“
„Älteste “, wandte Takkie sich an ihr Volksoberhaupt. „was ist zu tun?“
Die Älteste sah sie lange an, ohne etwas zu sagen. Sie blinzelte. „Voller Tatendrang wie immer, kleine Takkie. Du kennst die Menschen gut, besser als die meisten anderen von uns. Was denkst du? Geht von der Frau eine Gefahr aus?“
„Das kann ich nicht sagen, solange ich ihre Absichten nicht kenne.“ Takkie rümpfte die Nase. „Aber solange wir sie nicht durchschauen können, müssen wir vom schlimmsten ausgehen. Sie könnte eine harmlose, verwirrte Kräuterfrau sein und ebenso eine gut getarnte, blutrünstige Wolfsjägerin.“
Die Älteste nickte. „Das ist auch meine Einschätzung. Takkie, nimm deine Nachtspäher und zieh aus. Findet die Frau so bald wie möglich und findet heraus, was sie vorhat.“
„Ihr alle genauso “, wandte Karor sich an die Wölfe. „Wer gestern Nacht nicht auf Jagd oder Streife war, zieht heute los. Sprecht euch mit den Nachtspähern ab und teilt das Revier auf. Wenn ihr auf die Frau trefft, bleibt im Unterholz. Sie darf euch nicht sehen, sonst wird sie euch angreifen. Ihr müsst herausfinden, was sie vorhat. Das Wohl des Rudels hängt davon ab.“
Die Wölfe ließen leise Knurrer hören. Sie alle waren erpicht darauf, das Rudel und ihre Welpen zu beschützen. Takkie wartete auf das Zeichen von der Ältesten und Alpha Karor, das sie aus der Höhle entließ. Rasch trat sie dann zurück auf die Lichtung, wo sich ihre Nachtspäher nach und nach um sie versammelten und sie erwartend ansahen. Rhon, Suule und noch einige andere Wölfe stießen ebenfalls zu den Kobolden. „Der Alpha sagte, du sollst die Koordinierung der Spähtrupps übernehmen “, sagte Rhon zu Takkie. „Auch die unserer.“ Er sah damit nicht vollständig zufrieden aus. So leicht die Wölfe sich auch in die Hierarchie ihrer Rudel einfügten, so unnahbar waren sie allen anderen gegenüber. Also ruckte sie nur kurz mit dem Kopf zum Zeichen, dass sie Rhon verstanden hatte, und verschränkte die Arme. Eine Weile überlegte sie schweigend und überflog die Anzahl derer, die vor ihr standen. „Wir brauchen flächendeckende, dauerhafte Wachposten “, sagte sie dann. „Um das zu gewährleisten, müssen wir die gesamte Grenze besetzt halten.“ Sie hob einen Stock vom Boden auf, kratzte einen Umriss in die Erde und bestückte sie mit diversen Kreuzen. „Zwei Späher pro Punkt, Wechsel immer bei Sonnenaufgang. Achtet darauf, die ganze Zeit verborgen zu bleiben, besonders ihr Wölfe. Sobald die Frau entdeckt wird, bleibt der Eine bei ihr, um sie zu beobachten und der Andere kehrt hierher zurück, um Bericht zu erstatten.“ Sie blickte in Richtung ihrer Artgenossen. „Wir übernehmen ab sofort. Wechsel im Morgengrauen.“
Die Stille war Takkie nicht ganz geheuer. Sie und der Nachtspäher Kohal hatten ihren Posten vor ein paar Stunden bezogen. Keine Spur von einem Menschen, geschweige denn von irgendeinem anderen Wesen. Die meisten kleineren Tiere mieden die Reviere der Wolfsrudel, wo sie konnten, um nicht als Beute zu enden, und auch die anderen Waldbewohner sah man nicht häufig. Gnome kamen vereinzelt in die Nähe der Lichtung, manchmal auch ein Irrlicht oder eine Fee. Die Einhörner würden erst nach dem nächsten Neumond zurückkehren, wenn ihre Fohlen geschickt genug waren, sich zwischen den dichten Wurzeln mit ihren staksigen Beinen zurechtzufinden. Takkie drehte ihre Ohren ein wenig. Nichts. Kohal lauschte ebenfalls und schien zu demselben Schluss zu kommen wie sie. Eine Weile sah er sie an, dann fixierte er mit den Augen die untergehende Sonne. „Heute Nacht ist Vollmond “, stellte er fest.
Takkie seufzte. „Heute Nacht ist Vollmond “, bestätigte sie. „Wahrscheinlich ist es besser so. Kamuy hätte die Neuigkeiten nicht besonders gut aufgenommen.“ Es ändert sich allerdings auch nichts dadurch, dass er sie einen Tag später erfährt. Kaum ein Wesen, das sie kannte, hatte so viel Leid durch Menschenhand erfahren müssen wie Kamuy, nicht mal sie selbst. Die Zeit, die sie bei den Menschen verbracht hatte, war lang, mühsam und voller Strapazen gewesen. Und so entwürdigend. Die Zauberkräfte eines Koboldes waren heilig und rein, und sie hatte sie so lange damit entweihen müssen, als Marionette eines alten Gauklers in den verdreckten Straßen der großen Städte den Passanten für ein paar Münzen Späße zu bereiten. Wäre er nicht eines Nachts geschwächt vom Alkohol in einer dunklen Gasse erfroren, wäre sie heute vielleicht immer noch bei ihm, um den Schnaps für ihn zu verdienen. Aber sie hatte zu ihrer Familie zurückkehren können. Kamuy konnte zu niemandem zurückkehren und genauso niemand zu ihm. Der Mensch hatte sie alle vernichtet, und ihn beinahe auch. Wahrscheinlich lächelte er deswegen so selten. Wahrscheinlich auch nicht. Takkie vermochte es nicht zu sagen. Niemand wusste, was wirklich in ihm vorging. Er schien es vorzuziehen, einsam und missmutig zu sein. Sogar Suule als Gefährtin hatte er ausgeschlagen, obwohl ihm das die Führerschaft des Rudels garantiert hätte, die rechtmäßig sein hätte sein müssen. Suule, die ihn aufrichtig liebte. So sehr er seine Gefühle auch verbarg, konnte Takkie doch sehen, dass er sie auch mochte. Fast so sehr, wie er sich selbst hasste. Der Konturen des Vollmondes schimmerten durch eine graue Wolke, angestrahlt vom letzten Licht der Sonne, die hinter den Bergen verschwand. Dann war es dunkel. Takkie seufzte. Es war so weit. Armer, einsamer grauer Wolf.