Kapitel 9 - Free Loulu!
Wir Katzen haben einen großen Vorteil. Nein, eigentlich haben wir hunderte große Vorteile, sind anderen Spezies haushoch überlegen, aber viel zu bescheiden, um das ständig öffentlich breit zu treten. Der Vorteil, den ich meine, bezieht sich auf unseren Schlafrhythmus, denn so etwas haben wir einfach nicht. Wir können am helllichten Tage in uns zusammen sinken, eine kuschelweiche Ecke vorausgesetzt und stundenlang dösen. Oder ohne Probleme die ganze Nacht über auf Entdeckungstour gehen. Wir sind da wirklich flexibel, sind an keine Uhr oder Tageszeit gebunden.
Es sollte also an mir sein, Loulu, die Haus-Perserkatze der Lärches heraus zu locken aus ihrem vermeintlichen Zuhause. Was eignete sich da besser, als die Nacht? Um ehrlich zu sein, eigentlich war es fast egal. Mein Fell ist so weiß, dass ich selbst vor der gleißend grellen Fassade der Villa noch als heller Fleck erscheine. Man würde mich also selbst in dunkelster Nacht problemlos ausmachen können, wie ein flauschiges, kleines Gespenst, besonders wenn der Mond in voller Pracht stand. Zudem war Loulu zwar – na, sagen wir, etwas sehr verstört, vielleicht sogar komplett verrückt – aber nicht blind. Ganz im Gegenteil. So musste sie mich schon entdeckt haben, als ich noch mit anmutiger Eleganz durch die Hecken schlängelte. Ich gab mir allerdings auch nicht die geringste Mühe, unauffällig zu sein, wozu auch? Sie sollte mich ja sehen, sollte in ihre gewohnte Routine verfallen. Na, Sie wissen schon, das Theaterstück in vier Akten. Auch wenn sie sich den Letzten, das Finale (nach hinten umschauen und auf den helfenden Mensch warten) wohl sparen würde. Es war ja Nacht, und Lärches schliefen tief und fest. Hoffentlich würde es auch so bleiben.
Schon als ich mit einem gewohnt lässigen Sprung auf der Mülltonne neben dem Fenster landete, glühten Loulus Augen vor Wut. „Wie konnte dieser - zugegeben umwerfende - Kater es wagen, meine Menschen nachts stören zu wollen?" Man konnte ihre Gedanken förmlich in großen Lettern direkt auf ihrer Stirn lesen. Eine Frau halt, muss man da mehr sagen? Dann sprang ich weiter auf das Fensterbrett. Ah, Margaret hatte es nach meinem Besuch am Mittag wieder klinisch rein gewienert, sehr gut. Schade nur, dass der Regen an diesem Tag aus geblieben war, und ich mich davor noch einer ausgiebigen Körperpflege hingegeben hatte. Ãœberall. Bei einem Date, auch wenn dieses vermutlich kein klassisches war, musste man nun mal auf alles Mögliche vorbereitet sein. Blieb nur zu hoffen, dass ich auf dem Weg hier her zumindest so viel Dreck hatte aufsammeln können, dass Frau Lärche morgen Grund hatte, feuerrot anzulaufen, beim Blick auf ihr Fensterbrett. Aber Gründe dazu würde sie am morgigen Tag wohl noch öfter haben, wenn alles glatt ging.
Loulu hatte sich wieder in Position gebracht, spulte ihr besagtes Theaterstück „Böse Hauskatze“ ab: Fauchen, Krallen zeigen, Zähne fletschen. Nur alles um einiges leiser als noch am Tage, denn sie wusste aus einprägsamer Erfahrung, dass Lärches nachts aus dem Schlaf zu holen, eine ganz, ganz schlechte Idee war. Da mich das Stück in letzter Zeit nicht mehr sonderlich beeindruckte, das Skript war eigentlich toll, aber die abwechslungsarme Inszenierung ließ einen spätestens nach der dritten Aufführung kalt, schenkte ich ihrem Treiben keine Beachtung mehr und sprang auf das nächste Fensterbrett.
Die Küche. Leer und verlassen. Egal was dort heute gekocht worden war, es hatte keine Chance gehabt, lange im Raum zu verweilen: Jeglicher Essensgeruch, der durch das gekippte Fenster hätte noch nach draußen strömen können, war durch eine nachmittägliche Putzorgie abgetötet worden. Nein, eine echte Küche sah anders aus, zumindest hatte sie mit denen, die ich früher gesehen, geliebt und beklaut hatte, nicht das geringste gemein. In der Zwischenzeit musste auch Loulu begriffen haben, dass ich jetzt an einer anderen Stelle saß, und kam lautlos durch die Tür gestürzt. Also, weiter zum Fenster Nummer drei – das Schlafzimmer.
Lärches waren sehr eigenartig. Ja, das dürfte mittlerweile wohl eine nachgewiesene Tatsache sein, wir haben ja nun oft genug darauf hingewiesen. So schliefen sie zum Beispiel immer, egal zu welcher Jahreszeit, mit offenem, weit, weit offenem Fenster. Nur an ganz wenigen Tagen, wenn die Temperatur zu tief unter Null sank, ließen sie es nur gekippt. Aber in dieser Nacht war die Luft angenehm, fast behaglich schon. Die Sonne hatte am Tage ganze Arbeit geleistet und den Hof aufgeheizt, welcher die Wärme nun nach und nach wieder abgab. Somit war auch diese Grundvoraussetzung zum Gelingen meines, unseres, genialen Planes gegeben: ein offenes Fenster. Und wie befürchtet, eine geschlossene Tür. So sehr vertrauten sie also der Hauskatze doch nicht, um das Risiko einzugehen, dass sie Nachts hätte entwischen können. Das war ein Problem. Ein kleines. Aber es forderte den ganzen Kater in mir, alle Instinkte und Vorteile, die uns Samtpfoten in die Wiege gelegt worden waren.
Die Katze war mittlerweile etwas schneller geworden in ihrer Reaktion, verfolgte meinen Weg, und wusste daher, dass ich am offenen Schlafzimmerfenster saß. Was sollte sie nun tun? Wie den weißen Kater dort weg bekommen, ohne ihre Menschen zu wecken? Ich konnte hören, wie sie vorsichtig versuchte, die Tür zu öffnen, in dem sie die Krallen unter den Türschlitz streckte, um sie an sich heran zu ziehen. Keine Chance, süße Loulu, Menschen sichern ihr Gebiet mit Schlössern und Klinken. Und du bist einfach nicht schlau genug, eine Solche herunter zu drücken. Ich aber schon.
Nun galt es, einen möglichst geräuschlosen Weg hinein zu finden. Praktischerweise stand direkt unter dem Fenster ein kleiner Hocker, auf dem Margaret fein säuberlich ihre Sachen abgelegt hatte, für den nächsten Morgen. Das lange Kleid war geometrisch korrekt zu einem Quadrat gefalten, die Unterwäsche in ein geblümtes Stoffbäutelchen verpackt, damit sie im Schlafzimmer nicht offen herum lag – das Liebesleben der Lärches muss ähnlich aufregend wie die Fernseh-Dauer-Kochshow gewesen sein, die zur Mittagszeit immer in der Küche nebenher lief. Himmel, was für Spießer. Ich sprang also vorsichtig auf den Hocker – und schuppste beim anschließenden eleganten Hopser auf den Boden das Unterwäsche-Bäutelchen herunter. Verdammt! Das geblümte Unding plumpste mit einem leichten Rascheln auf die Erde, doch noch bevor es dort auf traf, hatte ich mich schon ans Fußende des Bettes gekauert, und versucht, mich so unsichtbar wie möglich zu machen. Was bei meiner Körperfülle – aber das ist ein anderes Thema.
Vom Bett kam ein Knetern, einer der beiden Schläfer musste wohl munter geworden sein, wenn auch nur flüchtig, wie ich hoffte. Er, oder sie, drehte sich hörbar um, was weiteres Knarren verursachte, und meine These zum lärchschem Liebesleben nur noch weiter unterstützte. Wenn schon so eine kleine Bewegung dermaßen Krach machte, was musste dann... bevor ich mir selbst Bilder in den Kopf implizieren konnte, die ich dann wohl wochenlang nicht wieder hinaus bekommen würde, schob ich meinen Gedanken einen Riegel vor und konzentrierte mich auf meine Aufgabe. Es dauerte ein kleines Weilchen, bis im Schlafgemach wieder die gewohnte Ruhe eingekehrt war, und ich es wagen konnte, weiter zu machen. An der Wand gegenüber des Bettes hatte man einen ausladenden Schminktisch platziert. Er nahm fast die gesamte Fläche ein, und reichte bis an die Tür heran. Ideal, von dort oben sollte es ein Leichtes sein, die Klinke zu drücken, um Loulu herein zu lassen.
Leise schlich ich mich an ihn heran - nicht das zu befürchten war, er hätte plötzlich davon laufen können, aber das Leise-Anschleichen ist etwas, was wir Katzen unablässig üben müssen, um es nicht zu verlernen, und das war eine prima Gelegenheit dazu. Mit einem lautlosem Sprung wuchtete ich meinen Körper nach oben - auf die leider extrem glatt polierte Holzplatte. Ich merkte, wie meine Füße keinen Halt fanden, fuhr blitzartig die Krallen aus, die sich sogleich in das Edelholz bohrten und hässlich kratzende Geräusche verursachten, zog mich mit aller Kraft nach oben und verschmolz Augenblicke später mit der weißen Wand dahinter, indem ich mich auf den Zehenspitzen an sie presste. Ein weiteres kurzes Knetern gefolgt von einem Rascheln und einem leichten Säufzer war zu hören aus Richtung Bett. Noch immer hielt ich den Atem an und wartete. Nichts. Weiter nichts. Da würde wohl auch nicht mehr kommen als nichts, Lärches schliefen wieder tief und fest.
Das wäre für mein Ego und die Katzenehre sehr schlecht gewesen, so kurz vorm Ziel zu stehen und dort kläglich an einem Mahagoni-Möbel zu scheitern, welches ich jetzt mit recht hübschen Schnitzereien versehen hatte. Mein Glück nur, dass auf dem Schminktisch keinerlei Schminkutensielen verteilt waren, die ich hätte bei der Aktion durch den Raum schießen können. Wozu auch, Margaret schminkte sich generell nicht, das Ding war wahrscheinlich ein Erbstück, was nie benutzt wurde. Aber es hatte einen Spiegel. Ich liebe Spiegel! Menschen denken immer, Katzen sehen darin einen Rivalen oder einen Artgenossen. Quatsch, wir sehen uns! In dem Moment also mich, und ich sah verdammt gut aus! Für mein Alter. Ich sah ebenfalls, dass einer der Lärches, der Größe nach musste es wohl sie gewesen sein, beim Umdrehen einen Fuß freigelegt hatte, der nun heraus schaute und bleich schimmerte. Das nächtliche Mondlicht hatte schon weit Schöneres enthüllt. Aber nun erst einmal leise zur Tür, viel Zeit durfte ich mir nicht mehr lassen.
Loulu war nicht die Schlaueste, wie ich ja schon öfter erwähnte. Sie hätte vermutlich bis an ihr Lebensende an der Türunterseite kratzen können, um diese zur Küche hin aufzuziehen, denn als ich die Klinke vorsichtig und leise nach unten drückte und sich der Riegel aus dem Schloss löste, schwang sie ein kleines Stück weit auf. Aber nach innen, nicht nach außen. Gut, das musste reichen, den Rest sollte sie allein hinbekommen. Ich sprang flink wieder zu Boden, und postierte mich in Fensternähe. Da der Schminktisch unten offen war, also nur auf vier Beinen stand, konnte ich sehen, wie sich eine kleine graue Nase durch die Tür schob, gefolgt von einem großen, ebenfalls grauen Kopf und zwei betörenden Augen. Die mich böse und ängstlich zugleich anblinzelten. Nun stand sie in der Tür, sah zum Bett hinauf, dann zu mir, wieder zum Bett, zu mir, Bett – und rang mit sich, was sie tun sollte. Auf mich einstürzen und zerfleischen, was die Menschen geweckt hätte, oder mich so leise wie es ging aus dem Zimmer jagen. Sie entschied sich vorerst für Variante drei: unschlüssig dastehen und den Rückzug planen. Nein, so ging das nicht, sie musste hinter mir her rennen, mich wütend verfolgen. Aber da war ja noch Margarets Fuß! Genau neben mir. Auch aus der Nähe kein schöner Anblick. Ich fuhr die Krallen aus, hob die Pfote immer näher an Ihn heran und grinste dabei die Katzendame an, deren Augen wieder zu glimmen begannen. Dann holte ich aus, und bevor ich Margaret eine äußerst schmerzliche und langlebige Fußverletzung zufügen konnte, rannte Loulu schon auf mich los.
Sofort sprang ich auf den Hocker - wenn ich das Täschchen nicht vorhin schon sanft zu Boden befördert hätte, wäre es jetzt im hohen Bogen durch den Raum geflogen - von dort auf die Fensterbank, sah mich flink um und in die rasenden Augen von Loulu, die nur wenige Perserhaarlängen hinter mir war. Sehr gut, also weiter nach außen auf das Fensterbrett, warten … warten und Absprung, in die Nacht hinein.
Timing spielt bei solchen Aktionen immer eine große Rolle und meines war schon immer perfekt gewesen. So sah ich noch aus dem Augenwinkel die Katzendame hinter mir her hechten, wobei sie den gleichen Satz aus dem Fenster hinaus machte wie ich, und eine Schwanzlänge hinter mir aufkam. Plötzlich hielt sie inne, sah sich total verdutzt um und bemerkte wohl erst jetzt, das sie einen großen Fehler begangen hatte. Der Hass in ihren Augen war augenblicklich gewichen, und tiefe Angst machte sich darin breit. Zeit für den letzten Teil meines Plans. Bevor sie zur Besinnung kommen konnte, um gleich darauf laut vor dem Fenster nach ihren Menschen zu mauzten, machte ich einen Satz auf sie zu, leckte ihr ein mal quer über das Maul, was einem flüchtigen aber herzhaftem Kuss gleich kam, und rannte davon, bevor sie auch nur die Pfote heben konnte. Einen Moment später war alle Angst in ihr verflogen, hatte einer rasenden Empörung Platz gemacht. Sie hastete wieder wie angestochen hinter mir her. Hinein in das Dickicht, und direkt auf den großen alten Baum zu, wo Josephine schon auf uns wartete.