„Komm, Ralf! Sei keine Spaßbremse!“, grölten einer. „Komm, du schaffst das!“
„Angsthase!“, brüllte ein anderer.
Ralf stand vor dem großen Mausoleum, doch obwohl er nicht zittere, war ihm nicht gut. Er hatte Friedhöfe noch nie gemocht, aber das wollte er sich nicht anmerken lassen. Einer seiner neuen Freunde hatte vorgeschlagen, hier abzuhängen. Natürlich sahen sie auch die Chance, dass Ralf endlich seine Mutprobe bestand. Er sollte ins alte Mausoleum einbrechen und ihnen einen Knochen mitbringen. Ralf wusste, wie blöd diese Aufgabe war. Um ehrlich zu sein, würde er am Liebsten umdrehen und weglaufen. Aber er machte es nicht.
Er hatte mehr Angst, geschnitten zu werden, so wie früher. Manche Menschen konnten dich einfach nicht leiden, wenn du hin und wieder etwas besser wusstest.
Langsam ging er auf die schwere Steintüre zu. Er schluckte. Es kostete ihn viel Überwindung, die Hand auf den Marmor zu legen. Erst als er ihn berührte, bemerkte er die seltsamen Symbole, die darin eingraviert waren. Er trat einen Schritt nach vorne, um die Zeichen zu inspizieren, doch der leichte Druck, den er dadurch auf die Tür ausübte, genügte, damit der Öffnungsmechanismus in Bewegung sprang.
Ralf wich zurück. Hinter ihm ertönte Gelächter und die Blicke der anderen bohrten sich in seinen Rücken, doch sie kümmerten ihn nicht. Vorsichtig setzte er den ersten Fuß über die Schwelle. Er konnte schwören, dass der Boden nass war, denn wenn immer er einen Schritt tat, so hörte er ein Platschen, dass von den Wänden widerhallte.
Je weiter er in das Mausoleum vordrang, desto unsicherer fühlte er sich. "Es ist keiner hier. Nur du. Du bist allein.", redete er sich stets selbst ein, doch es schien nicht wirklich zu helfen.
Als er den ersten steinernen Sarg erreichte, lagen seine Nerven blank. Mit zittrigen Händen stemmte er sich gegen
den schweren Deckel und machte sich darauf gefasst, einer Leiche gegenüberzustehen, aber als sich die Marmorplatte endlich in Bewegung setzte, war die Totenkiste leer.
"Hier ist niemand, Leute! Nur eine große, inhaltslose Box!",schrie Ralf, um den anderen Bescheid zu geben, bevor er sich umwandte.
In der Zwischenzeit schien es noch dünkler geworden zu sein. Ralf konnte nicht einmal die Hand vor Augen sehen und so hastete in die Richtung, aus der er gekommen war. Erleichtert wollte er nach der Türe greifen, doch seine Finger fanden nur kahlen, glatten Stein, an dem sie haltlos abrutschten. Panisch tastete
er die Mauer ab, doch seine Suche blieb aussichtslos. Wimmernd drückte er wahllos gegen die Wand in der Hoffnung, einen Mechanismus auszulösen, doch es rührte sich nichts.
"Willst du uns schon wieder verlassen? Wie schade!", krächtzte es hinter ihm. Noch bevor er sich umdrehen konnte, packte ihn eine knochige Hand am Hals. "Dabei war die Zeit mit dir so lustig!", hauchte es gegen seine Haut, als etwas raues, trockenes bis zu seinem Ohr rauf leckte. Kalte, spitze Zähne kratzten an seinem Fleisch und er spürte, wie sein Blut aus den Wunden quoll.
Schlotternd wartete Ralf auf den Biss, doch der kam nicht.
"Tut mir Leid, Kleiner!", schnarrte es wieder. "Ich genieße meine Drinks lieber tot."
Ralf konnte noch das Knacken seiner eigenen Knochen hören, dann wurde die Welt schwarz.