Kapitel 8 - Wir brauchen einen Plan!
Ich hatte wirklich schon viel gesehen in den vier Jahren, die ich die Welt nun schon mit meiner Anwesenheit beglückte. Von alltäglichen, kleinen Wundern wie den Sonnenaufgang über der Weide hinter meinem Bauernhof, bis zu weltuntergangsähnlichen Überschwemmungen, mit denen der Fluss im letzten Sommer der Stadt eine naturgewaltige Lehre erteilte. Ich habe Menschen gesehen, die Nachts im Park zur Arterhaltung beitrugen und bin mit himmelverdunkelnden Kranichschwärmen gezogen, bis sie den Hafen und die Stadtgrenze erreicht hatten. All das waren unglaubliche Momente, erhebend, beängstigend, verstörend und überwältigend. Als Josephine aber an diesem Tag die schwere Holztür zu ihrem Haus öffnete, um mir einen kurzen Blick hinein zu gewähren, war es, als ob all diese Emotionen mit einem mal gebündelt auf mich einströmen würden.
„Komm ruhig näher, Elis“, sagte sie, während ich verunsichert auf dem Rand einer hohen Keramikvase saß, die neben der Tür stand. Diese beheimatete noch gnädigerweise ein paar verdorrte Sonnenblumen vom letzten Jahr, so lange bis es frischen Nachschub geben würde.
Das innere des Holzhauses war relativ dunkel, was auch daran lag, dass es auf der Hofseite keine Fenster gab, die der Frühlingssonne hätten Einlass gewähren können. Dennoch sah ich deutlich eine andere Lichtquelle darinnen, von der ein warmes, orangefarbenes Licht aus ging. Sie verlieh dem Raum eine mystische Stimmung, erhellte nur gerade so viel, dass man grobe Umrisse erkennen konnte. Und, was das erstaunlichste war, schien vom Baum selbst zu kommen. Mehr allerdings war von meinem jetzigen Sitzplatz nicht zu erkennen. Auch wenn nun das gefräßige Tier in mir, was sich Neugier nannte, vor Aufregung zu sabbern begann, war ich mir nicht ganz sicher, wirklich sehen zu wollen, was dort drinnen darauf wartete, entdeckt zu werden. Josephine hatte wohl mein Zögern bemerkt, kam herüber und streckte mir die linke Hand entgegen.
„Pass auf, du setzt dich einfach darauf und ich bringe dich hinein. Keine Angst, du bist absolut sicher, es gibt dort nichts, wovor du dich fürchten müsstest.“ So etwas sagt sich leicht, klar.
Gerade als Spatz einem Menschen so zu vertrauen, dass man freiwillig auf dessen Hand Platz nimmt und sich umher tragen lässt, da gehört mehr dazu, als ein paar beteuernde Worte. Josephine hatte mehr. Sie hatte zwei strahlend grüne Augen, die unmissverständlich genau das Selbe zu sagen schienen, wie ihr Mund, als wären sie gar nicht fähig zu lügen. Nur einen Moment später fand ich mich auf ihrer Hand wieder, wobei meine Krallen sich vorsichtig an ihrem Zeigefinger fest klammerten. Je näher wir der Tür kamen und dem orangen Licht aus dem Inneren, desto ruhiger wurde ich. Friedlich, erfüllt von einer seltsamen Gelassenheit. Die Welt schien sich mehr und mehr zu verändern die Farben wurden kräftiger, das Grün des alten Baumes strahlend, als ob ein Maler jedes Blatt noch einmal zusätzlich nachkoloriert hätte. Plötzlich sah ich ein Bild vor meinem innerem Auge, ganz flüchtig, wobei alles rings um mich herum kurz dunkel wurde. Lenni, meine Schwester. Sie saß auf der alten Vogeltränke, welche im Möhrenfeld des Bauernhofes stand und alberte mit Fries herum. Ein schönes Pärchen. Mussten sie auch sein, schließlich hatte ich sie ja zusammen gebracht.
Es war ein Herbsttag und ich wusste genau welcher. An diesem Tag starb mein Vater, verschwand im Maul der alten Hofkatze, die es eigentlich auf Lenni abgesehen hatte. Auch wenn das Bild nur einen Augenblick vor mir zu schweben schien, das Fenster in die Vergangenheit nur kurz geöffnet wurde, wusste ich genau, dass es nicht meine Erinnerung war, die ich dort sah. Denn an dem Tag, zu jener schicksalhaften Stunde, saßen nur drei Spatzen auf der Tränke. Das glückliche Pärchen und mein Vater. Es waren nicht meine Erinnerungen, sondern seine, die ich sah.
Dann war alles wieder verschwunden und ich befand mich im Inneren der Hütte. Es war hier wärmer als draußen, duftete nach frischen Blumen, Tee und Holz. Aber da war noch etwas, ein Geruch den ich nicht kannte, schwach aber sehr seltsam, angenehm und doch rätselhaft. Noch irritierender war dieses eigenartige Licht. Es kam direkt vom Baum, daran bestand kein Zweifel mehr.
„Er ist verletzt. Eine Wunde, die er jetzt schon viele Jahre mit sich herum trägt. Wird wohl noch mal genauso lang dauern, bis sie endlich verheilt ist.“ Josephine schien meine Frage erahnt zu haben und gab mir freundlicherweise direkt eine Antwort darauf, ohne dass ich sie stellen musste.
Man konnte deutlich erkennen, dass jemand versucht haben musste, den Baum zu fällen. Zwar hatte er sich über die Zeit redlich Mühe, die Wunde zu schließen, aber es klaffte trotzdem noch ein Spalt, so groß, dass sich bequem eine kleine Spatzenfamilie samt Kindern und Großeltern darin hätte einnisten können, in seiner Außenhaut. Im Inneren pulsierte das orangene Licht, welches immer heller wurde, je näher man heran trat. Es war, als ob unter der harten Rinde ein Strom von tausend glühenden Fäden verlaufen würde, die alle zur Krone hinauf führten. Plötzlich wurde mir klar, warum es auf dieser Seite der Hütte keine Fenster gab. Josephine wollte mit Sicherheit vermeiden, das jemand sah, was diesen Baum so besonders machte. Des Menschen Neugier kann zerstörerisch sein, sie töten nur allzu gern das, was sie erforschen wollen, um es in Ruhe studieren zu können. Würde bekannt werden, dass hier ein Baum stand, in dessen Eingeweiden ein gewaltiger Strom aus Licht fließt, wäre sein Schicksal schon besiegelt, sobald das Geheimnis den Hof verlassen hätte. Doch was war geschehen, woher kam diese Verletzung?
„Wer...", begann ich, doch dann schoss wieder ein Bild durch meinen Kopf. Nein, jetzt war es sogar mehr als nur das, dauerte einige Augenblicke länger.
Durch wessen Augen ich dieses Mal sah, konnte ich nicht feststellen. Den Baum zumindest erkannte ich auf Anhieb wieder, er hatte schon seine jetztige Größe und Pracht und es musste wohl ein heißer Frühsommertag gewesen sein. Vom Innenhof war allerdings weit und breit keine Spur, die Szenerie spielte sich stattdessen auf einer großen Wiese ab, die geradezu überflutet war von abermillionen leuchtend gelber Löwenzahnblüten. Weiter hinten, gerade noch über dem leichten Hügel hinweg erkennbar, befand sich ein Dorf, dessen weiße Kirchturmspitze in den ausnahmslos blauen Himmel hinein ragte. Am Horizont war schließlich das Meer auszumachen, und der Fluss, der darin mündete. Eindeutig, es war die Stadt, oder besser, sie würde es einmal werden. Das alles musste ein halbes Jahrtausend her sein, wie konnte der Baum in dieser Zeit um keinen Tag altern?
Der, dem diese Erinnerungen gehört hatten, trug eine Axt bei sich. Durch seine Augen konnte ich die kräftigen Unterarme sehen, und die Beine, die sich den Weg durch das hohe Gras bahnten. Dort, im Schatten des Blätterdaches, standen schon zwei andere, junge Männer, einer davon ebenfalls mit einer Axt bewaffnet. Sie winkten mir zu - und schon war der Spuk wieder vorbei.
„Der Baum hat seine ganz eigene Art zu antworten, wie du siehst“, kam Josephines ruhige Stimme von hinten. „Solltest aber erst einmal nicht zu nah heran gehen, kann nicht sagen, was er dir alles zeigen würde und will.“
An diesem Tag zumindest sollte es das Letzte bleiben, was er mir mit zu teilen hatte. Als Sie die Tür in die Welt nach draußen wieder öffnete und sich frisches, gleißendes Sonnenlicht in den Raum ergoss, hatte ich noch einige Augenblicke Zeit, um das Innere der Hütte näher in Augenschein zu nehmen. Tatsächlich hatte Josephine, oder wer auch immer ihr dabei geholfen haben mag, das Haus direkt um den Baum herum gebaut. Der Fußboden war sauber und mit Holzdielen ausgelegt. Nur in der Mitte war ein kreisrundes Loch ausgespart worden, dort wo der Baum sich aus der Erde erhob und sich durch das Dach in den Himmel erstreckte. Rings um ihn herum wuchs hüfthoch Gras, immer wieder gesprenkelt von Blumen und Farnen, wie ein kleiner Urwald mitten im steten Halbschatten. Biologisch eigentlich unmöglich, Pflanzen brauchen Licht um zu wachsen, viel Licht sogar, und Wasser. Diese Tatsache schien sie aber nicht weiter zu stören, ihnen genügte der schwache, orangene Schimmer scheinbar vollkommen, der von der klaffenden Wunde ausging.
Auch die Innenwände des Hauses bestanden aus Holz, waren aber nachträglich weiß gestrichen worden. Davon sah man allerdings nicht mehr viel, denn sie hingen voll mit Bildern, alten Briefen, Zeichnungen und Haushaltsgeräten. Obwohl die Hütte vollgestopft war mit allerlei Kram, wirkte sie nicht unaufgeräumt oder gar schmutzig. Alles schien seinen angestammten Platz zu haben, genau dort und nur dort hin zu gehören, schon immer und bis in alle Ewigkeit.
„Josi!“ Ferdis tiefe stimme riss mich aus meinen Gedanken. Scheinbar waren er und die Spatzendame zurück gekehrt, wo immer sie auch gewesen sein mochten. Dass sie keine guten Neuigkeiten mitbrachten, konnte ich wenig später unmissverständlich in Lia´s Gesicht lesen. Sie blickte uns stumm an, als ich, auf Josis Hand sitzend, wieder ins Freie getragen wurde. Kurz hatte sich einen Anflug von Eifersucht auf ihrem Gesicht breit gemacht, zumindest schien es so, war aber dann schnell einem kleinen Lächeln gewichen. Wie sie dort auf dem Tisch saß, in Licht getaucht, ihr braunes Gefieder glänzend wie Ferdis Fell...
„Wir brauchen einen Plan“ - dieses mal war sie es, die mich aus den Gedanken riss, was in dem Moment vielleicht besser war, als sie noch länger wie von Sinnen anzustarren.
„Ja, einen Plan, richtig“, griff Ferdi auf, „und zwar schnell. Diese verfluchten Lärches gehen in die Offensive“
„Sie haben schon die Nachbarn gefragt, haben sich nach dir erkundigt, Josi“,
jetzt wieder die Spätzin, wirklich ein gutes Team die beiden, das musste man ihnen lassen.
„Ich weiß. Jonas hat die große Dürre vor die Tür gesetzt, sogar recht unsanft, wie ich gehört habe. Werd ihm als Dankeschön morgen einen frischen Strauß Blumen vorbei bringen, die hat er sich verdient“, sagte Josi mit einem verschmitztem Lächeln auf den Lippen.
„Ja, aber, das löst noch nicht das Problem! Sie werden versuchen dich vom Hof zu bekommen. Mit aller Macht, das hat der Anzugträger wohl mehr als deutlich gemacht“, legte Ferdi energisch nach.
„Das können wir nicht verhindern. Was willst du dagegen machen, ihm den Weg versperren, oder die Haustür zunageln?“
Langsam verlor ich den Faden, den ich vermutlich noch gar nicht richtig aufgenommen hatte, weshalb ich endlich auch mal meine Stimme erhob.
„Was haben sie denn vor? Was stört sie denn an dem Hof, und an dir?“
Anstatt Josi antwortete aber Lia, indem sie erstaunlich treffend abwechselnd Herr und Frau Lärche imitierte.
„Um es zusammen zu fassen: ´Die Kinder brauchen Platz zum Spielen´, ´der Baum nimmt der Wohnung das Sonnenlicht´, ´wo kommen wir denn da hin, wenn jemand auf dem Hof wohnt, ohne Miete zu bezahlen´, ´die Kinder haben Angst vor ihr, sagen sie wär eine Hexe´ - ja, all so was halt. Gequirlter Mist, das wissen wir ja, und bisher harmlos.“
„Richtig, Kleines, bisher! Nun nicht mehr, nun wechseln sie die Strategie von kleinen Sticheleien und Böswilligkeiten zur nächst höheren Gewalt. Darum brauchen wir einen Plan!“ vervollständigte Ferdi wieder.
Er wurde immer ungeduldiger, die weißen Schnurbarthaare vibrierten regelrecht vor Aufregung, der erhoffte Plan durfte also nicht mehr allzu lang auf sich warten lassen, sonnst würde der Kater vermutlich in einem lauten Knall platzen.
Plötzlich hatte ich eine Idee. Das passiert selten, zumindest selten so plötzlich, aber irgendwie herrschte seit langem mal wieder erstaunliche Klarheit in meinem Kopf, nachdem ich in der Hütte war, den Baum gesehen hatte, das Heiligtum, welches Josi hier vor der Außenwelt verbarg.
„Wir treiben sie auseinander. Wie viele sind es?“
Alle sahen mich verdutzt an, als ob ich wirres Zeug reden würde. Das passierte mir in letzter Zeit irgendwie recht oft.
„Ich kann dir zwar nicht folgen, kleiner Taubenschreck“, grinste mich Ferdi an, „aber es sind fünf. Sie ist eine verklemmte Furie, er ein verstockter Anzugträger, der gern mit Geld wedelt. Dann ist da noch die Tochter, eine Rebellin, intelligent aber leider auch in der Pubertät. Der Sohn dagegen ist so gut wie unsichtbar, still, in sich gekehrt, vier Jahre jünger als seine Schwester. Zu guter Letzt, Loulu die bedauernswerte Hauskatze. Armes Tier, hübsch, aber verstört und fanatisch auf den Menschen geprägt. Eine wirklich gute Mischung, oder?“
„Also fünf. Gut. Drei davon müssen wir auf unsere Seite bekommen. Wenn wir die Mehrheit der Familie überzeugen können, dass es falsch ist, sogar ein schrecklicher Fehler, dieses Paradies zu zerstören, haben wir gewonnen.“ Ich war begeistert von meiner Idee, zumindest ein paar Augenblicke lang, bis Josephine das Wort ergriff
„Das ist etwas blauäugig, Elis. Kann mir nicht vor stellen, dass gerade die Lärches auf ihre Kinder hören würden, oder gar auf die Katze. Sie haben sich etwas in den Kopf gesetzt, und werden es durchziehen.“ Sie verstummte, und schien noch einmal nachzudenken, über das, was ich vorgeschlagen hatte.
Es war fast so, als würde sie mit jemanden Zwiesprache halten. In diesem Moment sah sie alt aus, wirklich alt, und zerbrechlich. Man merkte, wie der Mut aus ihr heraus strömte und eine leere Hülle zurück ließ, die sich kampflos ihrem Schicksal ergeben wollte. Dann aber sah sie auf, und die Jahre waren plötzlich wieder verflogen.
„Aber du hast Recht, es ist fast alles, was wir gerade dagegen tun können. Einen wirksameren Plan haben wir nicht, also versuchen wir es einfach. Besser als nichts zu tun, ist es allemal.“ Da war es wieder, das Leuchten in den grünen Augen. Ihre Wangen hatten wieder Farbe bekommen und sie sah forschend zu Ferdi und Lia hinüber.
„Nun gut“, entgegnete der Kater etwas skeptisch drein blickend. „Er kam zwar nicht von mir, aber ich muss zugeben, ein guter Plan, fürs Erste. Oder zumindest ein Anfang.“ Auch er versank kurz in Gedanken, um aber gleich darauf wieder aufzutauchen. „Dann wollen wir mal. Ich würde sagen, jeder übernimmt einen Lärche. Lia, du solltest dich mit Joanna beschäftigen, ich übernehme die hübsche, aber verstörte Loulu, und du, Elis, wirst den kleinen Schweigerling Mark aus der Reserve locken. Unser Ziel ist es, sie zu Josi zu führen, genau hier her, also seid einfallsreich und verschlagen, meine Freunde!“
Irgendwie klang das nach „Männer, an die Riemen, wir entern das Schiff!“ und da der Plan auf meinem Mist gewachsen war, konnte es eigentlich nur gut gehen. Oder total daneben. Aber wie Josi schon sagte, was Besseres hatten wir nicht, und da uns die Zeit davon rannte, musste das genügen. Dennoch dauerte es bis spät in den Abend, bis wir die Strategie so verfeinert hatten, dass wir zum Angriff blasen konnten. Morgen würde erst mein zweiter Tag auf dem Hof anbrechen, und schon war ich Teil einer Geschichte, bei der es letztendlich um mehr gehen sollte als nur um Josephine oder den Baum den sie beschützte. Um weit mehr sogar.