Romane & Erzählungen
Hyperborea. Die Stadt der zukunft - 1.5. Himmlische Wende. Theodizee

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"Hyperborea. Die Stadt der zukunft - 1.5. Himmlische Wende. Theodizee"
Veröffentlicht am 05. April 2012, 18 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Hyperborea. Die Stadt der zukunft - 1.5. Himmlische Wende. Theodizee

Hyperborea. Die Stadt der zukunft - 1.5. Himmlische Wende. Theodizee

Beschreibung

Das gesamte erste Kapitel findet ihr auch hier: http://hyperborea-roman.blogspot.de/ Dort sind viele Sätze zur Pointierung und besseren Übersucht in kursiv, was jedoch beim Kopieren nicht übertragen wurde. Die Absätze wurden auch irgendwie merkwürdig hinein kopiert.

1.5. Himmlische Wende. Theodizee

Vor mir stand eine Kathedrale. Eine der schönsten und bekanntesten in ganz Europa. 

Laut meinem Vater zumindest. Sie war noch ziemlich gut erhalten, wenn man den Rest der Stadt betrachtete. Die Schneedecke über ihr machte sie noch schöner. Sie schien selbst in der Dunkelheit der Nacht zu leuchten. Mein Alkoholpegel, der zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich an seiner Kapazitätsgrenze war, war es vermutlich auch, der den Eindruck, den sie machte, zusätzlich verstärkte. Vielleicht waren es auch Verzweiflung und Perspektivlosigkeit, die meinen Sinnen ein Wunder vortäuschen wollten. Mein Vater liebte dieses Gebäude. Er schwärmte von der architektonischen Meisterleistung, die ihr Erbauer leistete, und die sakrale Atmosphäre, die das Gebäude im Inneren vermittelte. Er war sehr gläubig und erzog uns auch so. Der Katholizismus erlebte im letzten Jahrhundert eine Renaissance und verdrängte den Protestantismus, sowie das orthodoxe Christentum fast vollständig. Viele Menschen suchten nach dem globalen Wirtschaftskollaps neuen Halt, welchen sie im Katholizismus zu finden glaubten, was dieser Religion zusätzlichen Auftrieb gab. Das russische Reich nutzte diese erneute Popularität, erklärte eine verzerrte Version des ursprünglichen Katholizismus zur Staatsreligion und förderte die Verbreitung bis in den asiatischen Raum, nicht selten mit militärischer Gewalt, was jedoch auch schon viele früheren Unterstützer der katholischen Kirche getan hatten.

 

Ich beschloss meinem Vater die letzte Ehre zu erweisen und ihn in dem Gebäude zu bestatten, das er am meisten liebte. Ich brachte seinen Leichnam in die Kathedrale und legte ihn auf dem Altar ab. Dann weinte Ich ein letztes mal um ihn und um meinen Bruder, der in diesem Moment ein paar Kilometer weiter zwischen allen Menschen, die mir je etwas bedeutet haben und den Todesengeln der Höllendynastie der Dessens, die das alles zu verantworten hatten, verrotten würde. Sie waren alle tot. All die Trauer, die durch das Prozium im Kampf und den vermeintlich letzten Hoffnungsschimmer, nämlich dass wenigstens mein Vater überleben würde, unterdrückt wurde, kam jetzt auf einmal in mir hoch, wie das kochende Wasser aus einem Geysir. Ich war ganz unten angelangt, nur ein Klopfen vor dem Höllentor entfernt. Betrunken, obdachlos, arm, verletzt, Vollwaise und vor allem hoffnungslos. Für das erste bist du selbst verantwortlich. Und nun stieg auch mein Hass hoch. Hass gegen alles. Gegen das Dessens-Regime, gegen ihre gefügigen Häscher, die sie durch das ganze Land schickten, gegen die Ungerechtigkeit der Welt und selbst gegen Gott, der dies alles zuließ. Meine Tränen flossen mir das Gesicht herunter und dann auf den toten Körper meines Vaters. Ich kniete vor ihm und flehte Gott an, ihn wieder lebendig zu machen. Das Innenleben der Kathedrale verstärkte die Lautstärke meines Schluchzens und Klagens um das dreifache. Erst dadurch wurde die Trauer, die ich empfand wirklich deutlich. Die Szene glich einem heidnischen Opferritual. Ich versuchte vergeblich mich an alle schönen Dinge zu erinnern, die wir erlebt hatten, während sich die ganze Umwelt, die ich wahrnahm alkoholbedingt drehte und die Verzweiflung mein ganzes Erinnerungsvermögen blockierte. Mir wurde für einen Moment schwarz vor Augen. Dann Stille. Doch ich trauerte immer noch. Nach ein paar Minuten war es vorbei, doch ich fühlte mich nicht besser.

 

Ich sah nach rechts und erblickte die Tür zum Raum mit dem Beichtstuhl. Ob sie unabgeschlossen ist? Nein. Sie war offen. Ich wusste nicht, warum ich hinein ging. Irgendetwas zog mich an. Es war schon Jahre her, seit meiner letzten Beichte. Wahrscheinlich war es auch schon Jahre her, seitdem dieser Beichtstuhl die letzte Beichte empfing. Wir beide waren also kompatibel. Trostlos und im Begriff zu zerfallen. Mein Vater war strikt gegen das Beichten. Wir sollten uns nicht vor einer Zwischeninstanz bekennen, keiner weltlichen Kirche, die vom Staat kontrolliert wird und zum Instrument seiner Informationsbeschaffung umfunktioniert wurde, sondern direkt vor Gott. Er verachtete den russischen Katholizismus, der nach seiner Ansicht nichts mit dem ursprünglichen Katholizismus und noch weniger mit dem Christentum zu tun hatte. Das Schuldbekenntnis sei keine Angelegenheit von Dritten. Als Kind tat ich es ein paar Mal trotzdem, nur um zu wissen wie es denn so ist. Dieses Mal war ich jedoch nicht hier, um zu beichten. Ich wusste nicht, warum ich hier war.

 

„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.“ Die Worte hatten sich in all den Jahren in mein Bewusstsein eingebrannt. Langsam aber stetig. Sie waren abrufbar wie eine Audiodatei auf einem Computer, die man, ohne dass man sich großartig darüber Gedanken machen musste, abspielen konnte. Ich stoppte für einen Moment, um nachzudenken. Wieso bin ich in diesen Raum gegangen? Dieser Ort, der früher ein Ort der Vergebung war, war nur ein Ort der Ungerechtigkeit und der seelischen Folter. Gottes Wege sind unergründlich. Die Standardantwort jedes christlichen Fundamentalisten auf die Theodizeefrage. Ich atmete tief aus. Nebelschwaden aus Alkohol und Kälte schwebten vor meinem Gesicht. Ich zitterte. Die Wärme soll hier wohl nur durch die Religion verbreitet werden. Mein Würgereflex setzte ein. Mein Mageninhalt konnte jedoch noch zurück gehalten werden. Ich sah das Jolly-Roger-Logo vor mir, das mich mit seinen bewusstlosen Kreuzaugen, seinem skelettierten Kaninchenkopf und seinem rechten abgeknickten Ohr angrinste und mich sardonisch auslachte. Es war mehr ein schrilles Kichern, als ein höhnisches Lachen. Es kreiste um mich herum, wie ein Satellit die Erde umkreist.

 

Nach kurzem Ãœberlegen sagte ich mir erhobener Stimme, wie es sonst üblich war, und nur aus Gewohnheit, um das schon begonnene Ritual zu beenden, nicht weil ich es wirklich so meinte: „Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille Geschehe.“ Ich stoppte erneut. „Wie sieht denn dein Reich aus? Wie lautet dein Wille?“, flüsterte ich in einem sachlichen Ton, der keinen Rückschluss auf meine innere Wut zurückließ, als würde ich tatsächlich eine Antwort erwarten, so besonnen, wie man es in meinem Zustand vorheucheln konnte, und starrte seelenlos durch das Gitter, hinter dem sich niemand verbarg. All die Jahre des Glaubens sind bedeutungslos. All die Gebete nichtig. All die ungeklärten Fragen und ihre ausweichenden Antworten substanzlos. „Und vergib uns unsere Schuld... Erlöse uns von den Bösen... In Ewigkeit. Amen.“

 

Als Kind machte ich mir keine Gedanken über diese Worte. Sie waren wie ein Gedicht, dass man im richtigen Moment herunterleiern musste. Eine höfliche Umgangsformel, um die Tradition zu wahren, so wie man es von den Ältesten beigebracht bekam. Nun machte ich mir Gedanken über sie. Sie waren bedeutungslos. Worthülsen. Nur das verführerische Gewand einer unsichtbaren Frau. Genau wie dieser Raum, in dem sich dieser Beichtstuhl befindet und die Kathedrale in der sich dieser Raum befindet. Ein Versprechen an die, die viel zu verlieren hatten und an die, die bereits alles verloren hatten. Menschen hofften die Worte würden wahr werden, indem sie sie nur oft genug sagen. Diese Kathedrale ist nichts weiter als der alte, schäbige, verstaubte Zylinder eines drittklassigen Magiers und wir sind nichts weiter als die unschuldigen, weißen Kaninchen, die nicht wissen, was mit ihnen geschieht.


Erneut stieg ein Schwall abgrundtiefen Hasses gegen alles in meinem Leben, was mich je vertrösten wollte, gegen alles was mir je Hoffnungen machte, gegen jede Hand die mir aufhelfen wollte, als ich am Boden lag, in mir hoch. Das Leben ist bedeutungslos. Nur ein verfaulter und von Würmern zerfressener Kadaver, der als Nährboden für Leid und Schmerz fungiert. Das Streben nach Glück ist nichts weiter als die Geisteskrankheit eines zurückgebliebenen Affen. Und die Todessehnsucht, das rationalste Gefühl, das der Mensch in seiner belanglosen Existenz je empfinden kan. Anima Vanitas. Es lebe der Tod.

 

Plötzlich brach ein stummes und zynisches Lachen aus meinen Lippen und explodierte im Raum. Ich spürte, wie ich bebte und wie ich langsam durch den Treibsand der vollständigen Apathie versank. Glück und Erlösung. Dinge die mir solche Zauberformeln sicher nicht geben können, da mir diese Dinge dies noch nie geben konnten. Dinge, die mir kein Glaube geben konnte. Und auch Dinge dir mir mein Wille nicht geben kann. Die Hoffnung starb an diesem Tage in mir und mit ihr auch mein Lebenswille. Mir wurde erneut schwarz vor Augen. Das Geschenk des Lebens ist nichts weiter als ein hübsch verpackter Hauch von Nichts. Zum Glück gibt es ein Rückgaberecht. Die Dunkelheit kam immer näher. Ich spürte, wie sie bereits im Stande war ihre kalten Skelletarme um mich zu legen, um mich von hinten zu umarmen. Der Abgrund reichte mir lächelnd die Hand, denn er hatte mich nun durchschaut. Er rumorte eine einladende Begrüßungshymne aus der Tiefe nach oben zu mir und bereitete bereits die Willkommenszeremonie vor. Ich nahm das Kreuz meines Bruders von meinem Hals und starrte es kurz an. Das rein geschliffene Silber, das von den Rußpartikeln der Zerstörung befleckt war. Wie es in meiner rechten Hand liegt. Mit dieser Illusion von einem Heiligenschein umgeben. Göttlich ausschauend. Chorale Klänge ausstrahlend. Nach Weihrauch duftend. Nach Hostie schmeckend. Doch es fühlte sich nicht nach Erlösung an, denn mein Gefühl war blind und taub. Alles Lügen. Betrug der Sinne. Ich wollte es in Millionen Stücke sprengen, es zu Staub verwandeln. Stattdessen warf ich es gegen den Beichtstuhl. Mein Kommentar zur stillen Abnahme meiner Beichte durch Gott. Dann blitzte eine fixe Idee durch meinen Kopf, wie der Blitz durch die Krone in einem Baum. Vielleicht sollte ich das ganze Elend beenden. Die Hölle im Jenseits kann nicht schlimmer sein, als die Hölle im Diesseits. Eine logische Erkenntnis. Eine rationale Entscheidung. Eine gute Entscheidung.


Ich nahm die Beretta-101 aus meiner Tasche und starrte die Waffe für einen Augenblick an. „Ja“, hauchte ich im Flüsterton in den leeren Raum. Es erschien mir plötzlich als eine gute Idee, die fundamentale Räumlichkeit einer gehaltlosen Ideologie, die mich mein ganzes Leben lang belogen hatte, zu meinem pompösen Sarg zu machen. Eine Blasphemie, die die lähmenden Irritationen, die ihre Versprechen verursacht hatte, in Sekundenbruchteilen durch apathische Rache vergelten würde. Ich musterte die Waffe von allen Seiten. Ich starrte in den Lauf. Dunkelheit. Der Ort, wo mich die Kugel, die aus ihr heraus rasen würde, auch hinschicken würde. 6... Ich setzte mir den Lauf an die Schläfe. 5... Ich spürte die Kälte, die seine ringförmige Beschaffenheit in mir verbreitete. Ein arktischer Schauer drang durch meine Haut. Sie neutralisierte die Wärme, die der Blutalkohol in mir verursachte. 4... Ich stellte mir vor, wie die Kugel innerhalb von Sekundenbruchteilen durch mich durch fliegen würde. Durch die Haut, durch die Schädeldecke, dann durch das Hirngewebe, dann durch das Zentrum meiner Seele, die in Millionen Splitter zerbrechen würde. 3... Schweiß brach aus meinem Körpers aus. Ich atmete erneut tief aus und spürte wie die Blässe meinen gesamten Körper durchzog. Der Würgereiz meldete sich erneut. 2... Eine absolute Entscheidung. Kein Zurück, keine Wiederkehr. Inzwischen ist der neue Tag während der Nacht angebrochen. 1... Absolute Entschlossenheit. Happy Birthday. An diesem Geburtstag werde ich etwas anderes als Kerzenlicht ausblasen. Exakt achtzehn Jahre würden durch nur eine Bewegung des linken Zeigefingers zunichte gemacht werden. Ist es das Wert? Meine Hand würde meinem Kopf die Beantwortung dieser Frage abnehmen.

Ich betätigte den Abzug:

 !Boom!

 

Ich hörte einen Schuss, der so laut war, dass ihn wahrscheinlich die ganze Welt hören würde. Die Kugel raste durch meinen Kopf. Sie beseitigte die Hindernisse bestehend aus Nervenzellen und Synapsen, wie eine massive Dampfwalze mit Überschallgeschwindigkeit die im Weg stehenden Bäume in einem dichten Wald. Das Blut spritzte durch den Raum. Meine Hirnstücke regneten zu Boden. Meine Körperfunktionen setzten aus. Ich krachte auf die nackten Fließen und meine Augen nahmen dieselbe Leere an, wie sie es auch schon bei den Toten taten, die ich ein paar Stunden zuvor massenweise gesehen hatte.

 

Der Tod, dem ich in letzter Zeit so häufig begegnet war, mit dem ich jedoch nie persönlich sprach, traute sich nun auch an mich heran, nachdem er seine Schüchternheit überwunden hatte, und wollte sich mit mir unterhalten. Das Gespräch war so kurz wie der kleinste Bruchteil einer Nanosekunde und so lang wie die Ewigkeit. Er führte mich in einen grenzenlosen Raum der mit reinstem Licht überflutet war. Ich schwebte in diesem Raum, sorgenlos, ziellos und körperlos. Zwischen Raum und Zeit. Zwischen Sein und Nichtsein. Zwischen Glückseligkeit und absolutistischem Rausch. Das Glück war vollkommen, das Leid ein Fremdwort einer altertümlichen Sprache aus vergangen Zeitaltern. Gott erschien und er schien. So hell wie die Sonne selbst und noch viel heller. Er reichte mir lächelnd seine Arme entgegen und begrüßte mich mit einer bebenden Stimme, die Ohnmachtsgefühle der Ehrfurcht und Bewunderung in mir auslösten. Er wurde begleitet von applaudierenden Engeln und monumentalen Chören. Alle Menschen, die ich je kennen gelernt hatte strahlten mich an, weil sie mich nach langer Zeit endlich wieder sahen. Doch Gott hatte eine schlechte Nachricht für mich und teilte sie mir mit, nachdem er mich umarmt hatte. Er stützte seine Hände an meine Schultern ab und blickte mir ernst ins Gesicht. Ich könne nicht hier bleiben, ich hatte noch etwas zu erledigen. Meine Geschichte konnte noch nicht vorbei sein. Der Held durfte nicht sterben. NOCH NICHT! Dann grelle Dunkelheit, denn meine Augenlider waren geschlossen.

 
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