„Der Schnee fällt und fällt. Ich habe uns Tee mitgebracht.
Er ist noch schön heiß, möchten sie einen Becher?“, ich kramte in meinem
mittlerweile nassen Rucksack und zog die silberne Thermoskanne hervor. Ebenso wie meine roten Becher, war
sie ein veraltetes Gefäß, von dem ich mich nicht trennen konnte. Wie sonst auch,
tropfte sie am oberen Rand des Deckels. „Brennnesseltee.“ , schob ich hinterher, ohne ihn dabei
anzusehen. Ich war aufgeregt. Obwohl er mir mit seiner Hand bedeutet hatte
Platz zu nehmen, konnte ich nicht wissen, ob er dies aus Höflichkeit oder
wirklich darum tat, weil er es gerne hatte, dass ich ihm Gesellschaft leistete.
Durch die Kälte zitterten meine Finger leicht und ich hatte Mühe, das heiße
Getränk in einen der Becher zu füllen. Die warme Thermoskanne in meinen Händen tat
mir gut und dennoch fühlten sich meine Finger bereits vereist an. Ich reichte
ihm den gefüllten Becher, welchen er mit einem freudestrahlenden Lächeln
annahm. Als ich meinen eigenen Becher gefüllt, die Kanne wieder im Rucksack
verstaut hatte, genoss ich das warme Gefühl zwischen meinen Händen. Der Tee
schien nicht mehr sehr heiß zu sein und dennoch dampfte er. Ein Kampf gegen die
Kälte, die heute noch erbitterter und härter als am Vortag erschien. Mit dem Tee an meinen Lippen schielte
ich ihn verstohlen an. Er nahm einen
großen Schluck, ohne seinen Blick vom See zu wenden. Wieder saßen wir eine
Weile da, vom leise rieselnden Schnee umzingelt und obwohl Weihnachten schon
drei Wochen zurücklag, kam mir unwillkürlich ein Weihnachtslied in den Sinn. Es
war ein trauriges Weihnachten. Wohlige Stille erfasste mich. Nun saß ich hier
neben einem Fremden und genoss die Stille dieser Winterlandschaft. Der kleine
See vor uns zog am anderen Ende ein paar vereinzelte Besucher an, die
Schlittschuhliefen. Familien mit kleinen Kindern oder ein paar Jugendliche, die
ausgelassen miteinander tobten. Ich beobachtete Spaziergänger, die an uns vorüberzogen, deren
Atem als kleine Wölkchen in der Luft zu
erkennen war. Ich sog die Luft ein. Sie brannte in meiner Brust, der Tee wärmte
nur spärlich. Ich fühlte mich lebendig.
„Geht es ihnen heute besser?“, fragte er mich unvermittelt und nahm gleich
noch einen großen Schluck. Ich lächelte und nickte zaghaft. Gerne hätte ich ihm
gesagt, wie sehr er mir geholfen hatte, wie zufrieden und ruhig ich innerlich
war, doch ich traute mich nicht. Wie verrückt hätte es auf ihn gewirkt, wenn
eine Fremde ihn für ihre Zufriedenheit verantwortlich gemacht hätte. „Brennnesseltee
ist gut für den Blutdruck“, lachte er in seinen Becher hinein und nahm den
letzten Schluck. Ich kramte sofort wieder in meinem Rucksack, doch er bedeutet
mir mit seiner Hand, dass er im Moment keinen Nachschub wollte. „Sie sollten
sich Handschuhe zulegen, dann platzen ihre Hände nicht so auf.“ Ich schämte
mich plötzlich. Wie sollte er auch denken, dass ich auf eigenen Beinen stehen
konnte, wenn ich mich noch nicht einmal um meine Hände kümmern konnte. Sie
sahen mittlerweile wirklich sehr mitgenommen aus. Rau und rot. Hätte ich meinen Becher nicht noch immer in
den Händen gehalten, wäre ich meinem Impuls gefolgt und hätte sie sofort in meinem Ärmel versteckt. „Ihre Hände sind wichtig, wenn sie bald
anfangen werden, Violine zu spielen.“, er sagte es mit solch einem Nachdruck,
dass ich es nicht einen Moment lang infrage stellte. Als wäre es eine völlig
logische Schlussfolgerung auf mein Erzähltes am Vorabend. „Wenn ich auf nichts
in meinem Leben Acht gegeben habe, auf meine Hände hab ich es immer.“, in seiner Stimme schwang ein Hauch von
Fröhlichkeit mit, doch ich vermochte nicht zu erkennen, ob er es mit
schmerzlicher inniger Wehmut sagte oder doch eher als eine oberflächliche
Metapher meinte. Ich sah ihn an und schmunzelte über den kleinen Schneeberg,
der sich auf seinem Hut aufgetürmt hatte. Immer noch sah er zufrieden und
freundlich aus. Seine Augen waren so tiefgründig, dass ich mich zurückhalten
musste, nicht neugierig nach seiner Geschichte zu fragen. Ich seufzte kaum
hörbar in mich hinein und fühlte mich wie ein ungeduldiges Kind, das kaum
erwarten kann, dass sich die Tür zum prachtvoll geschmückten Christbaum öffnet.
„Gestern haben sie von sich erzählt. Heute werde ich ihnen von mir erzählen.“,
er saß ganz still da. Kleine seichte Schneeflocken flatterten um seine
langen Wimpern, schmolzen sofort auf
seinen Wangen und hinterließen kleine, kaum sichtbare Wassertropfen. Jetzt erst
bemerkte ich die tiefen Falten, die sich um seine Augen und die Mundwinkel
niedergelassen hatten. „Es gab eine Zeit, da dachte ich auch, ich wäre nicht
glücklich genug und doch war ich es. Wahrscheinlich war ich nie glücklicher in
meinem Leben als damals. Sehen sie, ich bin alt.“, er lachte kaum hörbar auf
„Ja, ich bin schon sehr alt. In meinem Leben habe ich gelernt, dass es wichtig
ist, zu verzeihen. Nicht nur den anderen, auch sich selbst.“ Ich wollte gerade
Einwände bringen, doch er gab mir zu verstehen, dass er weitersprechen wollte.
Die Spaziergänger, die tiefe Abdrücke im Schnee mit ihren Winterstiefeln
hinterließen, bemerkte ich kaum mehr. Ich wollte ihn nicht unterbrechen. Ich
hatte Angst, er würde aufhören. Ich war neugierig. Ich war interessiert. Ich
hatte das Gefühl, als würde er mir jeden Moment das Geheimnis des Lebens
offenbaren. „Man sollte Momente leben, sie spüren. Man muss sie wollen und
zulassen. Die Guten, wie die Schlechten.“, als würde er in sich hineinlauschen stoppte er
kurz und fuhr fort: „Wenn sie trauern, dann trauern sie. Wen sie wütend sind,
seien sie wütend. Wenn sie glücklich sind, dann seien sie glücklich. Doppelt so
sehr. Sie können jeden Tag viele kleine Momente des Glücks erfahren. Die
Menschen suchen nach ihrem Glück, sind nie zufrieden, die Meisten sind auf der
Suche nach dem Glück und werden vom Unglück gefunden.“, er schweigt und blickt
über den See. Seine letzten Worte hängen über uns wie aufkommender Nebel und
hüllen uns ein. Ich denke über sie nach, während es beginnt stärker zu
schneien. „Ich war ständig auf der Suche nach dem Glück. Immerzu. Und als es
fast zu spät war, habe ich gemerkt, dass ich das ganz große Glück schon lange
in den Händen hielt. Ja, ich hatte wahrlich Glück. Ich hatte die Möglichkeit,
zu meinem Glück zurückzukehren, auch wenn es nur für kurze Zeit war. Ich bin
sehr dankbar dafür.“ , seine Augen wirkten traurig, sein Lächeln aber ehrlich.
Er blickte mich direkt an, suchte nach meinen Augen. Einen Moment hielt ich den
Atem an, mein Herz pochte wie verrückt. „Sie sind jung. Sie können vieles
verändern. Machen sie sich glücklich. Tun sie das, was sie glücklich macht und
verstecken sie sich nicht vor ihren eigenen Schwüren.“, wieder schwieg er und
blickte auf den See. Die Schneeflocken, welche unerlässlich fielen, weiteten
sich langsam zu einem Schneesturm aus. Ich dachte über seine Worte nach. Obwohl
er sie aufrichtig und energisch gesprochen hatte, schwang eine tiefe
Melancholie in ihnen. „Am Ende eines Lebens wünscht man sich immer dasselbe.“
er flüsterte die Worte und ich lauschte seiner Stimme. Seine dunkle tiefe
Stimme beruhigte mich ebenso, wie sie mich mitreißen konnte. „Am Ende wünscht
man sich immer, man hätte mehr Zeit mit dem verbracht, was einen glücklich
gemacht hat. Erinnerungen sammeln. Sammeln sie die schönsten Erinnerungen und
bewahren sie diese.“ Es waren die kurzen und ausdrucksvollen Sätze, die mich
zum Nachdenken brachten. Sie hörten sich so wahr an, dass ich es kaum wagte,
sie zu hinterfragen. Der Schneesturm wurde immer wilder und ich befürchtete,
dass er sich gleich von mir verabschieden würde. Verabschieden, ohne mir von
seiner Geschichte zu erzählen. Er strich sich die Reste des bereits verwehten Schneeturms
von seinem Hut und gab mir seinen leeren Becher zurück. „Sie sollten jetzt nach
Hause gehen. Es ist wirklich sehr ungemütlich. Es wird schon dunkel.“ „Sie
haben mir ihre Geschichte noch nicht erzählt“, wandte ich empört wie ein
kleines Kind ein. Ich klapperte bereits mit meinen Zähnen. Die Becher im
Rucksack schlugen aneinander, als ich sie verstaute. Es geschah alles hastig,
weil ich Angst hatte, Zeit zu verlieren. Ich war gespannt und ich genoss die
Zeit mit diesem fremden alten Herren. Er kam mir unheimlich weise, warm und
gutmütig vor. Schnell drehte ich mich zu ihm um. „Die Alten lernen von den
Jungen und die Jungen von den Alten.“, blinzelte er mich an und striff sich die
Handschuhe von seinen Händen. Langsam erhob er sich. Ich blieb sitzen. Bockig
und in der Hoffnung, er würde wieder Platz nehmen und mir mehr berichten. Er
legte die Handschuhe in meine bereits vereisten Hände. Mittlerweile spürte ich
meine Nasenspitze nicht mehr und auch meine Haare, die unter der Mütze
hervorlugten, waren triefend nass. Vereinzelt hatten sich Schneeflocken in
ihnen verfangen. „Es war schön sie kennengelernt zu haben. Vielen Dank für den
Tee.“, er tippte sich an den Hut, drehte sich auf dem Absatz um die eigene
Achse und machte sich wieder auf den Weg in Richtung des Sees. „Die Geschichte,
ihre Geschichte!“, rief ich ihm hinterher. Ich hörte ihn lachen und rufen „Die
werden sie noch erfahren. Machen sie sich glücklich.“, und schon verschwand er
hinter der Schneeflockenwand. Ich wusste, er würde wieder über den See tänzeln.
An dieses Bild würde ich mich immer erinnern. „Ich hab doch noch Kekse dabei.“,
murmelte ich enttäuscht in meinen Schal. Als ich mich völlig durchfroren von
der Bank erhob und auf den Weg nach Hause machen wollte, stieß ich mit meinem
Fuß gegen etwas Hartes. Der Schmerz drang tief in meine Zehen und weitete sich
über den Fuß in meinen Knöchel aus. Meine Füße waren völlig verfroren. Der
Koffer. Sein Violinenkoffer. Eigentlich wollte ich ihm nachrufen, doch ich
kannte nicht einmal seinen Namen. Ich konnte ihn schon lange nicht mehr sehen.
Ich beschloss, den Koffer kurzerhand aufzuheben und ihn am nächsten Tag
zurückzubringen. Bestimmt wäre der nette alte Herr morgen wieder auf dieser
Bank. Ich schulterte meinen Rucksack, bückte mich, gefasst darauf, einen
schweren Koffer anheben zu müssen und erschrak über das Klicken, das ich in
meinen Händen spüren konnte. Der Koffer sprang auf und fiel mit einer
Deckelseite in den Schnee. Ich wagte es nicht, die bestimmt kaputte Violine
anzusehen. Schlussendlich blieb mir aber
nichts anderes übrig und ich beugte meinen Oberkörper hinab. Ich erschrak. Im
Inneren des Koffers befand sich kein Instrument. Ich versuchte mich angestrengt
an unsere erste Unterhaltung zu erinnern. Er nickte, als ich ihn auf das
Instrument ansprach. Briefe über Briefe
lagen auf dem Boden. Große, kleine, bunte quadratische Postkarten. Behutsam
sammelte ich die Schriftstücke wieder auf und verstaute sie im Koffer. Mich
überkam ein Schauer, nicht nur durch den Wind, der mir eisig kalt ins Gesicht
stach. Als ich die Briefe eingesammelt hatte, machte ich mich durch den tiefen
Schnee auf den Weg nach Hause. Noch auf dem Weg schwor ich mir, keinen dieser
geheimnisvollen Briefe zu öffnen und zu lesen. Eins wusste ich aber sicher,
morgen würde er nicht um seine Geschichte herumkommen.
JanosNibor Grandios! Und wunderschön erzählt. Und geheimnisvoll. Warum Briefe? Wie geht es weiter? Und wann? Ok, ich muss wohl warten und dran bleiben, bis das nächste Kapitel fertig ist. Weißt du wie schwer das ist? :) LG Janos |