Kurzgeschichte
Vom Glücklichsein 2. Teil - 2. Teil

2. Kapitel

Als ich am nächsten Morgen erwachte, spürte ich noch immer eine tiefe innere Zufriedenheit. Ich dachte an den alten Herren, als ich mich aus dem warmen Bett in mein kaltes Schlafzimmer quälte. Ich dachte an ihn, als ich die heiße Dusche anstellte, während ich meine Zähne putzte und darauf wartete, dass der Wasserdampf meine Duschwanne vernebelte und der Badezimmerspiegel beschlug. Dann erst stieg ich in das heiße Nass und genoß jeden einzelnen Wasserstrahl, der meinen Rücken nach und nach entspannen ließ. Es war Samstag und heute hatte ich nach Monaten endlich einmal einen freien Tag. Mein Anrufbeantworter blinkte verdächtig, als ich mit meinem Handtuchturban auf dem Kopf und einer  heißen Tasse Kakao ins Wohnzimmer schlürfte. Während ich mich in meinen Lieblingssessel warf, drückte ich noch schnell den Playknopf und wartete, bis das monotone Rauschen verstummte und ich die ruhige, viel zu freundliche Stimme meiner Mutter erkannte. “Lene, mein Schatz, schläfst du noch? Dein Vater und ich fahren heute zu Tante Sophie. Meld dich doch einfach, wenn du mitkommen möchtest. Geht es dir gut? Hör auf dich zu verkriechen!”, kurze Stille. Der letzte Satz klang gleichermaßen sorgen- wie vorwurfsvoll. “Es würde dir gut tun, wieder einmal unter Menschen zu kommen”.  Wieder rauschte der Anrufbeantworter. Ich zog die weiße Wolldecke noch etwas fester um meine Hüfte und lauschte auf den Abschlusssatz. “Machs gut, mein Schatz”. Gleich darauf spulte mein völlig überalteter Anrufbeantworter die kleine Minikassette im Inneren, welche ich schon immer niedlich gefunden hatte, zurück. Ich blickte aus dem Fenster und stellte fest, dass es über Nacht noch mehr Schnee gegeben hatte. Mittlerweile tanzten die Flocken ruhig und bedächtig auf die Bäume zu, welche an Schneekreaturen erinnerten. Für einen kleinen Augenblick fragte ich mich, wie viele Flocken der bereits verschneite Ast noch tragen könnte, ohne unter der Last zu brechen. Wie viel können Menschen ertragen, bevor sie zerbrechen? Die schrille Melodie, die ich mir zu glücklichen Zeiten für mein Telefon ausgesucht hatte, riss mich aus meinen Gedanken. Wieder ließ ich den Anrufbeantworter für mich antworten. Einzig seine Simme war es, der Grund, warum ich meinen Begrüßungstext nicht geändert hatte. Zwei glückliche Menschen riefen in den Anrufbeantworter, dass sie nicht erreichbar waren und bei zurückgelassener Nachricht überlegen mussten, ob sich eine Rückmeldung lohnen würde. Es war freundlich gemeint und das freche Lachen verriet dies nur allzugut. Bevor der Anrufbeantworter wirklich ansprang hörte ich noch den kräftigen Kuss, den er mir auf die Wange gedrückt hatte. Für andere nicht unterscheidbar, ob es nun zum Knistern des Anrufbeantworters oder zum Ploppen beim Anspringen des Anrufbeantworters, gehörte. Ich wusste was es war. Ein Überbleibsel aus glücklichen Tagen. Jedes Mal gab es mir einen neuen Stich und ich fragte mich, warum ich mir dies immer und immer wieder antat. Ich hasste mich dafür, dass ich mich leiden lassen wollte. “Hey Lene”, ertönte die zarte Stimme meiner Freundin Dani. Ich konnte förmlich spüren, wie sie mit sich harderte, nach den richtigen Worten suchte. Ich hasste es auch, wenn andere mich behandelten, wie ich mich in meinem geheimsten innersten auch fühlte. Wie ein übervoll verschneiter Ast, der bei der nächsten Flocke eindeutig zuviel hatte. Die Flocken vor meinem Fenster, türmten sich weiter auf den Bäumen. Die Äste hatten mehr Kraft, als ich vermutet hatte.  Fast formten sie Skulpturen. Vielleicht ging es Menschen genau so. “Lene, schade, dass du gestern Abend nicht dabei warst. Du fehlst uns. Wollen wir später spazieren gehen? Meld dich doch einfach.” Sie schluckte schwer, das konnte ich hören “Geht es dir besser?”. Das Band spulte erneut und das kleine schwarze Gerät begann zu blinken. Ich stand auf, stellte die unberührte Tasse Kakao auf den gläsernen Wohnzimmertisch, der wahrlich schon bessere Tage gesehen hatte, und drückte auf – Nachrichten löschen – . Als ich meine Haare föhnte, mir den kuschligsten und zugleich ältesten Pullover überzog, der in meinem Besitz war, beschloss ich, heißen Tee in eine Thermoskanne zu füllen, gekaufte Kekse, die eigentlich viel zu hart waren um wirklich zu schmecken, einzupacken und mich mit 2 roten Plastikbechern, von denen ich mich nicht trennen konnte, auf den Weg zum See zu machen. Vielleicht würde der alte Mann, der für meine innere Zufriedenheit verantwortlich war,  wirklich wieder auf der Bank sitzen. Vieleicht würden wir den Tee gemeinsam trinken, auf den verschneiten grau-weißen See blicken, uns anlächeln und wieder für einige kurze Momente glücklich sein. Vielleicht würde er mir heute wirklich einen Teil seiner Geschichte erzählen. Ich war neugierig auf diesen Menschen, der gutmütig, schlau, gezeichnet vom Leben wirkte und dennoch eine innere Ruhe ausstrahlte, die mich einfach ansteckte. Ich hatte mich auf den Weg gemacht und schon nach wenigen Schritten darüber geärgert, dass ich wieder keine Handschuhe bei mir hatte. Der Schnee knirschte unter meinen Stiefeln. Es schneite immer noch und obwohl die Umgebung grau in grau schien, freute ich mich auf die Stunden am See. Ich war aufgeregt und voller Vorfreude. Als ich um die Ecke bog, die letzten paar Schritte zur Bank entgegensteuerte, sah ich ihn schon, als wäre es nie irgendwoanders gewesen. Sein Hut war eingeschneit, die Hände lagen gefaltet in seinem Schoß. Wahrscheinlich spielte er unbewusst mit seinen Füßen und den Schneeflocken. Sein Blick war zufrieden auf den See gerichtet. Er konnte mich unmöglich erkennen, so vermummt, wie ich war. Dennoch blickte er im selben Moment, in dem ich ihn erblickte in meine Richtung, lächelte freundlich und klopfte mit seiner rechten Hand auf den Platz, der neben ihm frei war. Ich freute mich ehrlich und stampfte durch den hohen Schnee auf ihn zu. Als ich mich neben ihn setzte, blickten wir wieder gemeinsam auf den See. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Wieder wusste ich nicht, wie lange es dauerte, bis ich das Wort ergriff.