Vor Wochen schon war er mir aufgefallen. Er saß regungslos auf einer Bank, mitten im Park, durch den ich jeden Morgen und Abend kam. In jenem Park, in dem ich vor Anbruch des Winters schöne Stunden verlebt hatte. In dem ich meine gute Laune jedem nur so ins Gesicht lachte und mein Herz vor Liebe und Glück überschäumte. Diese Momente waren lange vorbei. Obwohl der Herbst noch nicht lange zurücklag, fühlte es sich so an. Er blickte abwesend auf den kleinen See, der direkt vor ihm lag und hatte eine Hand auf den kleinen schwarzen Violinenkoffer, der neben ihm stand, gelegt. Auch er hatte den Herbst hinter sich gebracht und der Schnee, der ihm mittlerweile kalt ins Gesicht wehte, schien ihn nicht zu stören. Die Luft war klar und schmerzte beim Einatmen in meiner Lunge. Ich weiß nicht, ob er mich vorher jemals wahrgenommen hatte, doch heute fühlte es sich anders an. Schon als ich schweren Schrittes den Weg zu seiner Bank einschlug, erhob er seinen Kopf und blickte in meine Richtung. Die Melancholie in seinem Blick, wäre meterweit erkennbar gewesen und traf mich erstaunlicherweise, als wäre es meine eigene. Vielleicht aber erkannte auch nur ich sie, da ich selbst genügend Melancholie in mir trug. Ich konnte meinen Blick nicht von seinen traurigen, glasklaren blauen Augen lösen und setzte mich, als ich angekommen war, wie selbstverständlich neben ihn auf die Bank. Nachdem er mich sanftmütig angelächelt hatte, starrten wir eine Weile auf den See, der vor uns lag. Gefroren, kalt und grau. Hier saß ich nun mit einem mir völlig Fremden und sinnierte über die Kälte, die meiner momentanen Gefühlslage am nähsten kam. Ich grub meine Hände noch etwas tiefer in die Jackentaschen und atmete in meinen Schal. Meine Finger schienen erfroren, doch was machte es schon. Ein Teil mehr, der mir zeigte, aus was mein Herz momentan bestand. Aus den Augenwinkeln versuchte ich ihn genauer zu betrachten. Er schien es zu bemerken, denn wieder huschte ein Lächeln über seine Lippen, welches mit peinlich berührt erröten ließ. Aus der Ferne wirkte er alt, älter, als er zu sein schien. Die Schneeflocken tanzten um seinen weißen Bart und setzten sich auf seinen dunklen Hut. Absurderweise kam mir der Gedanke, dass er ein warmer Mensch sein musste. Nicht nur, weil die Schneeflocken, die sich auf ihm niederließen sofort schmolzen. Hier neben ihm, fühlte ich mich verstanden, auch wenn wir im Moment nur das selbe taten. Neben den tiefen Kerben und Falten, die sein Gesicht zeichneten, erkannte ich die vielen Lachfalten um seine Augen, welche doch so traurig dreinschauten. Und so sehr ich mich bemühte, konnte ich meinen Blick doch nicht abwenden. Als er mich direkt ansah, überkam mich ein Schauer. Mich überkam das Gefühl, er würde direkt bis auf den Grund meiner Seele blicken und endlich fand ich Worte: “Es ist furchtbar kalt, nicht?”, er lachte kaum hörbar auf, so als wüssten wir beide nicht, ob wir nun unser innerstes oder das Wetter meinten, und wendete seinen Blick erneut ab. Auch meine Augen wanderten wieder auf den See. Ich überlegte mir, ob er aufgrund seines Alters nicht mehr richtig hören konnte, oder ob er schlichtweg keine Lust hatte, einer fremden Dame, die ungefragterweise neben ihm Platz genommen hatte, zu antworten. Als er kurze Zeit später versuchte, mit seinem Fuß eine Schneeflocke einzufangen, lachte ich leise in meinen Schal. Da saß ich also mit einem Fremden, dessen Ausstrahlung mich seit dem ersten Moment an gefangen hatte. Ich konnte ihr, ich konnte ihm nicht entkommen. “Sie sind täglich hier”, versuchte ich es erneut. “Ich komme hier täglich vorbei.”, flüsterte ich. Der alte Mann nickte und versuchte weiterhin Schneeflocken einzufangen. Ich verstummte wieder und blickte nun auf seinen Violinenkoffer. “Sie spielen Violine?”, er nickte und freute sich laut, als er es endlich geschafft hatte, zwei große Schneeflocken auf seine Schuhe zu platzieren. “Ich hätte es auch gerne getan. Doch irgenwie läuft in meinem Leben vieles nicht so, wie ich es gedacht hätte.”, ich schluckte hart und fühlte mich peinlich berührt, als mir bewusst wurde, dass ich soeben begann einem fremden mein Herz auszuschütten. Er hörte sofort auf, sich mit den Schneeflocken zu beschäftigen, schüttelte die feuchten Tropfen von seinen Wollhandschuhen und blickte mich warm und herzlich an. Fragend und auffordernd zugleich. Ich erzählte ihm von meinen verloren geglaubten Träumen, davon, dass ich einst glücklich gewesen war. Ich erzählte ihm von der Suche nach meinem Glück, doch dass ich einfach nicht wüsste, wo ich es denn finden könnte. Über die Vernunft und mein Herz, die sich täglich einen unerbitterten Kampf lieferten. Die ganze Zeit saß er stumm bei mir und wendete seinen Blick immer nur kurz auf den gefrorenen See. Die Schneeflocken wirbelten um mein Gesicht, ich hörte das Knirschen der Schritte Vorbeigehender. Mittlerweile war ich mir ziemlich sicher, dass er nicht reden konnte. Ich wusste nicht einmal, ob er mich verstanden hatte. Während meiner Erzählung schnaufte er ab und an kurz auf, oder lächelte mich allwissend an. Ich weiß nicht, wie lange wir auf der Bank gesessen hatten, bis der Himmel über uns dunkler wurde. Ich erhob mich langsam und bedankte mich dafür, dass er mir zugehört hatte. Nachdem ich ihm mein Seelenleid bekundet hatte, ging es mir sofort besser. Mich überkam unsagbare Dankbarkeit gegenüber einem alten Herren, der mir nur stumm zugehört hatte. Ich wollte ihm die Hand zum Abschied reichen, entschied mich dann aber doch dagegen. Als ich mich gerade zum Gehen umdrehen wollte, räusperte er sich und sagte mir ruhig und bedacht: “Man will nicht nur glücklich sein, sondern glücklicher als die anderen. Und das ist deshalb so schwer, weil wir die anderen für glücklicher halten, als sie sind.” Ich vermochte nicht sofort zu antworten sondern lächelte ihn irritiert an. Er konnte sprechen und saß die ganze Zeit über neben mir, ohne eine Bemerkung fallen zu lassen. In just diesem Augenblick wusste ich nicht, ob ich wütend oder erleichtert darüber war, gesprochen zu haben, ohne Einwürfe erhalten zu haben. Ohne über mein gesagtes nachdenken zu müssen. Ich setzte mich erneut neben ihn, schwieg kurz und sprach ihn erneut an. “Sie spielen also Violine?”. Dieses Mal lachte er so laut auf, dass er mich ansteckte. Gemeinsam saßen wir auf der kleinen Bank vor dem See und lachten uns alle Sorgen an einen fernen Ort. Kurz darauf erhob er sich schwerfällig, fasste nach seinem Koffer und blickte mich noch einmal direkt an. Seine Augen schienen zu strahlen, er schien sehr glücklich, obwohl seine Augen tief und unendlich schienen. “Ich bin täglich hier.”, sagte er an mich gewandt. Dieses Mal war ich diejenige, die nur nickte. “Morgen erzähle ich ihnen meine Geschichte.”, brachte er mit einer tiefen männlichen Stimme hervor, tippte sich auf seinen Hut, drehte sich auf dem Absatz herum und lief in die Richtung des gefrorenen Sees. Ich blieb noch kurz sitzen und schaute ihm nach. Er tänzelte nun über das Eis und sah dabei so leicht aus, dass mir nicht einmal der Gedanke kam, er könne einbrechen. Die Schneeflocken stoben um ihn herum und es sah so aus, als ob er genau an diesen Ort gehörte. Als ich ihn durch die Dunkelheit hindurch nicht mehr erkennen konnte, erhob ich mich auch und brannte mir seinen gesagten Satz in meine Gedanken. Man will nicht nur glücklich sein, sondern glücklicher als alle anderen. Wieder musste ich über die Wendung dieses Tages schmunzeln und tänzelte ebenso wie er gerade, auf dem Eis, in Richtung Heimat. Ich war gespannt auf sein Leben und freute mich darauf, seine Geschichte zu erfahren. Ein wenig Glück hatte er mir heute schon geschenkt. Ich hoffte, ich könnte ihm am nächsten Tag ein Stück davon zurückgeben.
swordy Re: - Dann wiederhole ich mich doch auch gerne... Vielen Dank, freut mich, dass es dir gefällt. LG Sarah Zitat: (Original von JanosNibor am 06.04.2012 - 22:33 Uhr) Gut, womit ich mich jetzt zwar wiederhole (siehe Teil 2) aber - wirklich schön geschrieben, sehr detailreich und bildlich! LG Janos |
JanosNibor Gut, womit ich mich jetzt zwar wiederhole (siehe Teil 2) aber - wirklich schön geschrieben, sehr detailreich und bildlich! LG Janos |