Die Bekannte, die Thomas nicht kannte
Als Thomas drinnen war, sah er auf der grossen Bahnhofsuhr, dass es noch nicht spät war. Er entschied sich deshalb, noch in ein Cafe zu gehen und einen Espresso zu trinken. Gerade als er seinen fünften Schluck trinken wollte, sah er wie eine Frau zu ihm an den Tisch sass.
„Hi, lange nicht mehr gesehen“ sagte sie. Sie hatte lange, dunkle und struppige Haare und trug ein dunkles Kleid, das aussah als wäre es ein Stofffetzen. Thomas dachte, sie sehe aus wie ein Guru.
„Ehm, kenne ich sie?“
„ Ich bin’s, Gloria.“ Thomas runzelte die Stirn.
„ Ich glaube, sie verwechseln mich.“ Dieses Gespräch wurde ihm langsam unangenehm.
„Neinein, wir haben uns ja so lange nicht mehr gesehen,“ sie lächelte sarkastisch,“ Du hast mich doch früher immer so hübsch gefunden und begehrt, weißt du noch?“ Thomas dachte nach, er konnte sich beim besten Willen nicht mehr an diese Gloria erinnern.
„Ich kenne sie aus der Schule?“
„Ja, natürlich, also dein Gedächtnis hat ja stark abgenommen.“ Wieder lachte sie so komisch. Ein Lachen, mit einem Hintergedanken. Auch Thomas fing an zu lachen, nur aus Höflichkeit. Er fand das nicht im Geringsten komisch.
„ Weißt du, ich bin sehr erfolgreich geworden.
„Aha, wie denn?“
„Ich bin Führerin, einer Sekte. Aber nicht nur beruflich bin ich sehr im Geschäft auch bei Männern bin ich beliebt. Habe gerade jemanden kennengelernt.“ Thomas war irgendwie erleichtert, es hätte ja sein können dass sie etwas von ihm wollte. Was sie jedoch trotzdem vor hatte, was sich später herausstellte. Thomas wurde die Sache immer unangenehmer und er versuchte einen Ausweg zu finden, doch er wollte nicht unhöflich sein. Gloria sah, wie ihm war. Sie fand das lustig, hatte Thomas das Gefühl. Da sah Thomas eine Frau vor dem Cafe, es war seine Ex-Freundin. Sie sah hinein, hob ihre Augenbrauen, wirkte geekelt und ging. Thomas konnte das so nicht stehen lassen, obwohl sie nicht mehr mit ihm zusammen war. Er stürzte hinaus und rannte seiner Ex-Freundin hinten nach. Gloria war entsetzt.
„ Das war jetzt gerade nicht so, wie es aussah.“ Sagte er, als er sie einholte. Thomas mochte sie immer noch. Es war ja auch noch nicht so lange her, höchstens zwei Monate. Er hatte immer gehofft, sie würde zu ihm zurück kommen, doch seine Hoffnung erlosch von Tag zu Tag.
„Weißt du, es ist mir eigentlich egal, mit wem du dich so befasst, aber das hätte ich jetzt echt nicht von dir gedacht, Thomas. Echt nicht.“
„Die Frau ist voll verrückt. Die kam einfach zu mir an den Tisch und redete was von, dass sie mich kenne und so.“
Thomas hätte nicht gedacht, dass seine Ex-Freundin fragte: „ Und? Kennst du sie?“
 „Natürlich nicht…..weisst du Lola, ich wollte dir eigentlich noch was sagen.“
„Und was?“
„Ich möchte, dass du wieder zu…“ Als Thomas den hübschen Mann sah, der zu ihr hin kam und gerade Lolas Lippen küsste, stockte ihm der Atem und er hörte auf zu reden.
„ Hi“ sagte dieser nur.
„ Das ist Thomas, mein Ex……. Thomas, das ist Mike.“ Thomas sagte nichts. In seinem Körper erfüllte sich ein negatives Gefühl, dass sich immer weiter ausbreitete.
„ Wir gehen jetzt, mach’s gut.“ Sagte Lola und Thomas erwiderte nur: „ Tschüss.“
Im war elend zu mute. Am liebsten hätte er dem Typen eine geknallt. Er sah noch, wie sie in einen Shop im Bahnhof gingen. Er liebte sie doch noch.
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Thomas ging wieder zurück in das Cafe, in dem er vorhin mit der Guru-Frau gesprochen hatte. Sie war nicht mehr da. Doch sie hatte etwas hinterlassen; einen dunkelroten Prospekt. Auf dem Prospekt waren Fotos zu denen immer ein kleiner Text stand; „ Ich war hoffnungslos, hatte mein Leben schon fast aufgegeben. Und dann kam ich zum „heiligen Orden“. Ich wurde herzlich aufgenommen. Schnell habe ich gemerkt, dort bin ich immer willkommen. Den klitzekleinen Betrag von nur 100 Franken die Woche zahle ich gerne, der heilige Orden hat mir mein Leben gerettet. Stand neben einem Foto mit einer stark geschminkten, dicken und lächelnden Person mit schulterlangen, braunen Haaren.
Auf dem Prospekt war die Sekte dieser Guru-Frau beschrieben. Auch sie war mit einem grossen Bild drauf und meinte „Ich machte nie eine bessere Entscheidung, als diese Sekte zu gründen. Damit konnte ich schon so vielen Leuten helfen. Leute, die ihr Leben schon fast verloren hatten. Beruf, Freundschaften oder Liebe. Wenn sie alles schon verloren haben, kommen sie zu uns. Bei uns spüren sie Geborgenheit.“
Im Innern fand Thomas einen Post-It-Zettel auf dem die Telefonnummer von Gloria stand. Er schüttelte den Kopf und warf den Prospekt mit samt der Telefonnummer in den nächsten Mülleimer. Dann ging er einige Schritte, doch plötzlich kehrte er wieder um. Als er wieder beim Mülleimer war, nahm er den Prospekt heraus und zeriss diesen. Danach warf er die Teile wieder in den Kübel.
Der Fussgängerstreifen
Es war genau 11:55 Uhr als Thomas zu dem vieldurchquerten Fussgängerstreifen an der Lanzengasse gelangte. Die Ampel war auf rot und nebst Thomas stiessen nun immer mehr Leute zu der wartenden Masse hinzu. Thomas Augen schweiften über all die Leute.
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Da entdeckte er mitten in dem Getümmel, einen Mann mit einem Aktenkoffer, der eine Badehose trug. Thomas runzelte die Stirn. Und wenige Sekunden später fand er eine alte Oma in einem Skirennanzug.
Thomas fragte sich, warum die beiden solch irrwitzige Kleidung trugen. Sofort versuchte er die Antwort zu finden;
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Der Mann mit dem Aktenkoffer:
Auf seinem teuren Aktenkoffer war sein Name eingraviert: Heinz Becker. Heinz war um die 55 und hatte graues (5 cm langes) Haar. Sein Bart hatte er sich schon seit mindestens 4 Tagen nicht mehr rasiert. Ein solch unrasierter Bart passte so gar nicht zu seinem Erscheinungsbild.
Und das Gestell seiner grauen ultra-leichten (2000 Franken teuren) Brille war an einem Ecken abgeschlagen. Ausserdem hatte er seine (ebenso teure) Uhr vorgestern nicht der Sommerzeit angepasst. Thomas war sich sicher: Heinz hatte Streit mit seiner Frau. Doch was hatte das damit zu tun, dass Heinz mit Badehosen herum lief? Laut Ehering –den Heinz immer noch anhatte, weil er sie ja eigentlich noch liebte – hiess seine Frau Inge. Inge war kaufsüchtig. Sie kaufte alles, was genug teuer war, ihren Ansprüchen zu genügen. Mit der Zeit störte das Heinz und er hörte einfach auf ihr Geld zu geben. Im Gegenzug hörte Inge auf zu kochen und zu putzen und eben auch die Wäsche zu waschen. Heute Morgen fragte Inge ihren Mann – der mit dem Schlafanzug zum Frühstück kam –„Na? Keine Kleider mehr?“
Da erwiderte Heinz: „Meinst du ich sei abhängig von dir und würde aufgeben? Niemals!
„Willst du etwa mit den Badehosen zur Arbeit gehen?“ fragte seine Frau zynisch.
„Wenn es nötig ist.“ Sagte ihr Mann cool und strich sich ein Marmeladenbrot. Inge war geschockt. Und tatsächlich, einige Minuten später ging ihr Mann mit den Badehosen und seinem Aktenkoffer in der Hand aus der Haustür.
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Die alte Oma:
Sie war mindestens 20 Jahre älter als Heinz, der rechts neben ihr stand und sie genau so komisch ansah, wie sie ihn. Thomas fand ihr Name nach längerem Schauen nicht heraus. Aber nannte sie jetzt einfach mal Marta. Martas Skirennanzug war wie neu. Sie musste ihn erst heute Morgen gekauft haben, da das Preisschild noch dran war: „500 Fr.“
„Teures Ding“ dachte Thomas und war sich immer noch unsicher, warum sie einen solch teuren Anzug kaufte.
Marta war für ihr Alter stark geschminkt, ihr Aussehen war ihr offensichtlich sehr wichtig. Und die Anti-Aging-Crémes in ihrer halboffenen Handtasche hatten anscheinend nicht gewirkt. Also musste sich Marta etwas Anderes ausdenken, dass ihre verrunzelte Haut straffen liess. Na also! Und was wäre da besser als ein enger Skirennanzug? „Obwohl“, dachte Thomas“ modisch ist es ja nicht.“
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Dann plötzlich, fing die ganze Schar an zu laufen und Thomas erschrak kurz, weil er so in seinen Gedanken vertieft war. Dann ging auch er über den Fussgängerstreifen. Am anderen Ende angekommen, sah er wie die Oma rechts abbog. Wahrscheinlich wollte sie in den wenige Meter von hier entfernten Lebensmittelladen. Inges Mann hingegen bog links ab. So wie Thomas.
Echnatons Nachfolge
Als letztes war noch das Bad, er ging hinein, dort sah er, wie der Einbrecher mit dem Kopf in der Schiebetür der Dusche eingeklemmt war und Pia sagte: „ Noch einen klitzekleinen Wank und ich drücke.“
„ Nein, nicht drücken.“ Erwiderte der Einbrecher verzweifelt. Seine Lage war hoffnungslos.Â
Thomas kicherte ganz leise, sodass es Pia nicht hören konnte und schüttelte den Kopf.
„ Schiebetüren sind einfach so praktisch.“ Sagte Pia
Dann reichte er ihr das Seil, sie nahm den Einbrecher wieder aus der Schiebetür und fesselte ihn. Wenige Sekunden später kam die Polizei. Sie nahmen den Einbrecher mit. Thomas und Pia fiel ein Stein vom Herzen.
Ein paar Minuten später sassen beide auf dem Balkon von Thomas – von dem man eine schöne Aussicht auf den See hatte - und tranken ein Espresso.
„ Warum wolltest du mich eigentlich besuchen kommen?“ fragte Thomas
„ Ich dachte, ich komme mal. Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen.“
„ Die Pia, die ich kenne, kommt nicht einfach so.“
„Ach, weißt du. Der Grund weshalb ich kam, ist – wenn ich denke, was heute passiert ist - ein solch unwichtiger.“
Thomas schaute sie mit fragendem Blick an.
„ Kannst du dich noch an Echnaton erinnern?“
„Hhmm, ja, was ist mit ihm?“
„ Er ist gestorben. Diabetes.“ Pias Augen wurden feucht.
Thomas entschied sich gegen den Satz: „ Diabetes. Das gibt’s auch bei Katzen?“, stattdessen sagte er: „ Mein Beileid.“
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Pia war eine starke Persönlichkeit, aber wenn es um ihre Rassenkatzenzucht ging, war sie immer sehr sensibel. Dass sie ihr Weinen unterdrücken konnte, verwunderte Thomas.
„ Es ist nun schon einige Wochen her. Ich muss stark sein.“ Sie machte eine kleine Redepause und sprach weiter: „ Nun, Ramses - der älteste der Jungen von Nophretete - ist noch nicht geschlechtsreif und ich suche eine Partner für Kleopatra (die dritte). Ich hatte Echnaton dafür vorgesehen und wie gesagt Ramses ist keine Alternative. Und bevor du fragst; Tutan-Chamun (der zweite) und Kleopatra (die dritte) passen nicht, das gäbe zu kleine Ohren.“
„Herje, Pia, du und deine Siamkatzen. Komm zum Punkt.“
„Ich brauche Rolf.“ Sagte sie kurz und knapp.
Thomas verschluckte sich an seinem Espresso und fing an zu husten.
„Rolf? Bist du sicher? Er ist nur eine Hauskatze. Rolf ist….“
„…perfekt.“ Beendete sie den Satz.“ Ich weiss, dass hört sich jetzt ein bisschen abwegig an, aber ich habe keine Zweifel. Er ist zwar keine Rassenkatze, aber er hat eine interessante Zeichnung, ich habe schon Ideen was ich mit seinen und Kleopatras Jungen anstellen könnte. Je nach Geschlecht könnte man sie mit einen von Mentuhotep vermehren.“
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Thomas schüttelte den Kopf und lachte Pia an. Er war erstaunt an Pia, wie schon viele Male an diesem Tag.
„ Das bedeutet okey, hab ich recht?“ sagte Pia, stand auf und fragte: „Wo ist er?“
„ Na gut, ich zeig ihn dir.“
Rolf schlief immer noch in seinem Bettchen, hatte ihn den letzten paar Stunden keinen einzigen Wank gemacht und schnurrte laut. „ Das ist er.“
Pia schaute ihn an, als wäre er ein Gemälde von Picasso. „Ja“ Sagte sie immer wieder langsam. Thomas sagte gar nichts, liess Pia. Als sie fertig war, fragte sie: „ Wie alt ist er?“
„ Ehm, etwa sechs, vielleicht sieben. Wie lange brauchst du ihn?“
„ Drei Monate, mindestens.“
„So lange?“
Pia nickte.
„ Na gut, bei dir hat er es sicher sehr gut.“
Pia lachte und sagte: „ Du bist super! Kann ich ihn schon morgen abholen?“
„okey“
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Die Schiebetür öffnete sich und Thomas ging in den Bahnhof. Der Mann in der Badehose – er lief ungefähr hundert Meter vor Thomas – war auch im Bahnhof.
Die Entlassung
Thomas selbst war um die dreissig, obwohl er, wie es sich schon viele von seinen Freunden getraut haben zu sagen, einige Jahre älter aussah. Thomas war ein ganz gewöhnlicher, langweiliger und normaler Mensch. Jedoch meistens noch gewöhnlicher, langweiliger und normaler wie jeder andere. Und weil er immer noch mehr von alle dem war, wie jeder andere, war er eben doch ganz anders.
In seinen dunkelbraunen Augen spiegelte sich Langeweile. Thomas war arbeitslos. Thomas war nicht stolz darauf, sagen zu müssen, dass er arbeitslos war. Aber noch viel weniger stolz war er darauf, zu sagen, er sei ein arbeitsloser Banker.
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Oh, wie gut konnte er sich noch an seine kalte, eiserne Entlassung erinnern. Sie war erst sechs Wochen her. Doch noch mehr konnte er sich an seinen Chef erinnern. Sein Chef hiess Herr Schmidt. Harald Schmidt war klein, ungefähr 1.65m, höchstens 1.70m. Trotzdem war er ganz und gar keine Kleinigkeit. Harald hatte dieses Gesicht, diese Haarfrisur, diesen Kleiderstil, der jedem verriet, dass er (im Gegensatz zu Thomas und seinen Arbeitskollegen) etwas ganz Besonderes war.
Sein Gesicht: Nie hatte Thomas ein Lächeln in ihm entdeckt. Stets war es eisern und kalt. Harald hatte stark ausgeprägte Augenbrauen, die er, wenn er so richtig böse war (das war er leider meistens) spitz Richtung Nase drücken konnte.
Die Augen hingegen waren andauernd bis zur Mitte zu. Thomas fragte sich viel, wie Harald, trotz seinen halb zu gedrückten Augen, immer alles sehen und kontrollieren konnte.
Haralds Mund war klein. Doch das, was da heraus kam, war meistens unerträglich laut.
Seine Wangen waren dick und plump. Und aus seinem kugelrunden, dicken Kopf strahlte stets  eine starke Unzufriedenheit.
Seine Haarfrisur: Haralds Haare waren kurz geschnitten. So, dass man, wenn er sich bisweilen den Kopf anstiess (und dabei laut aufjaulte) eine dicke Beule durch die Haare hindurch sehen konnte. Wenn das passierte, wurde Harald immer tomatenrot und fluchte so laut und ungeheuerlich, dass es einer Bombendetonation glich.
Sein Kleiderstil: Harald war ein ordentlicher Mensch. Seine Kleidung auch. Er trug ausschliesslich Anzüge und weisse Hemden. Als Bankdirektor musste er das auch. Doch der mütterliche Geruch an Haralds Anzügen und strahlend weissen Hemden verriet Thomas, dass Haralds Mutter noch nicht gestorben war und immer noch im Stande war Wäsche zu waschen.
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Thomas meinte, sein Chef sei einfach nur lächerlich. Denn all die Meckerattacken, ignorierte er mit der Zeit einfach. Und eigentlich musste Thomas sogar zugeben, dass er seinen Chef mochte und er wusste selbst nicht so genau, warum. Jedenfalls mochte er den Job und als er gefeuert wurde, war er sehr enttäuscht.
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Es war ein Donnerstag. Ein windiger, regnerischer Donnerstag. Der Bank ging es schlecht. Der Umsatz war zu niedrig. Harald wusste es. Thomas wusste es. Alle wussten es.
Thomas war gerade dabei, einen Brief für einen verärgerten Kunden zu schreiben, als Harald an seinen Schreibtisch trat. Er hüstelte kurz um sich seiner Beachtung zu vergewissern und Thomas schaute auf.
„Ich muss ihnen leider mitteilen, aufgrund schlechten Umsatzes der Bank in den letzten Monaten, dass wir sie nicht mehr gebrauchen können“. Sagte Harald kühl, ohne jegliches Mitleid.
Thomas verstand nicht recht: „Was? Wie soll ich das verstehen?“ Eine klitzekleine Hoffnung in Thomas erhielt sich am Leben, das Harald es nicht so gemeint haben könnte, wie es klang.
„Sie sind gefeuert.“ Thomas Hoffnung erlosch schlagartig. Er hatte es befürchtet, schon seit langer Zeit.
„ Also das heisst, ich muss jetzt gehen?“
„ Natürlich heisst das, dass sie jetzt gehen müssen. Was denn sonst? Das Namensschild geben sie bitte Frau Giezendanner ab, damit sie es beseitigen kann.“ Sagte Harald, huschte wieder an sein Pult und machte es sich in seinem (zu grossen) Chefsessel bequem.
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Die Bewerbungen die Thomas seither verschickt hatte, hatten zu nichts geführt. Andauernd die gleichen Antworten:
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Geschätzter Herr Kohler
Herzlichen Dank für Ihre Bewerbung.
Es tut uns leid, aber wir haben uns leider für einen anderen, besser qualifizierten Bewerber entschieden. Wir wünschen Ihnen in ihrer weiteren Jobsuche trotzdem viel Erfolg.
Herzliche Grüsse und besten Dank
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Susanne Meier
Personalverantwortliche
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Nichts davon war ernst gemeint. Alles Lügen. Als ob es dieser Susanne Meier Leid tat, dass Thomas diesen Job nicht bekam. Da hatten sich ja noch tausend andere beworben und 999 davon mussten sowieso leer ausgehen. Und ganz sicher interessierte sich diese Susanne Meier kein bisschen, ob Thomas trotzdem noch Erfolg bei seiner Suche haben wird oder nicht. Aber diese Personalverantwortlichen mussten das halt schreiben, aus Höfflichkeit. Wenn jeder das schreiben würde, was er denkt, dann hätte der Brief von dieser Susanne wohl ganz anders ausgesehen:
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Grüezi,
Für diese Stelle haben sich genau 999 andere beworben. Meinen sie im Ernst, dass wir dabei SIE auswählen würden? Ihr Lebenslauf ist ja langweiliger als derjenige einer Katze. Sie haben Glück, dass ich mir überhaupt die Zeit genommen habe, ihn überhaupt durch zu lesen. Wo ich ja eigentlich überhaupt keine Zeit für solchen Mist habe. Andauernd habe ich Stress. Immer muss ich das und dies machen; „ Frau Meier, könnten sie mir bitte noch eine Kopie dieses Blattes herstellen“. Und: „Ach Frau Meier, sie wissen ich bin im Stress, sie wären doch sicher bereit, mir diesen Bericht zu schreiben.“ Es ist zum verrückt werden.
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Susanne Meier
Personalverantwortliche
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Thomas lachte leise, als sich die Vorstellung eines solchen Briefes in seinem Gehirn breit machte.
Die Persönlichkeit namens Pia
Nach genau 3 Minuten und 36 Sekunden erreichte Thomas sein Ziel; Den Hauptbahnhof. Es war 12:12 Uhr. Die Schiebetür am Nebeneingang des Bahnhofs erinnerte Thomas an Pia. Vor zwei Wochen hatte er wieder mal eine Begegnung mit Pia. Es passierte an einem Samstag. Thomas war einkaufen gegangen. Er hatte sich schon lange vorgenommen die alten, schäbigen Balkonpflanzen zu ersetzten. Nach dem Einkauf waren Töpfe, Erde, Samen, Handschuhe (fürs Gärtnern) und eine neue Giesskanne im Kofferraum seines heruntergekommenen Volvo. Thomas war vollkommen zufrieden mit seinem Einkauf und freute sich sogar (was er nicht gedacht hätte) auf das Gärtnern. Als er gerade vollgepackt den Hausschlüssel aus seiner Hosentasche fischen wollte, merkte er; die Haustüre war offen. Nur einen klitzekleinen Spalt, aber eben offen.
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Hatte er sie nicht zu gemacht?
Doch!
Oder doch nicht?
Doch, ganz sicher!
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Thomas legte das ganze Garten-Zeug ganz leise und langsam auf den Boden im Treppenhaus und lauschte. Nichts zu hören. Er wusste nicht was machen. Es musste ein Einbrecher sein. Er hatte abgeschlossen. Er war sich so sicher. Dann hörte er es, ein lautes schepperndes Klirren. Nein! Bitte nicht die Vase von Tina. Sie hatte sie ihm doch zum Geburtstag geschenkt. Sollte er die Polizei anrufen, oder den Einbrecher von hinten überraschen? Oder gar schnell Marta – die hilfsbereite Tratschtanten-Nachbarin von nebenan – fragen? Dann, ein dumpfer Schlag. Fällt da jemand zu Boden? Sind das zwei Leute, da drinnen? Hat da gerade jemand eine hilflose Person ermordet, oder ist das alles nur ein böser Streich? Mit der Zeit fing er an zu schwitzen. Thomas hielt es nicht mehr aus und stürmte hinein. Noch bevor er Luft schnappen konnte, sagte jemand: „ Es ist genau so, wie es aussieht, Thomas.“
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Ein Mann lag am Boden. Tot? Das konnte Thomas nicht sagen. Vielleicht war er nur bewusstlos. Er trug einen schwarzen Rollkragenpullover und eine Skimaske ebenso schwarz wie sein Pulli. Tatsächlich, es konnte nur ein Einbrecher sein. Die Frau mit dem Wallholz in der Hand war tatsächlich Pia. Plötzlich bewegte sich der Mann am Boden.
„Ruf die Polizei an!“ sagte Pia und öffnete ihre Handtasche.
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Nachdem Thomas diesen Rat befolgte, stürmte er wieder in den Flur, wo Pia und der Einbrecher miteinander kämpften. Offensichtlich stellte sich der Einbrecher nur bewusstlos, um nachher Pia angreifen zu können. Er hielt sie von hinten an den Haaren und wollte gerade hinaus rennen. Da machte Pia einen platzierten Schlag mit dem langen Absatz ihres rechten Schuhs auf den Fuss ihres Gegners. Der jaulte auf und blieb stehen. Er war aber immer noch standhaft. Dann nahm sie einen Pfefferspray aus ihrer Handtasche und spritzte auf den Einbrecher, der wieder laut aufjaulte, seine Hände vor das Gesicht hielt und langsam auf die Knie sank. Thomas stand immer noch wie angewurzelt im Flur und hörte wie Pia sagte:
„ Seil. Ich brauche ein Seil.“
„Du willst den Typen fesseln?“ fragte Thomas entgeistert.
„ Ja, was denn. Willst du etwa, dass er uns entwischt?“
„ Ich hole eins.“ Sagte Thomas und ging in den kleinen Abstellraum gegenüber der Küche. Wo war es denn? Verdammt, wenn er mal eins brauchte, war es wieder nirgends. Er durchsuchte den ganzen Raum, stellte Schachteln um und öffnete (wie es ihm vorkam) tausend Schubladen, bis er endlich das Seil fand.
Als er wieder in den Flur kam, war niemand mehr da, weder Pia noch der Einbrecher. Im Wohnzimmer war auch niemand, ausser Rolf, Thomas Kater, den die Sache wohl kein bisschen beunruhigte und schnurrend in seinem Katzenbettchen lag. Auch im Schlafzimmer war keiner.
 „Scheisse“, dachte er,“ Wo sind sie hin?“. Auch in der Küche war keine einzige Menschenseele. Langsam kribbelte es in Thomas Körper. Ist der Einbrecher verschwunden und hat er Pia mitgenommen, als Geisel?
Die Erlösung
Einen Blick auf die Bahnhofuhr verriet ihm, dass er immer noch genug Zeit hatte. Er liess sich auf einer Bank nieder und dachte nach; Er hatte mal eine Frau, einen Job und einen Hund, später eine Katze. Und davon hatte er nichts mehr. Okey, Rolf würde er in etwa eineinhalb Monaten wieder bekommen. Aber das war nur ein kleiner Trost. Zwar vermisste er Rolf, aber eben auch Lola, das Dasein als Banker und Hugo – sein Langohrhund, der einfach verschwunden ist. Als Ersatz für Hugo nahm er Rolf bei sich auf (er war schon so dick, als er zu ihm kam). Manchmal hätte er weinen können. Er ging zurück. Zurück ins Caffe. Die zerrissenen Teile im Mülleimer waren schon unter einem Pappbecher, einem Kaugummi und einem Taschentuch versteckt. Er nahm sie heraus, ging zu der Bank, auf dem er vorhin sass und versuchte die Teile wieder richtig zurechtzulegen. Dann rief er Gloria an.
„ Ich wusste, dass du mich anrufen würdest. Nächsten Samstag um neun Uhr. Die Adresse steht aufm Prospekt. Hundert Franken.“
„ Was ist mit Hundert Franken?“
„Das kostet es, in der Woche. Kannst es gleich bar mitbringen.“
„ Das ist ja billig.“
„Sag ich ja…… Gott begleite dich. Amen.“
„Gott begleite mich.“ Erwiderte Thomas und legte auf.
 Am nächsten Samstag ging er hin. Er freute sich.
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Gloria begrüsste ihn schon vor der Wohnungstür: „ Schön, dass du zu uns gefunden hast. Hast du die hundert Franken?“
„Ja, hab ich. Hier.“
„ Sehr schön und jetzt herein.“
Glorias „Tempel“ war eine Zweizimmer-Wohnung, in der sie offensichtlich nicht nur betete, sondern auch lebte. Die ganze Wohnung war schäbig und kahl eingerichtet. An den Fenstern hingen keine Vorhänge. An den Wänden keine Bilder. Der Boden war mit billigem Linoleum belegt worden. Und Thomas hatte den Anschein, dass die Klingel kaputt war und Gloria deshalb schon herunter gekommen war. Sie führte ihn in einen neuen Raum. Dieser war ganz anders. Thomas stand plötzlich auf einem roten Teppich. Auch die Wände waren rot. Die Lampe im Zimmer war warm, aber trotzdem spärlich und das Fenster im Raum hatte einen Vorhang, einen roten Vorhang. Zuerst dachte Thomas, das Ding in der Mitte – um das alle anderen herum sassen – sei eine Feuerstelle, aber danach merkte er, dass es wohl eine Art Altar sein sollte. Es waren noch ungefähr acht Leute hier, die Thomas nun ganz gespannt ansahen.
„Das ist Thomas, er ist bereit, Mitglied von uns zu werden. Gott will es so.“
„Gott will es so.“ wiederholten die anderen Sektenmitglieder einstimmig.
„Thomas setz dich zu uns.“ Sagte Gloria und auch sie hockte im Schneidersitz – wie alle anderen – auf den Boden. Plötzlich fing Gloria etwas an zu singen. Thomas verstand kein Wort. Offensichtlich kein Deutsch.
„Thomas, du bist nun Sektenmitglied des „heiligen Ordens“. Um Gott zu danken, bitten wir dich, zweihundert Franken – für Gott  – abzugeben.“
Thomas schaute in sein Portemonnaie, doch er hatte nur noch achtzig drinnen.
„Ich habe nicht genug Geld.“
Zuerst wurde Gloria entsetzt, dann böse und danach zornig, sie fing an Wut in ihrem Körper aufzubauen und genau als sie ihr Mund auftat, wachte Thomas auf. Er setzte sich von der Bank auf und schaute auf die Bahnhofsuhr. Er schlief drei Stunden und hatte seinen Zug verpasst. Er hatte einen Alptraum und war noch nie so froh, nur geschlafen zu haben.