Kurzgeschichte
Herr Lehmann

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"Herr Lehmann"
Veröffentlicht am 29. März 2012, 48 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Herr Lehmann

Herr Lehmann

Beschreibung

Eine Geschichte über Wochenendheimfahrer und deren Familien.

Dies ist die Geschichte von Herrn Feldmann. Ich kenne Feldmann jetzt schon etwa fünf Jahre. Ich habe jede Woche etwa fünf Stunden mit Feldmann verbracht. Wir trafen uns immer im ICE. Ich fahre jeden Freitag von München aus nach Hause zu meiner Familie. Das fing damals an, als meine Firma mit einer anderen Firma fusionierte und im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen meine komplette Abteilung aufgelöst worden war. Die Unternehmensberatung hatte aber meine überdurchschnittliche Leistung, meine Teamfähigkeit und mein Engagement für die Firma bemerkt und deshalb der neu entstandenen Firma geraten mich weiterzubeschäftigen, nur eben in München statt in Hildesheim. Also stellte mich ein fünfzigjähriger Unternehmensberater, den ich vorher noch nie in meinem Leben gesehen hatte vor die Wahl entweder nach München oder zum Jobcenter um die Ecke zu gehen. Der Mann hatte da keine Vorstellung von. Ein sesshaftes Leben kannte der ohnehin nicht. Das war kein Mensch, der ein buntes kritzeliges Bild mit der Aufschrift „Für den besten Vati der Welt“ in seinem Büro hatte. Der Mann hatte noch nicht mal ein eigenes Büro. Er zog von Firma zu Firma und hinterließ eine Spur der Verwüstung. Dieser Mensch war es gewohnt in Hotelzimmern mehr Zeit zu verbringen als in seiner eigenen Wohnung, wie konnte er da verstehen, was es für mich bedeutete meine Familie nur am Wochenende zu sehen. Dieser Mann war vom konventionellen Leben abgehoben, jung und dynamisch war er; wäre sein Anzug nicht so gewöhnlich gewesen, sein Vokabular so spröde und seine Brille so bieder, hätte man ihn für einen Bohemien halten können. Dieser Mann hatte keinen Boden mehr unter den Füßen, wie sollte er dann verstehen, wie es einem geht, dem der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Wie sollte ich ohne meine Familie leben, die mir Halt gab und Sinn im Leben. Ich schuftete doch nicht fünf Tage die Woche für eine Firma anonymer Aktieninhaber, nein für meine Familie leistete ich gute Arbeit. Die Aussicht von ihr getrennt zu leben erschien mir unmöglich.

Aber ich hatte keine Wahl. Obgleich das Jobcenter deutlich näher gewesen wäre, war es nicht wirklich eine Option. Ich versuchte auch nicht ernsthaft meiner Frau einen Umzug nach München schmackhaft zu machen. Ich konnte es nicht von ihr verlangen. Ebenso wollte ich auch nicht unsere Kinder entwurzeln.

Also wurde ich zum Wochenendheimfahrer. Ich überlegte vorher noch dem Unternehmensberater einen kleinen Einblick in mein Gehirn zu geben, aber als ich ihn sah, in seinem Anzug, mindestens sechzig Jahre alt (das er gerade erst vierzig geworden war erfuhr ich erst später) die Augen ohne Glanz, da konnte ich nicht. Zumindest redete ich mir das so ein. Wahrscheinlich hatte ich Angst, dass ich noch gefeuert würde, wenn ich mich auffällig benahm und der Unternehmensberater wirkte auf mich eher wie einer der grauen Männer aus Michael Endes Momo als wie ein erbärmliches Häufchen Elend. Es schien so als wäre die Vorstellung von Glück ihm gar nicht bekannt, zumindest sah ich ihn nicht einmal lachen. Er grinste höchstens, wenn er mal Witze erzählte. Es waren immer zynische Parodien auf seinen Beruf oder auf die Leute, die er entließ und sein Grinsen war mehr Verlegenheit als wirkliches Lachen. In gewisser Weise war auch er dafür verantwortlich, dass Zeit eingespart wurde. Diese verrauchte er zwar nicht, lebte aber vom monetären Gegenwert dieser gesparten Zeit. Wenn ich ihn heute vor mir sehe verschmilzt er in der Tat mit meinen Kindheitsvorstellungen von den grauen Männern und im Rückblick würde ich ihm gerne mal seine Zeitsparkasse stürmen und seine Lebensgrundlage davonschweben lassen. Aber das war damals nur Material für Tagträume und Wunschphantasien. Fest steht, dass ich ihm damals meine Meinung nicht mit auf den Weg gab, sondern mir eine Jahreskarte für die Bahn kaufte. Nun saß ich jeden Freitagabend und jeden Montagmorgen im ICE. Nach ein  paar Wochen hatte es sich so eingespielt, dass ich immer an derselben Stelle in Wagen 20 saß, weil ich herausgefunden hatte, dass es von dort aus nicht weit zum Ausgang war und vielleicht auch weil der Mensch ein Gewohnheitstier ist. Ich saß also Woche für Woche an dem Fensterplatz mit Tisch und nach und nach bemerkte ich, dass da noch ein anderer Mann immer in diesem Wagen saß, Herr Hoffmann.

Herr Hoffmann war etwas älter als ich, hatte eine Glatze und trug neben einer schwarzen Laptoptasche immer sein Blackberry und eine zart grüne Aktentasche bei sich. Er hatte ein Faible für italienische Anzüge, wobei seine etwas abgetretenen Schuhe immer den feinen Eindruck seiner maßgeschneiderten Kleidung sabotierten. Er trug eine Brille, die er in den zehn Jahren nicht wechselte, die seine Augen betonte. Mit den Jahren schob er einen wachsenden Bauch vor sich her und schnaufte öfter. Die Reisezeit verbrachte Hoffmann in der Regel damit, ein Buch zu lesen oder eine Zeitung, wobei er in der Regel die FAZ oder die ZEIT dabei hatte, was verwunderte, da er ja immer in München zustieg. In den zehn Jahren sah ich ihn jedoch nie seinen Laptop herausholen und etwas arbeiten, wie ich es tat. Denn ich wollte das Wochenende über mit meiner Familie zusammen sein und nicht arbeiten, weswegen ich die Zugfahrten nutzte um Präsentationen zusammenzustellen oder ähnliches, was man eben wochenends an Arbeit erledigt.

Was Herr Hoffmann arbeitete konnte ich nie herausfinden. Er telefonierte zwar immer gerne und viel während der Fahrt und manchmal auch Geschäftliches, aber ich konnte nie exakt herausfinden was er machte. Auch habe ich nie mit Herrn Hoffmann gesprochen und ich weiß nicht ob er mich auch in der Art wahrnahm wie ich ihn. Ich telefonierte nicht im Zug und war einfach nur da jede Woche, weswegen ich nicht so auffiel. Auch stieß ich optisch nicht aus den anderen Fahrgästen heraus, wie es Hoffmann tat. Ich wählte meine Garderobe konservativ, weil ich ja nicht wusste, wie meine Mitarbeiter und Vorgesetzten gestrickt waren und da zog ich die Sicherheit von Altbewährtem vor. Es stellte sich heraus, dass mein Chef ein vernünftiger und angenehmer Mensch war, der Achtung erwartete, aber gegenüber Anregungen kein taubes Ohr hatte. Man hieß mich in München herzlich Willkommen und ich hatte das Gefühl, dass man in der Münchner Dependance meiner Firma die Fusion weniger als Übel, sondern als eine Chance betrachtete.

Auch Hoffmann schien erfolgreich zu sein. In seinen Telefonaten duzte er sich sogar mit seinen Vorgesetzten. Ich wusste zwar nicht was sie produzierten, aber das was sie herstellten schienen sie gut herzustellen. An manchen Tagen schien Hoffmann sogar zu Scherzen aufgelegt. Ebenso, wenn er mit seiner Familie sprach. Hoffmann hatte drei Kinder und eine Frau. Die Kinder schienen auf dem richtigen Weg; schulisch und überhaupt. Ich selbst habe zwei Kinder ein Junge und ein Mädchen, die damals dreizehn und zehn Jahre alt waren. Anfangs schmerzte es sehr die Familie nur an den Wochenenden zu sehen. Doch immer mehr merkte ich, wie ich am Familienleben nicht mehr teilnahm. Wenn es ging verschwieg mir meine Frau negative Nachrichten, bei den Telefonaten unter der Woche. Sicher nur mit den besten Motiven, wahrscheinlich wollte sie mich schonen, aber wenn die Sache die mir verschwiegen wurde am Wochenende noch akut war und ich von ihr irgendeine Ausrede zu hören bekam warum sie es mir unter der Woche nicht erzählt hatte waren mir ihre Motive eigentlich egal. Ich bekam das Gefühl ich sei nur noch ein Verwandter, oder Freund, der ab und zu zu Besuch kommt um dann ein auf Hochglanz poliertes Bild der Familie serviert zu bekommen. Aber wirklich beschäftigen tat mich das zu diesem Zeitpunkt noch nicht, denn die Woche über war ich zu beschäftigt um noch an meine Familie denken zu können. Ich traf in München in der Firma noch auf andere Wochenendheimfahrer mit denen ich mich anfreundete und abends auch mal wegging. Herr Hoffmann schien es ebenso zu halten, wahrscheinlich bin ich sogar erst durch ihn auf die Idee gekommen nach anderen Wochenendheimfahrern in der Firma zu suchen. Denn er telefonierte auch mit diesen Menschen und dann berichtete er immer von Unternehmungen der letzten Woche, wobei ich selbstredend auch hier einige Anregungen übernahm. Gegenüber seinen Münchner Freunden äußerte er auch das erste Mal, dass er ungern wochenends nach Hause fuhr. Natürlich nur aufgrund eines anstehenden Besuchs der Schwiegermutter, aber trotzdem machte mich seine Äußerung stutzig. Selbst ein komplettes Familientreffen mit der Verwandtschaft meiner Frau hätte mir nicht die Vorfreude nehmen können meine Familie zu sehen.

Es war eigentlich alles in Ordnung, als ich in diesem Sommer mit meiner Familie in meinen ersten Sommerurlaub als Wochenendheimfahrer fuhr. Wir flogen auf irgendeine Insel mit viel Sonne, viel Touristen viel zu teuren Hotels und wenig Platz. Doch irgendwie wollte die Idylle nicht aufkommen. Ständig gab es Streit wegen Nichtigkeiten. Ich redete mir damals ein, dass das nun mal so war, die Kinder kamen in die Pubertät, zumindest das eine. Ich war auch von der Arbeit viel zu abgekämpft um mir darüber Gedanken zu machen. Wenn man keine Familie hat, die auf einen wartet kann man viel länger arbeiten, merkt jedoch nicht, dass das nur kurzfristig gut geht. Also erholte ich mich so gut es ging und nach der Rückkehr bei meiner ersten Abfahrt kam es mir so vor, als würde ich in die Normalität zurückkehren, wobei eigentlich das Familienleben, also die vergangenen drei Wochen die Normalität sein sollten.

Natürlich hatte sich viel Arbeit angesammelt über die Ferien und auch abends hatte ich meinen Freunden viel zu erzählen und Bilder zu zeigen aus dem Urlaub. Doch im Prinzip trieb mich auch eine innere Spannung gen Freitag. Nicht unbedingt wegen der Familie, da befürchtete ich weitere Streitereien, sondern ich wollte wissen, wie denn Hoffmanns Urlaub gewesen war.

Vor den Ferien hatte ich gehört, dass er wohl nach Australien zum Schnorcheln ans Great Barrier Reef fahren würde. Doch in den Gesprächen hörte ich, dass es kein allzu großer Erfolg gewesen war. So hatte er einem Australier einen Zahn ausgeschlagen, weil dieser Hoffmanns Tochter zu nahe gekommen war, seine Frau habe sich beschwert, er würde zu viel arbeiten und schließlich musste er dann auch wegen seiner Arbeit früher abreisen. Nun sei die Familie zurück und er fürchte seine Heimkehr, da man ihn nun hassen würde. Ich bedauerte Hoffmann und freute mich, dass ich derartige Probleme nicht hatte, sondern ein komplett normales Familienleben führte. Zwar eines, das sich von mir immer weiter entfernte, aber es war doch völlig normal. So dachte ich zumindest, als ich nach der ersten Woche nach Hause fuhr und hörte wie Herr Hoffmann mir schräg gegenüber auf der anderen Seite des Ganges telefonierte. Vielleicht redete ich mir mein Leben sogar noch schöner und dachte nicht mal an die Entfremdung, so genau weiß ich das nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich Herrn Hoffmann bedauerte, wie er da seine Tochter um Verzeihung bat und versuchte seine Frau zu besänftigen, kurz gesagt versuchte den Scherbenhaufen zusammenzukehren, den sein Urlaub hinterlassen hatte. Ich selbst erlebte zwei ruhige Tage zu Hause, nichts spektakuläres passierte. Im Urlaub hatten meine Familie und ich einen Weg gefunden  miteinander umzugehen und den hatten wir noch nicht ganz verlernt. Doch innerhalb der nächsten Wochen verloren wir das Wissen aus dem Urlaub wieder. Ich merkte wieder dass ich Woche für Woche wie ein Fremdkörper in unser Familienleben eindrang, ja manchmal kam ich mir vor, wie ein menschlicher Splitter, der im Fleisch steckte. Mir waren die Abläufe des Haushalts nicht mehr vertraut, ich wollte mein Fehlen unter der Woche dadurch ausgleichen, dass ich mich am Wochenende stärker um meine Kinder kümmerte, aber natürlich hatte ich keine Ahnung, was in ihnen vorging, denn ich war auch mit ihrem Leben nicht vertraut. Bei meiner Frau merkte ich das ebenfalls. Sie war oft verspannt und hatte Kopfschmerzen, während ich da war und wäre mir der Gedanke daran zu denken nicht bereits absurd vorgekommen hätte ich ihr unterstellen müssen, dass sie mich betrügt.

Ich thematisierte diese Missstände ihr gegenüber, aber sie wusste auch keinen Ausweg, obgleich sie ihr ebenfalls aufgefallen waren. Ich beschloss mich um einen Job in der Nähe von Hildesheim zu kümmern um wieder zu Hause wohnen zu können. Meine Kollegen und Freunde in München meinten zwar es sei nur eine temporäre Krise zu Hause und ich solle mich nicht ins Bockshorn jagen lassen, aber ich war doch etwas alarmiert.

Doch es lief in der Regel so ab: Ich kam höchst alarmiert vom Wochenende nach München, schilderte dann meine Probleme den Freunden, die mir versicherten, dass sei alles halb so wild, Pubertät wäre nun mal eine Zeit in der Eltern die Kinder nicht erreichten, jede Ehe würde Krisen durchlaufen, erst Recht Fernbeziehungen und besonders dann wenn die Midlife Crisis vor der Tür steht und die Menopause.

Im Grunde genommen waren das ja auch stichhaltige Argumente von denen ich mich besänftigen ließ und spätestens am Mittwochmorgen ging ich wieder voll in meiner Arbeit auf und dachte an keine Probleme, bis dass Wochenende kam und meine Stimmung wieder trübte.

Herr Hoffmann war in dieser Zeit viel mit seinem beruflichen Aufstieg beschäftigt. Mehrfach war er in kurzer Zeit befördert worden und nun hatte er stärkere Argumente seiner Frau gegenüber, denn die Familie war in ein größeres Haus gezogen und genoss vielerlei Annehmlichkeiten, die als Gegenleistung verlangten, dass Hoffmann länger arbeitete. Auch mir wurde schließlich die Abteilungsleitung angetragen. Ich hatte sie eigentlich nie angestrebt und war innerlich eigentlich ja schon fertig mit München als Arbeitsplatz, aber meine Arbeit war gut, ein bisschen Glück war auch dabei und bei den Leuten die über die Besetzung der vakanten Abteilungsleitung entschieden handelte es sich um vernünftige bodenständige Menschen die nicht verlangten, dass man ihre Ärsche oral befriedigte um befördert zu werden. Ich ließ mich befördern und auf diese Weise beerdigten sich meine Pläne den Arbeitsplatz zu wechseln von selbst. Auch ich musste nun länger arbeiten, das bedeutete, das ich viel mehr schlief, wenn ich zu Hause war und ich wurde gereizter. Als meine Tochter eines Tages Schlagzeug übte, zu einem Zeitpunkt an dem ich meine Ruhe brauchte explodierte ich in einem Maß, wie ich es bei mir noch nicht erlebt hatte. In der Folge entfernten sich meine Kinder noch mehr von mir und meine Frau behandelte mich als sei ich ein rohes Ei oder eine tickende Zeitbombe. Doch das bemerkte ich weniger.

Zuerst hatte ich natürlich ein schrecklich schlechtes Gewissen und bat fast auf den Knien meine Tochter um Vergebung, denn sie hatte natürlich nicht wissen können, dass ich mich gerade hingelegt hatte, als sie beschloss loszutrommeln, doch mit den Wochen verschwand das Ereignis aus meinem Kopf und ich bemerkte positiv, dass meine Besuche zu Hause harmonischer abliefen.

Sie liefen jedoch auch oberflächlicher ab, dies bemerkte ich hingegen nicht, oder nur mein Unterbewusstsein. Über mehrere Wochen hinweg nahm die Kraft ab, die mich jede Woche freitags nach Hause zog. Immer leicht, aber doch kontinuierlich. Es kam, dass ich mir Arbeit aufs Wochenende legte. Nicht weil ich sie unter der Woche nicht schaffte, sondern, weil es mir zu unbequem gewesen wäre sie unter der Woche zu erledigen. Natürlich bedauerte ich meiner Frau gegenüber am Telefon ausgiebig, dass ich nun doch nicht würde kommen können und sie tat das ebenfalls, jedoch meinte ich es nur die ersten Male wirklich aufrichtig und ich befürchte, dass es ihr genauso ging. Es wurde mir zunehmend gleichgültig, ob ich nach Hause fuhr oder nicht. Natürlich telefonierte ich regelmäßig mit meiner Frau, da hatten wir eine lange Routine drin entwickelt, die wir auch stets beibehielten, aber ich musste sie nicht mehr in Person sehen.

Nun würden Zyniker meinen das würde an den Spuren liegen, die die Zeit am weiblichen Körper hinterlässt. Ich würde an dieser Stelle heftig widersprechen, schließlich waren meine Frau und ich uns nicht nur auf körperlicher Ebene nahe. Doch muss ich sagen, dass ich bei solchen Beurteilungen natürlich befangen bin. Und was als nächstes passierte unterstützt meinen Widerspruch nicht unbedingt. Dem unbeteiligten Beobachter mag es vielleicht sogar klischeehaft erscheinen, dass ich schließlich eines Morgens von Sonnenstrahlen geweckt wurde, die nicht durch die Fensterscheiben meiner Wohnung kamen, sondern von welchen, die quasi in weibliches Territorium eingedrungen waren. Ich kann ihnen heute bei bestem Wissen nicht mehr sagen, was mich damals ritt, als ich… sie wissen schon. Die beliebte feministische Erklärung mit ungezügelten Hormonen erscheint mir zu kurz gegriffen, zu pauschal, meine Selbstverteidigung, gestützt auf das Vorhandensein von Gärungsprodukten nimmt mich und meine menschliche Schwäche zu sehr aus der Schusslinie.

Ich hatte rumgefickt. Die Frau, neben der ich aufwachte und ich wir hatten uns nicht geliebt, wir hatten gevögelt, gefickt, gebumst, wie auch immer man es sagen wollte.

Sie hieß Gisela und war fünfzehn Jahre jünger als ich. Mein Ehering hatte die Nacht nicht überlebt, später würde mir mein Freund, auf dessen Party das Universum sich entschieden hatte Gisela und mich zusammenzubringen, ihn mir wiedergeben, mit der Bemerkung er habe im Hintern einer religiösen Skulptur aus Kenia gesteckt, die der Freund aus sozialem Gewissen im Weltladen erstanden hatte und nun als Staubfänger im Wohnzimmer präsentierte.

Gisela und ich sprachen nicht viel, wir waren beide beschämt; obwohl sie ledig war kam es ihr schäbig vor einen Mann in ihren reproduktiven Vorhof zu lassen, den sie noch keine 24 Stunden kannte.

Als ich Giselas kleines Appartement verließ ging mir Herr Hoffmann nicht mehr aus dem Kopf, der im Zug manchmal Mühe hatte seine Affäre mit Jasmin, dem Ex-Jordan-Boxenluder und nun Model in seiner Firma vor Beate, seiner Frau mit Gewichtsproblemen aber dafür keinen Rechtschreibproblemen, geheim zu halten. Aber nein, ich war doch nicht so. Das war ein einmaliger Ausrutscher dessen Ursachen individuell für den einen Abend zu begründen waren, deswegen musste ich auch meiner Frau nichts erzählen, denn eine andauernde Affäre seiner Frau zu verschweigen erachtete ich als Feigheit und schlechtes Benehmen.

Auch für die folgenden Affären fand ich zeitlich begrenzte Rechtfertigungen. Nur für Besuche zu Hause konnte ich immer seltener einen Grund finden. Wäre mir zu dieser Zeit mein Ich aus der frühen Umzugszeit über den Weg gelaufen, es hätte mir auf die Fresse gehauen, wenn ich nicht durch mein konstantes Fitnesstraining zum Zeitpunkt meiner Affären so viel stärker gewesen wäre als zu Beginn meiner Münchner Zeit. Und ich hätte eine Schelle durchaus verdient gehabt, mein Gott vielleicht hätte sie auch medizinische Wirkung gehabt.

Aber ich hatte Geld und Frauen was beides für das Ego nicht gesund ist, wenn man nicht weiß, wie man damit umzugehen hat. Als dann schließlich mein Sohn sitzen blieb, dachte ich allen Ernstes für ein paar Minuten, es sei egal, da mein Sohn von mir ja genug erben würde. Und ich war dankbar, dass die komplette geistige Inkompetenz meines Sohnes mein schwerstes Problem war, während mir Herr Hoffmann bei jeder Heimfahrt ins Ohr drang, wie er den Selbstmord seiner Tochter beweinte, wie er verfluchte wie sie im Drogenrausch auf der Straße verreckt war und sich Vorwürfe machte, ob es möglicherweise daran gelegen haben könnte, dass er sich nicht zu Hause aufgehalten habe die letzten Jahre. Sicher lag dieser Subtext auch in den unterschwelligen Anschuldigungen seiner Frau, die obendrein noch Wind von dessen Affäre bekommen hatte und persönlich in München erschienen war um der Gespielin ihres Mannes das Silikon durch die Wirbelsäule zu pfeffern. Nein, verglichen mit dem Häufchen Elend, was neben mir auf dem Sitz saß, ging es mir prächtig, auch wenn sich nachts leichte Zweifel meldeten, wie es sein konnte, dass mein Sohn in viereinhalb Jahren vom Musterschüler zum Verweiskandidaten werden konnte, aber das war nichts gegen Hoffmanns Familiendrama. Der Mann war gebrochen, hatte jeglichen Esprit eingebüßt und existierte nur noch. Mechanisch führte er sein Leben nur noch in der Erwartung der nächste Tag würde neues Elend bringen. Er rasierte sich seltener und die sonst tadellos auf Falte gebügelten, gemusterten Pullover wiesen Flecken auf, die jedoch ihren Eigentümer nicht zu stören schienen. Seine Haut hatte sich grau verfärbt und aus den Augen war jeglicher Glanz gewichen. Die Businessfrisur war schon lange nicht mehr geschnitten worden und nun sah er etwa so aus wie David Bowie in den Achtzigern nach einer besonders harten Drogennacht. Auch die Leute im Zug, Fahrgäste und auch Personal behandelten ihn nicht mehr mit demselben Respekt wie früher, als niemand es gewagt hätte sich ihm gegenüber oder gar neben ihn zu setzen. Er musste Platz machen und seine Sachen zusammenräumen, wenn jemand kam. Auch wurde er nicht mehr mit Kaffee aus der Maschine des Dienstabteils versorgt, sondern musste selbst ins BordBistro um sich mit Koffein einzudecken.

Doch er ertrug dies alles. Der früher so vitale Mensch war zum Stoiker geworden. Zu einem unfreiwilligen Stoiker. Er hatte erkennen müssen, dass es keinen Sinn machte sich über Dinge aufzuregen oder zu versuchen seinem Leben eine andere Richtung zu geben, denn das Schicksal würde alle seine Versuche einebnen und zunichte machen.

Dies war zwar nicht präsent, wenn ich wochenends lange Telefonate mit den Lehrern meines Sohnes führte oder mit ihm sprach über den Sinn von Schulanstrengungen. Auch wischte der Anblick von Herrn Hoffmann nicht die versteckten Schuldzuweisungen meiner Frau weg, die, so schien es mir zumindest, meine Abwesenheit für die schlechten Schulnoten unseres Sohnes verantwortlich machte. Doch wenn mir das personifizierte Elend im Zug gegenüber saß und mir alle seine Probleme erzählte, ich noch versuchte ihm zu helfen, dann sah ich, wie lächerlich meine Probleme doch waren. Und so konnte ich immer wieder mit Elan in eine neue Arbeitswoche gehen. Mein Job als Abteilungsleiter erfüllte mich und ich machte ihn gut. Meine Leute schauten zu mir auf, ohne dass die Kollegialität abhanden gekommen wäre. Wir arbeiteten als Team und die Stimmung in der Abteilung war gut.

Von daher erschütterte es mich als mich ein Chef eines Tages in ein Konferenzzimmer bat und mir auf weiß gebleichtem Büttenpapier und ohne Vorahnung meine Kündigung überreichte. In diesem Moment schien für mich die Erde anzuhalten. Das hatte ich nicht vorausgesehen, ja die Möglichkeit dessen hatte sich nicht einmal vage am Horizont abgezeichnet Was hatte ich nicht alles geopfert um meine Arbeit zu behalten und nun sollte es doch vergebens gewesen sein? Irgendetwas in dieser Art muss ich auch zu meinem Chef gesagt haben, denn nun begann er mir die Begründung zu geben.

Meine Firma hatte im letzten Quartal tiefrote Zahlen geschrieben und nun musste etwas gemacht werden. Die Aktionäre waren beunruhigt und das Gespenst einer feindlichen Übernahme geisterte durch den Raum. Da traf es sich, dass es im Arbeitsablauf meiner Abteilung innerhalb der letzten Jahre kleine, ineffiziente Fehler im Ablauf gab. Sie waren von so kleiner Natur, dass sie die Produktivität meiner Abteilung nicht hemmten, aber sie kosteten jährlich eine bestimmte Menge Geld. Immer wieder hatte ich darauf hingewiesen, aber in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität hatte niemand Notiz davon genommen und niemand wollte bewährte Arbeitsabläufe umstrukturieren. Nach dem verheerenden Quartalsergebnis hatte eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft das Unternehmen unter die Lupe genommen und eben diese Defizite bei der Effizienzoptimierung festgestellt. Jetzt verlangte man von oben, dass für diese Schandtat ein Bauernopfer gefunden wurde und ich hatte das kürzere Hälmchen gezogen. Mein Chef entschuldigte sich vielmals bei mir unter Betonung wie sehr es ihm leidtue, wobei nicht ganz klar wurde ob er meine Entlassung meinte, oder die Tatsache dass er sie mir übergeben musste. Dann entließ er meine leere Hülle auf einen mäßig gereinigten Gang.

Da stand ich nun. Meine Seele, mein Innerstes, mein Herzblut war im Konferenzraum geblieben, denn das alles hatte ich ja willig der Firma hingegeben und konnte nun natürlich keine Rückerstattung erwarten. Ich wusste nicht was ich machen sollte. Weinen lag nicht in meiner Natur, freuen konnte ich mich auch nicht darüber und am schlimmsten: Ich konnte es meiner Frau nicht sagen. Ich starrte auf den Teppichboden unter mir, über den immer wieder Leute trampelten ohne, dass er sich unterkriegen ließ und dass schien mir eine gute Lösung zu sein. Jedoch wurde auch dieses Stück Kunststoff irgendwann gegen ein neueres, besseres Modell ausgetauscht. Aber irgendwie war meine Zeit noch nicht gekommen. Ich musste noch nicht ausgewechselt werden. Ich würde eine neue Firma finden und dann würde ich es allen zeigen. Würde!

Nicht nur meiner Firma ging es wirtschaftlich schlecht. Wer würde mich nehmen. Klar, das schlechte Gewissen ob meiner Entlassung würde meinen Chef zwingen mir ein beschämend gutes Zeugnis auszustellen. Doch wenn es keine Jobs gab, dann würde mir das auch nichts nützen.

Ich trat zur Seite, weil eine Raumpflegerin saugen musste und fühlte mich sofort an meine Massagestunden im Urlaub erinnert. Der Teppich wurde gesäubert, fit gemacht, damit er noch eine Woche länger seinen Dienst tun konnte. Freilich änderte das nichts daran, dass er eines Tages fällig sein würde.

Den Rest des Tages arbeitete ich nicht mehr. Ich saß in meinem Büro und überlegte was ich machen sollte. Das Telefon nahm ich nicht mehr vom Hörer und wenn ein Mitarbeiter mich etwas fragte, antwortete ich entweder mit ja, oder mit nein unabhängig davon, was er gesagt hatte. Schließlich wurde es dunkel draußen. Ich beschloss zu einer Bekannten zu fahren. Wobei die Bezeichnung Freundin an dieser Stelle wohl treffender wäre. Ich hatte sie kennengelernt, sie hatte mich kennengelernt, irgendwo auf einer dieser belanglosen Abendveranstaltungen die durch ein Netz aus Bekanntschaften entstehen. Irgendwer kennt einen, der einen kennt der irgendwem was schuldet, der irgendwas veranstaltet. Vielfach muss man sich etwas anschauen oder anhören und danach Interesse heucheln weil es kostenlose Drinks und Fingerfood gibt. Auf jeden Fall begann zwischen uns ein belangloser Smalltalk über Dinge von denen wir beide keine Ahnung hatten. Immer den Gesetzen ebendieses Smalltalks folgend. Doch wir beide spürten, dass es uns zuwider war. Mir sowieso, ich trug nur meine kultivierte Hülle nach außen und verhielt mich konform, während ich innerlich jeden anderen Menschen im Raum auslachte und mich selbst zum urbanen Revolutionär hochstilisierte, der sich in die Höhle der Spießer eingeschlichen hat um von ihnen als einer der ihren anerkannt zu werden. Ich weiß nicht ob es ihr ähnlich ging. Auf jeden Fall endeten wir in ihrer Wohnung, die ich fortan öfter von innen sehen würde.

Ich setzte mich nach meiner Entlassung also in meinen BMW und fuhr zu ihr. Was ich erwartete wusste ich nicht. Der Trieb zog mich zu ihr, dass stimmt. Der Vormittag hatte mein Ego angekratzt nun suchte es Befriedigung in einer Wolke aus Parfum und Schweiß gemischt mit ausgekeuchtem Atem aus den Kehlen umeinandergeschlungener nackter Körper die gezwungen waren von einem Jahrtausende alten Trieb und nicht anders konnten. Aber ich möchte zumindest die Frage offenhalten, dass da möglicherweise noch mehr war, was ich mir erwartete. Ich drückte auf die Klingel mit zitternden Händen in freudiger Erwartung eines gold-blonden Haarvorhangs, der ein bezauberndes Gesicht umrahmte auf welchem die schönsten Theaterstücke aufgeführt wurden. Vielleicht hatte ich auch Blumen oder ähnliches dabei, dass war auch damals nicht eindeutig feststellbar. Sie würde überrascht sein, weil ich nicht angerufen hatte und aus der Überraschung entstanden doch die erquicklichsten Momente im Leben. Nichts in meinem Kopf dachte noch an meine Entlassung.

Ich vertraute der Gegensprechanlage meinen Namen an und sie quittierte dies mit einem Summen.

Der Aufzug, die Knöpfe und dann schließlich vor der Tür.

In freudiger Erwartung, dass der Vorhang aufgehen würde und das tat er dann auch.

Meine Frau.

 

Sie hatte kein Gesicht mehr. Da stand nur noch Wut in giftgrünen Lettern an der Stelle wo normalerweise ihre Nase und die Augen waren. Nur der Mund funktionierte bedauerlicherweise noch. Und sie wusste ihn zu benutzen.

Ich wurde in die Wohnung gezerrt und versuchte mich in einem Sessel in Sicherheit zu begeben, während es von unterhalb des Wut-Schriftzuges aus einem Maschinengewehr auf mich einprasselte.

Es ist unnötig hier an dieser Stelle einzuschieben, dass die beiden Damen aus meinem Mund nichts von ihrer gegenseitigen Existenz erfahren haben, was nicht an Nachlässigkeit oder Vergesslichkeit meinerseits lag.

Sie saß einfach nur da, meine Freundin, in dem schwarzen Sessel den wir gemeinsam noch vor zwei Wochen ausgesucht hatten. Die roten Haare waren durcheinander und verdeckten zur Hälfte das Gesicht in dem eine Lösung aus Tränen und Mascara der Schwerkraft folgte. Ab und zu schüttelte es sie, während immer noch Kugeln um uns herumflogen. Jedoch wollte sich zwischen uns keine Actionfilm-Romantik einstellen.

Ich sagte nichts. Es gab nichts zu sagen. Weder von mir, noch von meiner Frau, noch von meiner Freundin. Ich saß nur da und versuchte dann und wann einer Kugel auszuweichen, konnte jedoch nicht verhindern, dass die an mir vorbeizischenden Kugeln den Rest meiner erbärmlichen Lebenswirklichkeit in Schutt und Asche legten. Ich verlor das Zeitgefühl und klammerte mich an die Hoffnung, dass meiner Frau irgendwann die Munition ausging, doch es kam anders. Ich merkte wie sich das Gesicht meiner Ex-Freundin veränderte. Sie hörte auf zu weinen und es schien als würde mit den Tränen auch der darin gelöste Farbstoff verdampfen. Ihr Gesicht verzog sich zu einer angewiderten Fratze mit Laserpointern, wo früher mal Augen gewesen waren und diese zeigten genau auf mich und blendeten mich mit grünem und rotem Licht. Mir kam diese ganze Situation unwirklich vor, wie als würde ich an ihr gar nicht teilnehmen. Die Frau, deren Laserstrahlen mich apathisch gemacht hatten, legte ihre Handflächen auf ihre Knie und stand langsam auf, ungeachtet der Kugeln, denn die waren ohnehin nicht für sie bestimmt. Sie richtete sich ganz aufrecht auf und aus ihrer Stirn schienen rote Hörner zu wachsen. Ich kauerte mich tiefer in den Sessel, eingeschüchtert von ihrer unglaublichen Präsenz. Und dann, mit der sichersten, dominantesten Stimme, die je aus einem Mund herauskam forderte sich mich auf ihre Wohnung zu verlassen.

Sie sagte nur ein Wort und ich zuckte vom Donner geschüttelt zusammen und wich, noch immer kauernd und unter dem Schlackern meiner schmalen Schultern in Richtung Tür zurück, welche ich schließlich hinter mir schloss.

Dann stand ich auf dem Flur und mein Gehirn begab sich auf die Überholspur.

Selbstmord? Alles egal. Auswandern? Aussteigen und in einer Waldhöhle leben? Wieder reingehen und die beiden Schlampen kaltmachen? Um Gnade bitten? Meinen Boss erschießen? Terrorist werden? Auf der Straße leben? Saufen? Beim BND anheuern? Einen Blog starten? Ins Fernsehen gehen? Schließlich kam mein Hirn zu den entscheidenden Fragen:

Was würde Hoffmann machen? Und wichtiger was machte Hoffmann?

Ich musste diesen Mann sehen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es knapp werden würde. Ich hielt mir auf der Straße ein Taxi, warf den Taxifahrer mit zwei Tritten aus dem Auto und fuhr in Richtung Bahnhof. Ich hatte das Gefühl es war für mich eine Sache von Leben und Tod, dass ich diesen Mann noch heute sah. Ich scherte mich einen Dreck um Verkehrsregeln und verursachte mindestens drei kleinere Unfälle auf dem Weg zum Bahnhof. Doch das kümmerte mich nicht. Zum einen hatte ich das Gefühl, dass all dies einem höheren Zweck diente und zum anderen war ich in Raserei und meine Gedanken beschäftigten sich allein mit der Frage: Wie erreiche ich diesen Zug? Am Bahnhof parkte ich das Taxi in einem Imbiss und rannte aufs Gleis, setzte mich in den Wagen 20, doch…nichts. Kein Hoffmann. Ich suchte den ganzen Zug ab und fand niemanden. Ich bat den Schaffner noch fünf Minuten mit der Abfahrt zu warten, weil ich befürchtete, Hoffmann könne sich verspätet haben, denn es war in der jüngeren Vergangenheit vorgekommen, dass Hoffmann den Zug verpasst hatte. Doch Hoffmann ließ sich nicht blicken.

Auch in den beiden Wochen darauf nicht. Ich besuchte seine Firma, denn ich musste ihn einfach sehen. Aus heutiger Sicht weiß ich nicht mehr warum, aber mein Leben war von dieser einen Idee bestimmt. In Hoffmanns Firma sagte mir ein Mann mit Hornbrille er wisse nicht wo Hoffmann sei, aber ich solle doch einmal in der Abteilung Sales and Currency Assessment nachfragen. Dort versicherte mir eine etwa fünfzigjährige Frau, die die Leitung inne hatte, es habe noch nie in der gesamten Firmengeschichte einen Angestellten mit dem Namen Hoffmann gegeben und ganz sicher nicht im Moment. Gerade dann sah ich aus einem Augenwinkel wie zwei Mitarbeiter des Gebäudemanagments das Namensschild an Herr Hoffmanns Büro entfernten. Ich rannte auf sie zu und schrie sie an, sie sollten das lassen und mich zu Herr Hoffmann bringen, worauf die Mitarbeiter mit den Achseln zuckten und nicht verstanden was ich von ihnen wollte, während die Chefin den Sicherheitsdienst rief, der mich vom Firmengelände eskortierte.

Auch vor Hoffmanns Wohnung verbrachte ich Stunden ohne dass mir jemand öffnete.

Meine Entlassung war nun drei Wochen her und ich hatte mich seitdem nicht in der Firma blicken lassen, jeden Tag fürchtete ich, dass man mich aus meiner Wohnung schmeißen würde, die mittlerweile schon einen bestialischen Gestank angenommen hatte und in einen allgemeinen Verwahrlosungszustand übergegangen war. Am Freitagmorgen putzte ich meine BahnCard 100 und machte mich auf den Weg zum Bahnhof. Als der Zug einfuhr, war ich der erste der den Wagen 20 betrat. Doch Hoffmann kam wieder nicht. Ich begab mich aufs Klo und raufte mir die Haare geschüttelt von einem Heulkrampf.

Als ich mich wieder halbwegs gefasst hatte setzte ich mich an meinen Platz und vertiefte mich in die Landschaft während ich neurotisch mit dem Reißverschluss meiner Jacke spielte und von Zeit zu Zeit unkontrolliert Hoffmann sagte. Die Leute betrachteten mich skeptisch durch ihre Masken aus Gleichgültigkeit die ihnen wahrscheinlich selbst ein Auftritt des Leibhaftigen Arm in Arm mit Hitler persönlich nicht würde aus dem Gesicht reißen können. Ich dachte nach während sich mein Reißverschluss langsam in seine Bestandteile zerlegte. Ich konnte mir nicht vorstellen, was die Welt für einen Grund haben konnte mich von Hoffmann fernzuhalten; ich wusste ja selbst nicht mal warum ich ihn sehen wollte. Ich beschloss, dass sich das zeigen würde, wenn ich ihn gefunden hatte. Ich nahm das Fahrgastmagazin der Bahn heraus und zwang mich das Interview mit irgendeinem Schauspieler zu lesen, der seinen Zenit überschritten hatte, sich dies aber nicht eingestehen wollte. Während der Zug durch den Bahnhof Ingolstadt schlich, bekam ich eine SMS von unserem Familienanwalt, doch ich löschte sie ungelesen und fühlte mich befriedigt dadurch. Zehn Minuten später war ich neugierig, was ihr Inhalt gewesen war, denn ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was er von mir wollte. Kurzzeitig erwog ich ihn anzurufen und meine Finger tanzten schon über den Touchscreen meines Smartphones, doch dann kam die Fahrscheinkontrolle und der Gedanke verhedderte sich irgendwie in der Uniform des Schaffners und verschwand mit ihm hinter der Glastür unter Ausstoßen eines Zischens.

In Nürnberg hörte ich dann eine Stimme: „Ist neben ihnen noch frei?“

Ich schreckte hoch aus einem wochenlangen Albtraum. Diese Stimme hätte ich unter Milliarden erkannt.

„Herr Hoffmann? Wie schön sie zu sehen!“

Ja, er war es. Die kultige Dreadlock-Frisur in Verbindung mit dem Nasenpiercing fiel einem sofort ins Auge. Der stechende Blick seiner Adleraugen, die während der Zug mit 300 km/h an der Autobahn vorbeirauschte noch auf hundert Meter Entfernung jedes Kennzeichen lesen konnten. Und dann natürlich das Batik T-Shirt, das er immer trug, wenn Montag war oder er aus anderen Gründen gute Laune hatte.

Hoffmann runzelte die Stirn und legte seine Jutetasche auf den freien Sitz mir gegenüber.

„Hoffmann alte Hütte!“, sagte ich noch mal und boxte ihn in die Seite, wie ich das früher immer gemacht hatte. „Ich ab dich vermisst.“

„Sie müssen mich verwechseln“, sagte der. „Mein Name ist Filbert und ich kenne sie nicht“

Ich bekam einen Lachanfall.

„Was ein Klassiker! Aber im Ernst, was machst du in Nürnberg?“

„Hallo? Sprechen sie Deutsch? Ich bin nicht Hoffmann und kenne sie nicht!“

„Nur weil ich deinen Witz durchschaut habe ist das noch lange kein Grund mich anzuschreien“

„Ist hier versteckte Kamera? Sind sie begriffsstutzig?“

Ich winkte den Schaffner heran, heute hatte der Sachse Dienst. Ich machte ihn darauf aufmerksam, was Hoffmann für einen Streich spielte, doch der Schaffner erkannte mich nicht und wollte anscheinend auch Hoffmann nicht erkennen, obwohl dieser ihm jedes Jahr an Weihnachten ein überaus großzügiges Trinkgeld gab. Diese Weigerung machte mich wütend. Ich musste mit Hoffmann über wichtige Themen reden und er schien dies nicht im Geringsten zu verstehen. Schließlich schüttelte ich Hoffmann um ihn wachzurütteln, er schrie mich an, ich solle ihn nicht anfassen, ich schrie zurück und wurde vom Schaffner zur Mäßigung aufgefordert. Ich konnte aber nicht. Ich entwendete Hoffmann seine BahnCard und tatsächlich stand Filbert als Name darauf. Ich schrie trotzdem und flehte ihn an die Maske fallen zu lassen, der Schaffner forderte mich auf in einen anderen Wagen zu gehen, da rastete ich aus. Hoffmann spielte mir einen brutalen Streich, jetzt wo ich ihn dringend brauchte und der Schaffner spielte mit. Ich zertrümmerte Tische prügelte auf Stühle ein und auf jeden der mir in den Weg kam, dann nahm ich einen Nothammer und wollte die Scheibe zertrümmern, doch wurde in diesem Moment vom anderen Schaffner, der Zwei Meter groß war niedergeschlagen. Schwankend fiel mir der Nothammer aus der Hand. Mein Blick verschwamm und ich sah Hoffmann wie durch einen Vorhang aus Stroboskoplicht und es schien, als lächelte er. Ja, er lachte mich aus. Im Fallen griff ich noch nach seinem T-Shirt und riss ein Stück ab. Ich würde es mein Leben lang nicht wieder hergeben.

 

Aufgewacht bin ich in der Psychiatrie, hier, wo ich dies alles nieder schreibe, als kleines Tagebuch. Mein Zimmer hat weiße Wände und auch mein Kittel ist weiß. Freundliche Menschen umringen mich. Nur mein Therapeut wird jedes Mal sauer, wenn ich von Herrn Hoffmann spreche. Für ihn ist klar, dass es Herr Hoffmann nie gab. Ein klarer Hinweis darauf ist für ihn die Tatsache, dass Herr Hoffmann trotz intensiver Recherche nicht mehr existiert ohne gestorben zu sein. Meine Geschichte erscheint ihm nicht plausibel und er ist felsenfest davon überzeugt ich hätte meine schlechten Familien- und Berufsverhältnisse dadurch verdrängt, dass ich sie auf Hoffmann projizierte. Ich leide seiner Meinung nach an einer posteptoralen Realitätsdisfunktion. Das Schlimmste an dieser Sache ist, dass er hier falsch liegt.

Sein Ziel ist es mich durch eine Medikamententherapie und Gespräche davon zu überzeugen, dass er Recht hat. Besuche sind verboten, da er befürchtet ich würde sonst rückfällig. Ich weiß auch nicht ob mich überhaupt jemand besuchen will. Jedes Mal wenn ich Herrn Hoffmann erwähne erhöht er die Dosis, weswegen ich nicht mehr oft über ihn rede. Nur manchmal bricht es aus mit heraus und neue Tabletten fluten meinen Körper, was das Matschgefühl in meinem Kopf verstärkt. Auch meine Aufzeichnungen darf mein Psychiater nicht lesen, weshalb ich auf Toilettenpapier schreibe, welches ich unter meiner Matratze verstecke, wo auch die Weihnachtskarte von Herrn Hoffmann liegt - mein wertvollster Besitz.

Er hatte sie mir vor drei Jahren geschickt, mit Foto und Widmung. Bei meiner Zugfahrt habe ich sie mir in die Unterhose gesteckt, wo ich sie gleich nach Ankunft in der Psychiatrie entdeckte und versteckte. Diese Karte ist mein einziger Beweis, dass ich Recht habe. Denn als solcher taugen meine, durch Medikamente verblassenden Erinnerungen nicht mehr.

Ich habe schon oft versucht seine Schrift zu kopieren um mir selbst zu beweisen, dass ich sie mir nicht selbst geschrieben habe. Das Ergebnis macht sich jedes Mal kläglich aus neben der formvollendeten Originalkalligraphie von Herr Hoffmann.

Auch das Foto zeigt sowohl den Mann aus meinen Erinnerungen als auch den, den ich im Zug angefallen habe. Dieselbe Frisur mit artig gezogenem Scheitel, die Sonnenbrille, das gebügelte Hemd, das er unmodisch immer in die Hose stopfte. Als Kontrast dazu die modische Hornbrille in gelb.

Jeden Abend schaue ich mir für zwei Minuten diese Karte an, denn sie ist das einzige, was mich hier noch bei Sinnen hält.

 

Ich musste umziehen, urplötzlich, und konnte die Karte nicht mitnehmen und auch die vorangegangenen Aufzeichnungen nicht. Mein Psychiater hat aber auch nicht erwähnt, dass sie gefunden wurden, was beim Bettzeug wechseln unvermeidlich wäre. Von daher ist es mir ein Rätsel, warum meine Dosis nicht erhöht wurde. Dies lässt mich mittlerweile daran zweifeln ob sie überhaupt existierten. Die Erinnerungen an die letzten Wochen sind arg undeutlich, während sich zunehmend in meinem Kopf eine Klarheit ausbreitet. Vielleicht war alles nur Einbildung. Ich fühle mich, als würde ich langsam erwachen.

 

Heute durfte ich für eine Stunde die Anstalt verlassen und ungefilterte Münchner Luft schnuppern. – Ja man hat mich in ein Irrenhaus in München verfrachtet. Diese Stunde im englischen Garten war erholsam. Ich denke kaum noch an Herrn Hoffmann. Ich weiß nicht mehr wie er aussah, er kommt mir vor wie die Gestalt aus einem Traum.

 

Herr Hoffmann gab es nie. Ich habe es jetzt eingesehen. Vielmehr gab es ihn, aber nur in meinem Kopf. Er war für eine Zeit wichtig für mich, deswegen habe ich ihn erschaffen und das war gut so, aber sobald er mir nicht mehr hilfreich war musste ich ihn gehen lassen und mich den Problemen in meinem Leben stellen. Das sagte ich heute einem Lügendetektor und er zeigte keinen Ausschlag. Mein Psychiater gratulierte mir und wir stießen mit Champagner an. Ich werde diesem Menschen immer dankbar sein, das habe ich mir vorgenommen. Er hat mich aus dem Dunkel der Abgründe meiner Seele wieder ins Licht geführt. Morgen werde ich entlassen. Der Therapeut hat mich ermuntert auch weiterhin Tagebuch zu schreiben, ich dürfte das schwarz gebundene aus der Anstalt gerne mitnehmen, meinte er.

 

Zu meiner Überraschung tauchte heute mein früherer Chef zur Entlassung auf. Er war der Einzige, aber eigentlich hatte ich mit niemandem gerechnet. Mein Chef führte ein langes Gespräch mit dem Psychiater, in dem er sich zweifellos nach meinem Geisteszustand erkundigte, denn ich musste dem Psychiater dazu die Erlaubnis erteilen. Danach eröffnete mir mein Chef, dass man mich gerne auf meinem alten Job wiederhaben würde. Die Firma habe eingesehen, dass meine Entlassung ein großer Fehler war, denn nach meinem Weggang sei die Abteilung endgültig in die Unproduktivität abgesunken. Anscheinend wurde es mir hoch angerechnet trotz dieser schwierigen Abteilung produktiv gearbeitet zu haben. Zudem hatte sich der Ausblick der Firma ins positive verschoben. Ich dankte meinem Chef und nahm selbstredend den Job an. Nun würden meine Umstrukturierungspläne auf fruchtbaren Boden fallen.

„Kommen sie, das feiern wir heute Abend. Ich kenne da ein hübsches Restaurant an der Spree, keine 200 Meter von der Anstalt entfernt, das wird ihnen schmecken. Die Firma zahlt.  Anschließend findet die Vernissage einer Bekannten von mir statt, wenn sie wollen können sie mitkommen. Sie ist eine bezaubernde Frau.“

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jothaess

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