Kapitel 4 - Lia, und Henrys trauriges Ende
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Ich wünschte wirklich, er hätte sein Gesicht sehen können in diesem Augenblick. Den Schnabel weit offen, die Augen vor Erstaunen so riesig wie Erbsen... ich beschloss, ihm noch ein wenig Zeit zu geben, um sich von dem was er gerade gesehen hatte und offensichtlich weder glauben noch einordnen konnte, zu erholen.
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Nur ein Jahr zuvor, in einem grausamen, unbeschreiblich kalten Winter, hatte es auch mich hier her verschlagen, genau so plötzlich wie ihn. Der Innenhof war gut geschützt gewesen vor den eisigen Winden und man hatte das Gefühl, das es zumindest zur Mittagszeit ein paar Augenblicke lang erträglich wurde, wenn auch nur mit viel Glück und flauschig aufgeplustertem Federkleid. Dennoch war in diesem Winter nicht das erbarmungslose Wetter das Hauptgesprächsthema auf dem Hof. Es war Henry, das letzte Tauben-Männchen, das an einem verschneiten Januar-Morgen das Zeitliche segnete. Allerdings nicht unbedingt durch die Kälte, sondern durch Dummheit.
Am Dach des Taubenhäuschens baumelten damals Eiszapfen, die größer waren als Ferdinand in seiner gesamten Nord-Süd-Ausdehnung. Und das will was heißen, denn für einen Kater ist er schon ein wirklich prachtvoller Brocken. Da der alte Kraus sicher ein hervorragender Taubenzüchter war, aber leider handwerklich gesehen blutiger Anfänger, was man ruhig wörtlich nehmen darf, erschien seine Konstruktion dort oben auf dem Dach etwas... Na, sagen wir, ein Architekt hätte vermutlich große Lust verspürt, ihn aufs Übelste zu beschimpfen, für die vielen schweren Vergehen, die er selbst an so einem einfachen Bauwerk schon fabriziert hatte. Es glich einem Wunder, das der Verschlag überhaupt so lange stand, ohne in sich zusammen zu fallen und die Schwestern unter sich zu begraben. Was uns wohl im Nachhinein gesehen viel Ärger erspart hätte.
Nach der Meinung von Bäcker Svarkovski, die er dem alten Kraus meist recht wortgewaltig an den knochigen Kopf warf, wenn es mal wieder Zoff zwischen den beiden gab, war das nur den Tonnen an Taubenkot zu verdanken, die das Bauwerk quasi von innen zusammen hielten. Die Auseinandersetzungen der beiden betagten Herren hatten schon Kult-Status erlagt im Hof und jeder neue Akt brach regelmäßig Zuschauerrekorde.
Das Taubenmännchen Henry war eigentlich ein echt netter Typ gewesen. Erstaunlich zivilisiert sogar, die einzige Taube die einen begrüßte, wenn man vorbei flog, oder guten Appetit wünschte, hatte man gerade irgendwas Essbares im Schnabel. Wie gesagt, ein netter Typ. Leider sind aber die netten Typen auch immer die, die instinktiv in jede Falle tappten. Mit Absicht sogar, könnte man manchmal meinen. So ließ er es sich nicht nehmen, egal bei welchem Wetter, ein mal pro Tag seine Wach-Runde über den Hof zu drehen. Schließlich hatte er 13 Frauen zu beschützen vor... naja, vor was genau wusste wohl nicht mal er, denn das einzig „gefährliche Raubtier“ im Hof war Merle, der Marder. Kein netter Zeitgenosse, ganz sicher nicht, aber glücklicherweise mit den tollsten Phobien gesegnet, die man so haben kann. Dazu gehörte die Arachnophobie, weshalb man ihn in den Sommermonaten mehrmals täglich laut „Spinne!“ schreiend über den Hof laufen sah. Auch war er stark klaustrophobisch veranlagt, was das Wohnen in Höhlen oder Baumstämmen quasi unmöglich machte. Für einen Marder sicherlich die reinste Folter. Am allerwichtigsten für die Tauben war aber seine Akrophobie, also Höhenangst. Auf dem Weg zum Taubenschlag wäre er vermutlich aus Angst mindestens drei mal gestorben. Das Federvieh war also mehr als sicher dort oben auf dem Dach, was wohl auch der Grund für den alten Kraus war, diesen Platz zu wählen. Allerdings nur sicher vor anderen, nicht vor sich selbst.
So drehte Henry, wie jeden, aber auch wirklich jeden Tag, seine Wachrunde über den Hof, bei der er sich regelmäßig fast die Füße ab fror in diesem Winter. Als er dann mit fast geschlossenen Augen auf das Loch zu steuerte, durch welches man ins warme Innere des Stalls kam, verfehlte er Dieses um ein Flügellänge, prallte seitlich gegen die Außenwand, versuchte sich noch krampfhaft an der vereisten Sitzstange fest zu klammern, schaffte es aber nicht, weil seine kältesteifen Gliedmaßen keinen Halt fanden, plumpste wie ein halb-gefrorenes Hühnchen rücklings auf den schmalen Vorsprung zwischen Abgrund und Stallwand - und blieb dort bewusstlos einige Augenblicke liegen.
Die Schwestern, die das Gepolter von innen gehört hatten, stürzten alle auf ein mal das schmale Brett zum Ausgang hinauf, welches als Leiter diente, kamen auch fast alle gleichzeitig oben an und verursachten so am kreisrunden Loch ein heilloses Kneul aus wild um sich schlagenden Flügeln. Ausgerechnet die Dickste von allen, Abra, war die Erste gewesen und klemmte nun halsbrecherisch mit zwei anderen Schwestern im Loch fest. Durch die geballte Ladung Tauben die mit einem Schwung hinaus wollten, um sich darüber die Schnäbel zu zerreißen, was der alte, tollpatschige Trottel jetzt schon wieder angestellt hatte, kam es im Taubenstall zu einem kleinen Erdbeben, welches einen der eingangs erwähnten Eiszapfen am Schrägdach aus Wellblech löste.
Dessen Entstehen hatte man dem alten Kraus zu verdanken, denn an eine Dachrinne hatte er beim Bau einfach nicht gedacht. Die Tauben störte das nie wirklich, sie mochten Regen eh nicht besonders, und verzogen sich dann einfach nach drinnen. Henry störte das allerdings schon, aber nur kurz - denn das Erste was er sah, als er wieder zu Bewusstsein kam und mit brummenden Kopf langsam die Augen öffnete, war ein gigantisches, spitzes Schwert aus Eis, welches genau auf ihn zu raste. Es war auch das letzte was er sah.
Armer Henry, er war ein echt netter Kerl gewesen. Aber nett sein reicht halt meistens nicht aus, um unbeschadet durchs Leben zu kommen. So war das erste Drama, was ich aktiv mit bekam, als ich selbst langsam wieder ins Leben zurück fand, der Tot des letzten Tauberichs. Man kann nicht behaupten, das die Schwestern großartig Trauer trugen, oder zumindest glaubhaft vortäuschten. Vermutlich waren sie eher froh, nicht mehr von ihm mit so Dingen wie „Fortpflanzung“ und „Arterhaltung“ belästigt zu werden und endlich unter sich zu sein. Kraus gab darauf hin seine Zucht auf und die Schwestern den letzten Rest von Anstand und guten Manieren.
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So, jetzt hatte er aber genug Zeit gehabt, um sich an die neue Situation zu gewöhnen und seine Sprache wieder zu finden, der putzige Spatzenmann dort drüben. Ein hübscher Bursche war er, nun, da ich einen Augenblick Zeit gehabt hatte um ihn etwas genauer anzuschauen. Sicherlich kein Küken mehr, vermutlich lagen schon einige Sommer hinter ihm und nicht alle davon hatte er in dieser Stadt verbracht. Im Moment wirkte er trotzdem, wie vor den Kopf geschlagen. Um ihn aus seiner Verwirrung heraus zu reißen, wären eigentlich nur ein paar Worte von mir nötig gewesen. Aber er sah in der Pose einfach so süß aus!
Ich hatte ihm also die Chance und genügend Zeit gegeben - durch mein gelassenes Dasitzen und geduldiges, in sich ruhendes Warten - seine Sprache wieder zu finden und diese dann möglichst verständlich zu gebrauchen. Vergebens. Also ergriff ich dann doch, ganz untypisch für mich, als Erste das Wort.
„Angenehm, Lia“ - mit einer kleinen, angedeuteten Verneigung verbunden. Gut, es war im Grunde nur ein leichtes Nicken, aber das musste erst mal reichen.
„Ähm... ich... du und diese...“, er schaute den Baum hinunter, den Ferdi gerade hinab gestiegen war.
„Katze?“ setzte ich seinen Satz fort, oder das was er dafür hielt.
„Ja, diese Katze, Ferdinand?“
„Genau genommen ist es ein Kater und er legt da auch echt wert drauf, wenn ich dir den Tipp geben darf.“
„Ihr habt.. ihr seid – befreundet?!“ brach es aus ihm erstaunt hervor, als ob das etwas wäre, was es nur einmal auf der Welt gäbe, oder eigentlich gar nicht geben durfte. Zugegeben, Freundschaften zwischen Raubtieren und deren potentiellem Futter waren eher selten.
„Seit über einem Jahr, ja... er hat mir das Leben gerettet.“
Ups, warum habe ich im das gerade erzählt? dachte ich plötzlich. Einem Wildfremden, auch wenn es ein drolliger Spatzenmann war, sollte man so etwas eigentlich nicht schon nach ein paar gewechselten Sätzen anvertrauen. Zumal die Gefahr bestand, dass er mich über das Wie und Warum und Wann und so weiter jetzt ausfragen würde. Aber das tat er nicht. Er nahm die Tatsache vorerst einfach so hin. Vermutlich schoben sich dort oben in seinem hübschen Kopf gerade erst die Bausteine an die dafür vorgesehenen Stellen, um die Situation ganz begreifen zu können. Es war also noch etwas Zeit, die bohrenden Fragen würden dann später kommen.
„Aber, Ferdinand, die Katze, nein, Kater, er ist doch – er frisst doch Vögel, oder etwa nicht?“
Meine Güte, da war jemand aber von der ganz alten Schule. Ein Jahr, länger konnte er noch nicht in der Stadt gelebt haben. Diese alten Vorstellungen, diese martialischen, ländlichen Gepflogenheiten, hatten sich noch nicht ganz aus seinem Denken verabschiedet. Es wurde also Zeit, seinen Horizont ein wenig zu erweitern!
„Ferdinand frisst nur Dosenfutter, mein Lieber.“
Hatte ich gerade „mein Lieber“ gesagt? Hatte er es gemerkt? Ok, einfach weiter reden und so tun, als ob das in meinem Sprachgebrauch ganz normal wäre.
„Er hat in seinem ganzen Leben noch nichts gefressen, was lebendig und gleichzeitig größer als eine Fliege war." - Kleine Kunstpause, um die Information etwas in seinen immer noch leicht undurchlässigen Verstand sickern zu lassen. - „Aber eigentlich hatte ich gehofft, dass du dem Beispiel von Ferdi folgen würdest, und dich erst einmal vorstellst.“
Jetzt noch einen leicht fordernden und betont pikierten Blick aufgesetzt, das sollte genügen um ihn endgültig wach zu rütteln.
„Oh, natürlich, wo bin ich nur mit meinen Gedanken... Elis ist mein Name, freut mich, dich kennenzulernen, Lia."
Elis also. Nicht schlecht, das war tatsächlich mal ein wirklich seltener Name. Und passte auch irgendwie zu ihm. Inzwischen hatte er sich endlich aus seiner Starre erholt und kam mit wenigen, erstaunlich eleganten Flügelschlägen zu mir auf den Bäcker-Baum gesegelt. Auch aus der Nähe, und ohne entgleiste Gesichtszüge, durchaus ein ansehnliches Exemplar, alle Achtung. Mit etwas angewinkeltem Kopf sah er mich neugierig an.
„Was wird hier gespielt, Lia? Irgendwas stimmt hier nicht, etwas an diesem Ort ist seltsam. Nicht nur die Schwestern da oben und die Katze die ein Kater ist und mit einem Vogel eine innige Freundschaft pflegt... da ist noch etwas, richtig? Etwas, was ich noch nicht im Ganzen überblicken kann. Aber...
„Halt, halt, halt!“ unterbrach ich ihn.
So wissbegierig mich seine glänzenden Augen auch ansehen mochten, die Zeit um ihn einzuweihen war noch nicht gekommen, noch lange nicht. Selbst ich hatte einen ganzen Winter, und halben Frühling noch dazu, gebraucht, um Ferdi von meiner Vertrauenswürdigkeit zu überzeugen. Von der ich hin und wieder nicht mal selbst überzeugt war. Und er will jetzt schon die ganze Geschichte wissen? Zu schnell, viel zu schnell.
„Das wirst du noch früh genug erfahren. Aber erst einmal müssen wir uns um die Schwestern kümmern. Du weißt schon, die Tauben dort oben, denen du... ich kann es nicht glauben, das du das gemacht hast!“ schoss es lachend aus mir herauf.
„Du hast es auch gesehen!?“ - da war er wieder, dieser verdutzte Gesichtsausdruck – das sollte er nicht zu oft machen, irgendwie weckte das in mir den Mutter-Instinkt und den Drang, ihm liebevoll den Kopf zu tätscheln. Aber vermutlich war es angeboren, und er konnte gar nichts dafür.
„Ich saß mit Ferdi ganz in der Nähe, als du ankamst und es dir gleich mit den Schwestern verscherzt hast.“ klärte ich ihn vorsichtshalber auf.
„Und so froh ich auch darüber bin, dass es denen mal jemand richtig gegeben hat, im wahrsten Sinne, gibt es immer noch die goldenen Regel, die jeder auf dem Hof wissen und befolgen sollt:
Mit den Schwestern legt man sich nicht an!“
Denn jeder hier wusste, was darauf folgte, wenn man es doch tat...