Beschreibung
Märchen? Tiergeschichte? Fabel? Alles zusammen villeicht, ich bin gespannt wo es hin führt
Kapitel 1 - Wachtauben
Es war der erste, echte Frühlingstag in diesem Jahr, der die Stadt in ein warmes, weiches Licht tauchte. Es war auch der Tag, an dem ich beschlossen hatte, ihr den Rücken zu kehren, der südlichen Straße durch die angrenzenden Dörfer zu folgen und mich einfach immer weiter ins Unbekannte treiben zu lassen. Bis ich irgendwann auf einen Ort treffen würde, der faszinierend genug wäre, um dort das kommende Jahr zu verbringen. Ich war überzeugt davon, alle Dächer der Stadt hunderte Male überflogen und auf jede Parkbank mindestens einmal mein Geschäft verrichtet zu haben. Doch dann saß ich plötzlich auf dieser alten, verrosteten Antenne und unter mir tat sich ein Innenhof auf, der ganz und gar besonders war, eigenartig und geheimnisvoll. Ein abgeschottetes Kleinod mitten in der geschäftigen, lauten Stadt, die von Jahr zu Jahr immer geschäftiger und lauter wurde. Und hässlicher. Hier allerdings, in dieser kleinen Oase, schien die Zeit vor den Türen stehen geblieben zu sein, die den Hof von der Außenwelt trennten. Und es waren tatsächlich nur Türen, denn den Hof erreichte man nur über Hintertüren aus den Hausfluren der ihn umringenden Häuser heraus. Keine großen Tore oder Einfahrten, die es ermöglicht hätten, das kleine Paradies mit Parkplätzen zu verschandeln. Hierher gelangte man nur zu Fuß, und auch nur, wenn man das auch wollte. Und das wollten an diesem Morgen einige, denn es war Frühling, wie schon gesagt. Die Sonne hatte es endlich geschafft, die Stadt aus der Schockstarre zu erlösen, die wochenlang über ihr gelegen hatte, und nun schien sie mit aller Kraft zu versuchen, unumstößliche Tatsachen zu schaffen, was die Temperatur betraf
So saß ich also auf der rostigen Antenne, die vermutlich nur noch einem rein dekorativen Zweck diente, und starrte hinunter in den Hof. Zu spät erst bemerkte ich, dass ich nicht der Einzige war, der in diesem Moment starrte. Genau neben mir, auf dem anderen Antennenarm, saß eine fette, hässliche Taube und starrte ebenfalls. Nur nicht auf den Hof, der es zweifelsohne wert gewesen wäre angestarrt zu werden, sondern auf mich. Mit einem Blick, der den halb durchgerosteten Antennenstäben hätte den Garaus machen können, wenn er nicht wie Pech an mir geklebt wäre.
"Du weißt schon, wo du da sitzt, oder? Oder!?"
krähte Sie, ohne eigentlich zu erwarten, das ich darauf eine Antwort folgen lassen könnte. Also eine rein rhetorische Frage. Und ja, sie krähte, auch wenn ich natürlich weiß, das Tauben "gurren", was zumindest für manche Menschen ein recht beruhigendes Geräusch zu sein scheint. Ähnlich dem fürchterlich falsch interpretierten Schnurren von Katzen. Diese Taube allerdings missachtete diese romantische Vorstellung und Artikulationsweise völlig und krähte mich an, als wäre es ihre Lebensaufgabe, irgendwann mal einen Hahn unverwechselbar zu imitieren.
"Um ehrlich zu sei..."
versuchte ich einzuwerfen, was aber schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt war, denn wie gesagt, es war eine Frage ohne Antwortmöglichkeit, die Taube machte also einfach weiter.
"Ich sehe schon, das wird ein schwieriger Fall"
krähte sie, nun mit einem gespielt resignierten Unterton,
"normalerweise reicht schon ein strenger Blick und die Eindringlinge ziehen Leine."
Zur Demonstration setzte sie den Todesblick noch einmal auf.
"Nur hast du DEN leider nicht bemerkt, als du wie hypnotisiert da herunter glotzen musstest."
Sie wies mit einem fast unmerklichen Kopfneigen in Richtung Hof, wobei in ihrer Stimme dabei keinerlei Bewunderung für die grüne Oase zu erkennen war, als sie "da herunter" in die duftende Morgenluft brüllte. Eher schwang so etwas wie Verachtung darin mit, als ob man auf ein Kothäufchen zeigen würde, in der Hoffnung, irgendwer würde es so schnell es geht weg machen, bevor man es einen Blickes würdigen musste.
"Gut, bei Spatzen muss man scheinbar immer alles ganz genau und langsam erklären, wie ich sehe."
Das hatte was leicht lehrerhaftes, das hässliche Federvieh wäre eine gute Schauspielerin geworden
"Schau doch bitte mal nach unten, UNTER dich also, und sag mir, was du siehst. AUSSER deine viel zu kleinen Füße und die rostige Antennenstange."
Da mir im Moment nichts passendes einfiel, was ich darauf hätte entgegnen können, tat ich einfach mal das, was sie von mir wollte. Und sah in zwölf Taubenaugenpaare, die mich alle genauso blöd anglotzten, oder sogar noch deutlich blöder, als der weibliche Hahn-Verschnitt dort drüben am anderen Ende der Antenne. Jetzt dämmerte mir langsam, was mir die Taube zu sagen versuchte. Denn die Antenne auf der ich mich so bedenkenlos niedergelassen hatte, steckte nicht einfach in einem Dach. Sie war stattdessen befestigt an einem erstaunlich robust gebauten Verschlag, der wiederum auf einem improvisierten Flachdach errichtet worden war, welches zweifelsohne einem Taubenzüchter gehören musste. Somit war auch die Antenne, egal ob rostig oder nicht, Taubengebiet, und das krächzende Exemplar dort drüben so etwas wie eine Aufpasserin, eine Antennenwächterin, damit sich bloß niemand auf ihr Eigentum nieder ließ.
Ich vermutete, genau das passierte in letzter Zeit wohl öfter, so dass man das lauteste und hässlichste Exemplar der Taubenschaar auf den Ausguck verbannt hatte, in der Hoffnung, Eindringlinge schon durch ihre Anwesenheit und/oder ihren Anblick zu vertreiben. Zugegeben, man sah als ahnungslos daher fliegender Vogel, wie ich es in dem Moment war, nur die Antenne, und nicht, dass darunter, sauber aufgereiht auf einer noch saubereren Stange, 13 Tauben ihr Revier hatten. Und zudem noch wenig Lust verspürten, von Unsereins ahnungslos mit Exkrementen bekleckert zu werden.
Nur um meine Theorie zu untermauern, tat ich genau das und schwang mich danach, sicherheitshalber, wieder auf, um mir von einem anderen Platz den Hof etwas näher anzuschauen. Mein säuberlich verdautes Frühstück traf unterdessen tatsächlich genau ins Ziel, das stolze Ergebnis jahrelanger Übung, welches in dem Fall ein ganz besonders aufgetakeltes Taubenweibchen war. Theorie also bestätigt und gleich mal noch ein paar Feinde dabei gemacht. Besser hätte der erste Tag in meinem neuen Zuhause nicht beginnen können.