Kapitel 2 - Frühstück bei Svankovskis
Mir war es schon immer ein Rätsel, was die Menschen so faszinierend an Tauben fanden. Und ja, auch wenn Die in unserer Geschichte eigentlich nur einen Nebenrolle spielen, vorerst, muss ich einfach auf dem Thema noch einmal herum reiten. Denn die Taube an sich ist, um es mal gelinde auszudrücken, einfach gestrickt. Oder sagen wir es mal frei heraus, sie ist blöd. Bis auf einige wenige Exemplare, die sich evolutionär auf einem etwas fortgeschrittenerem Ast befinden, aber in freier Natur nicht mehr auffindbar sind. Warum wohl? Dabei ist die Taube gesegnet mit allem, was ein Vogel braucht und können sollte. Sie fliegt, meist relativ elegant, sie gibt wohlige Laute von sich, deren Wirkung auf den Menschen wir ja schon besprochen hatten, sie ist generell recht sauber und durchaus fähig, komplexere Zusammenhänge zu verstehen. Wenn sie wollen würde. All das sollte ihr ein freies, ungebundenes Leben ermöglichen, ein Überleben ohne des Menschen Hand. Dennoch gieren sie gerade zu danach, von denen beachtet zu werden, bestaunt ihrer "Schönheit" wegen, ihrer Fähigkeit, nett dazusitzen und sich zu präsentieren, oder einfach nur, weil sie gut schmecken, wenn man sie zu Rotkohl und Klößen serviert. Letzteres wissen die Tauben allerdings nicht, denn Jene die es einmal wussten, sind schon längst verdaut, und alle Anderen, die es wissen könnten, waren zu dumm, um es weiter zu erzählen oder zu arrogant um es glauben zu wollen. So bin ich ganz froh, dass die Menschen uns Spatzen allgemein als ungenießbar und viel zu mager ansehen.
Als ich also den kleinen, aufgebrachte Tauben-Mob hinter mir gelassen hatte, dessen Gezeter rasch anschwoll und nun über den ganzen Hof hörbar war, begann ich damit, die Gegend etwas näher in Augenschein zu nehmen. Die Gefahr, das sie mir wütend hinterher fliegen würden, war ziemlich gering, denn im Moment hatten sie noch alle Flügel voll damit zu tun, das bedauernswerte Weibchen in seinen Originalzustand zurück zu versetzen. Ob der nun vor meinem Erscheinen schon besonders gut war, sei an diesem Punkt mal dahin gestellt. Wie auch immer, ich hatte also genug Zeit, mir ein Bild von dem Ort zu machen, der mir fast ein Jahr lang nicht einmal aufgefallen war.
Eigentlich bestand Josephines Hof aus nur sechs Häusern, die ihn umschlungen, einkreisten und die grüne Insel in seinem Inneren somit von der Außenwelt isolierten. Instinktiv steuerte ich also auf jenes Haus zu, welches vom Taubenschlag am weitesten entfernt war. Es kann nie schaden, ein wenig Abstand zu schaffen, wenn man sich gerade mit Absicht unbeliebt gemacht hat. So gelangte ich zur „Villa“, auch wenn ich erst später erfuhr, das das Haus diesen Namen trug. Sie befand sich in der südöstlichen Ecke des Hofes und war gerade zu betäubend weiß gestrichen. Als Kontrast dazu standen im Innenhof, dicht an sie geschmiegt, zwei riesige Kastanienbäume, die sich gerade daran machten, alles Grün aus sich heraus zu pressen, was sie sich den Winter über hatten verkneifen müssen.
Da die Villa schon seit Generationen fest in der Hand der Svankovskis war, Bäcker mit Leib, Seele und Tradition, beherbergte sie auch ihre Backstube. Aus dieser legte sich ein verführerischer Duft von Brot und süßen Leckereien wie ein großer, unsichtbarer Schleier über den Hof, vor allem in den Morgenstunden. Das erinnerte mich, insbesondere aber meinen Magen daran, dass meine letzte Mahlzeit schon eine ganze Weile zurück, und jetzt im Gefieder einer eitlen Taubendame lag. Doch wo es Brot gab, musste es auch Brotkrumen geben. Wo es ganz viel Brot gab, wie in der Bäckerei, auf deren Dach ich mich gerade nieder gelassen hatte, gab es demzufolge schiere Unmengen an Brotkrumen. Mann musste nur heran kommen.
Ein paar Flügelschläge genügten, um vom Dach sicher auf dem Hof der Bäckerei zu landen. Alles blank geputzt, kein einziger Krumen, aber das wäre auch zu einfach gewesen. Der Hintereingang, der natürlich verschlossen, und genauso weiß war, wie der Rest des Hauses, wurde links und rechts von zwei massigen Säulen flankiert. Auch wenn diese etwas fehl am Platz wirkten, konnte man schon verstehen, warum das Haus den Namen „Villa“ bekommen hatte.
Zum Glück für mich war es, wie eingangs mehrmals schon erwähnt, Frühling. Und für einen Frühlingsmorgen sogar schon erstaunlich warm. Das fand auch der alte Svankovski, dessen Backstube sich dadurch wohl zu einer Vorhölle entwickelt hatte. Gerade in dem Moment, als ich mir einen anderen Weg zu meinem Futter suchen wollte, nahm er mir die Arbeit schon ab und öffnete das weißgerahmte Fenster. Sofort ergoss sich ein Schwall warmer, stickiger Luft über den kleinen Hinterhof, und ein großer, rundlicher Kopf erschien in der Öffnung. Er fuhr sich mit seiner mehligen Hand über seine Halbglatze, auf der Schweißtropfen wie tausend kleine Sonnen glänzten. Danach war von denen zwar nicht mehr viel zu sehen, aber das Schweiß-Mehl-Gemisch bildete nun ein paar weiße Schlieren und interessante Muster auf seiner Kopfhaut. Er atmete einmal tief durch, schaute kurz über den Hof, lächelte... und hatte mich nur ein paar Augenblicke später schon entdeckt.
„Schau an, ein kleiner Dieb“, grummelte er in den nicht vorhandenen Bart. Eigentlich sogar fast nett, da hatte man schon Schlimmeres zu mir gesagt - „Mistvieh“ - „Parasit“ - „blöder Vogel“ oder sogar einmal „kleine Taube“ - wofür ich das bildungsresistente Kind mit einem lebenslangen Fluch belegte. Svankovski überlegte kurz, wobei seine blauen, wachen Augen mich grübelnd fixierten. Dann verschwand er unvermittelt wieder und somit war der Weg für mich in die Backstube frei, wenn er das Fenster nicht gleich wieder schloss. Alles musste jetzt ganz schnell gehen: Fensterbrett, Ziel suchen – in dem Fall ein möglichst großes Stück Brot - im Sturzflug die Beute schnappen, und wieder raus. Der wandelnde Mehlsack dürfte gar keine Chance bekommen, auch nur den Gedanken an Gegenwehr zu entwickeln. Genau das habe ich in meiner Kindheit auf dem Bauernhof geübt bis zur Perfektion, sollte also eine leichte Ãœbung sein.
Gerade als ich zum Sprung aufs Fensterbrett ansetzen wollte, erschien die große Glatze mit Svankovski daran aber schon wieder im Fenster, weshalb ich sofort den wundervollen Plan über den Haufen werfen musste. Was mir wirklich nicht leicht fiel, schließlich hatte ich nicht nur Hunger, ich wollte mir auch selbst beweisen, dass ich es immer noch drauf habe! Selbst nach einem Jahr als Stadtspatz. Der Bäcker sah mich wieder an, wobei über seinen erstaunlich kleinen Mund ein Lächeln huschte. Mit einer etwas grobschlächtigen Handbewegung, was bei der Körperfülle kaum zu vermeiden war, warf er mir eine ganze Hand voll Brotkrumen vor die Füße, wischte sich die Finger an seinem weissen Kittel ab, um dann zufrieden zurück an seine Arbeit zu stapfen. Verblüfft sah ich auf die duftenden Krümel, die sogar in maßgeschneiderter Fressgröße waren, damit ich mich nicht lange damit herumärgern musste, sie in schnabelgerechte Stücke zu hacken. Immer noch verblüfft begann ich zu essen und befand nach kurzer Zeit schon die Backkünste des alten Svankovski für meisterhaft und preiswürdig. Warum aber hatte er das getan? Es war das erste Mal in meinem Stadtleben, dass mir ein Mensch etwas zu Futtern gegeben hatte. Freiwillig! Eigenartig. Aber gut!
Wenig später bezog ich wieder meinen Platz auf dem Dach der Bäckerei, um die Lage an der Taubenfront zu klären. Das Haus, auf dem der findige Taubenzüchter seinen Verschlag aufgepfropft hatte, war ein wunderschönes Fachwerkhaus. Der Besitzer hatte sich wohl vor kurzem erst die Mühe gemacht, es einer Generalüberholung zu unterziehen, denn es wirkte wie frisch gestrichen. Auf dem Dach, das über der zweiten Etage begann, hatte der Taubenzüchter erhebliche Umbauten vorgenommen, um seine Liebsten dort unter zu bringen. Dazu hatte er auf der Hofseite ein Teil davon abgetragen, und es durch ein Flachdach ersetzt, worauf er dann den Taubenschlag platzierte. Muss eine menge Arbeit gewesen sein, zumal er scheinbar tunlichst darauf bedacht gewesen war, dass man von der Straßenseite davon nichts zu sehen bekam. So wie ich vor wenigen Minuten, denn das war genau die Richtung, aus der ich gekommen war und mich ohne jegliche Vorahnung direkt ins Nest der Furien gesetzt hatte.
Während ich mich auf dem Dach der Villa in der Sonne aufwärmte und mein zweites Frühstück verdaute, wanderte mein Blick ein Stück nach unten, vom Taubenschlag weg, in den ersten Stock des Fachwerkhauses. Dort saßen, auf dem riesigen, hölzernen Balkon aufgereiht, ebenfalls wie Tauben auf der Stange, drei Grazien mittleren Alters, die die erste echte Frühlingssonne mit vollem Körpereinsatz großflächig in Anspruch nahmen. Anstatt sich aber in aller Ruhe nur darin zu Suhlen, in der Hoffnung, ihrer erschreckend wintergebleichten Haut ein wenig Farbe zu geben, waren sie eifrig damit beschäftigt, sich über alles und jeden, der den Hof betrat, die Mäuler zu zerreißen. Und das meist in der gleichen, aufgeregten Hektik und mit ebensolcher aufopferungsvollen Hingabe wie die Tauben, die zwei Stockwerke über Ihnen noch immer mit meinen Hinterlassenschaften kämpften. Bei näherem Hinsehen und längerer Betrachtung hätte man zwischen den beiden Bewohnerparteien des Hauses, auch wenn sie rein biologisch nicht der gleichen Gattung angehörten, noch eine ganze Menge mehr Gemeinsamkeiten entdecken können. Somit hieß das Haus fortan in meinem Sprachgebrauch nur noch „Taubenschlag“, da einfach nichts besser passte, um das Treiben dort zusammenfassend zu beschreiben.
Gerade als ich mich daran satt gesehen hatte, vor allem die Grazien waren kein Anblick, den man mit vollem Magen länger ertragen konnte, betrat plötzlich jemand die Bühne, und somit auch diese Geschichte, der in Zukunft noch eine sehr wichtige Rolle zu spielen hatte, mich aber zu diesem Zeitpunkt erst ein mal fast zu Tode erschrecke.