Kurzgeschichte
Ich krieg dich doch! - Aussichtsplattform Hochofen5

0
"Ich krieg dich doch! - Aussichtsplattform Hochofen5"
Veröffentlicht am 23. März 2012, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Dominik Lewald
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

"Seit meiner Kindheit greife ich zu Stift und Papier, wann immer mich etwas berührt." ICH BIN ZURÜCK Fiona Lewald 1992 in Dortmund geboren, im Ruhrgebiet noch viele Jahre verweilt, in Bochum studiert und seit 2020 im schönen Münsterland zuhause. Heute lebe ich mit Ehemann und zwei Töchtern in Rheine.
Ich krieg dich doch! - Aussichtsplattform Hochofen5

Ich krieg dich doch! - Aussichtsplattform Hochofen5

Ich krieg dich doch!

Schwer atmend lief sie die Treppe hinauf.

Tatsächlich nahmen ihre Füße mittlerweile zwei Stufen auf einmal, um schneller zu sein. Ihr Atem hämmerte in ihrer Brust zum Dank nur noch ungestüm. Im gleichen Takt pochte darin auch ihr Herz, als wären beide eingebettet in einem unkontrollierten Adrenalinschub. Sie keuchte.

Die Zehen kräuselten sich schon jetzt schmerzhaft in den viel zu engen Sneaker.

Nur flüchtig sah sie sich zu den Seiten hin um. Suchte mit den Augen den geeignetsten Fluchtweg.Überall neben ihr und unter ihr war der alte Stahl von Rost zerfressen und in einigen Ecken krochen sogar feine

Spinnenweben die massiven Gitter entlang.

 Der Hochofen5 im Landschaftspark Duisburg Nord hatte definitiv schon bessere Zeiten gesehen, dachte das Mädchen schnaubend.

 Vielleicht wäre sie trotzdem stehen geblieben und hätte Fotos von den dicken Rohren und den verstaubten Schrauben gemacht, aber dafür blieb ihr keine Zeit.

Sie wusste, dass er irgendwo ganz dicht hinter ihr sein musste. Also rannte sie weiter und drehte sich nicht mehr um. Seine Schritte hinter ihrem Rücken echoten zwischen den Mauern, wie das Trampeln von Pferden. Sie schluckte erschöpft. Entschlossen und mit einem eleganten Satz hechtete sie über die hellgrüne Absperrung und taumelte über einige offenliegende Kabel, die sich von hier

aus immer tiefer in die Maschinen schlängelten, quer durch den Zwischenraum auf die andere Seite. Betreten verboten.

Im Augenwinkel sah sie, wie sein dunkler Haarschopf schon im Gegenlicht  zwischen Türrahmen und Handlauf zu erkennen war. Er rief etwas Raues, was das Mädchen nicht richtig verstand. Geduckt kletterte sie unter dem Geländer vor ihr hindurch und presste sich an einem bronzen schimmernden Kessel entlang bis auf eine zweite Treppe. Die Stufen an dieser Stelle waren kaum mehr breiter als eine Erwachsenenhandfläche. Durch die engen Gitterlöcher konnte sie senkrecht bis auf den Boden hinunter schauen. Sie schluckte ein Wenig. Schwindlig richtete sie den Blick zurück nach vorne, wo die Treppe

sich in einem unmöglichen Winkel um den Außenturm schlang.

Wie Efeu, stellte sie nüchtern fest.

 Er war immer noch ganz in der Nähe. Sie spürte seine Anwesenheit wie das Summen einer hartnäckigen Mücke in ihren Ohren und biss sich auf die Unterlippe.

Er musste doch irgendwie abzuhängen sein.

 Bei der nächst Besten Möglichkeit, als nur ein zwei Buch breiter Spalt die Boden trennten,  sprang sie von den wackligen Außenstufen zurück auf die grün markierte Besuchertreppe und schlidderte fieberhaft weiter aufwärts. Ihre Seite, direkt unter den Rippen, dort wo der Blinddarm liegen musste, stach inzwischen mehr als erbarmungslos und sie hoffte aufrichtig, dass sie Recht behielt

und es sich um einen Rundweg handelte.

Alles andere bedeutete, sie würde ihrem Verfolger nicht entkommen.

Alles andere bedeutet sie hätte keine Chance das Spiel für sich zu entscheiden.

Mit einer flüchtigen Bewegung strich sie sich den Schweiß von der Stirn und ging weiter. Sonne brannte auf ihrer Haut und es schien, als verkohlte sie den Himmel über ihr, der in einem strahlenden Blau die Aussicht auf die Stadt und die Zechenlandschaft bestach.

Er rief ihr nach. Sie sollte doch endlich aufgeben. Sie sollte doch stehen bleiben. Niemals, keifte es in ihr zurück und sie rannte nur noch pulsierender über die erste Plattform und weiter zur nächsten mau befestigten Treppe. Hinauf bis zum Dach den Hochofens.

Die Aussicht war atemberaubend.

Der plötzliche Einklang, als hätte der Mensch mit seinem Monstrum der Natur hier nie schaden wollen, stimmte sie in ihrem Taumel fast sentimental. Die Hand fest am Handlauf lief sie einmal um die Auslassung in der Mitte herum und ließ ihre Augen schließlich auf den Kaminen und den Kühlanlage links von ihr Ruhen. Erst jetzt fiel dem Mädchen ernsthaft auf, wie gewaltig das Hüttenwerk sich überall um sie herum erstreckte. Ein wahnsinniges Spektakel. 252 Stufen Stahl und Stein.

70Meter über dem vom Sommer heiß aufgekochten Asphalt.

Sie atmete zufrieden tiefer durch und lächelte. 

Das Geräusch als ihr Verfolger die letzten metallenen Stufen bis zur Aussichtsplattform

erreichte, schreckte sie aus ihrer Abwesenheit, wie ein kalter Herbstwind. Gänsehaut überzog ihre Arme.

Es waren auch die letzten Treppen bis zu ihr. Sie musste fliehen.Suchend schreckte sie hinter einem breiten Rohr, das an dieser Stelle fast gefährlich aus den Gittern empor stach, zurück und duckte sich. Die Hände waren verkrampft und dabei eigentlich nur rein zufällig wie zum Gebet gefaltet. Es erschien ihr dennoch eine sinnvolle Geste. Der eigene Schweiß kitzelte sie an der Stirn irgendwo über dem linken Auge, aber sie versuchte das störende Gefühl zu ignorieren. Schwieg stumm und versuchte sich nicht durch den kleinsten Atemzug zu verraten.

Und tatsächlich, sie sah ihn. Er schlich

zweimal um die rostigen Gitter herum und an einem für Besucher feststehenden Fernglas vorbei. Einen Moment verfiel wohl auch er dem Ausblick. Seine Augen jedenfalls verloren sich auf dem Abbild fernen der Autobahn, die von hier aus wie eine gemalte Bleistiftstrecke mit bunten Spielzeugautos anmutete, dann fing er sich doch wieder kopfschüttelnd und rannte auf der gegenüberliegenden Seite die parallele Stahltreppe hinunter.

Ihre Augen flogen eine Sekunde erleichtert zu. Sie hatte also doch richtig gelegen. Ein Rundweg. Verlassen sie nicht die am Handlauf mit hellgrüner Farbe markierten Wege. Beinahe hätte sie angefangen laut zu lachen. Stattdessen aber verharrte sie noch

einen Moment, dann stand sie ebenso auf und ging vorsichtig zurück zur ersten Treppe, von der aus sie hinauf gekommen waren.

Betreten auf eigene Gefahr.

Eltern haften für ihre Kinder. Und sie hatte doch zu hoch gewettet, bemängelten die gurrenden Tauben auf dem vordersten Schornstein, als wussten sie was geschehen würde.  Eine von ihnen flog lautlos davon.

Die morschen Latten unter ihr gaben knackend nach, gerade als das Mädchen zurück auf die oberste Stufe treten wollte. Das Geräusch klang betäubend schrill, es war zweifelsohne im ganzen Hochofen wie ein Beben zu hören. Zumindest aber war sie sicher, dass er es bemerkt haben musste.

Er konnte noch nicht weit genug entfernt

gewesen sein. Aufgeschreckt von dem Gedanken, er könnte sie doch noch fassen, rannten ihre Füße los. Sie torkelten die ersten Stufen unvorsichtig in einer Hektik abwärts, die ihren rechten Schnürsenkel sich verfangen und aufbröckeln ließ. Und mit dem nächsten Schritt passierte es. Ihr rechter Fuß trat auf das fliegende Schuhband und stolperte. Sie fiel.

70Meter über dem Boden.

Sie hätte geschrien, aber ihr Mund war trocken und aus ihrer Kehle drang vor Angst, als sie die Stahlgitter und das Geländer und den grauen Boden tief darunter auf sich zurasen sah, kein Ton. Schwerelos wartete ihr Körper auf den Aufprall, der unweigerlich kommen musste. Schwerelos schloss ihr

Verstand mit dem absurden Gedanken ab, gewinnen zu können, und kniff die Lider zusammen. Sie hatte das Spiel tatsächlich verloren. Als sie die Augen wieder einen Spalt weit öffnete, durchfuhr ein brutaler Schmerz ihre Glieder. Ihr Bein lag in einem seltsamen Winkel auf den untersten Stufen, aber sie spürte es nicht mehr. Im Aschblonden Haaransatz klebte Blut und tropfte hinter ihren Ohren durch die Löcher im Gitter bis auf den Stahl eines alten Kühlkessels. Der dumpfe Ton kam ihr genauso laut vor, wie das Tosen eines vorbeirollenden Zuges.

Dann plötzlich wurde es unheimlich still in ihr.

Die Sonne hoch über ihr blendete. Das Licht stach in ihren leeren Pupillen wie heiße Lanzen und hinterließ eine letzte feuchte

Träne auf ihrer blassen Wange.

Und dabei hatte es doch eigentlich nur ein schöner Sommertag sein sollen.

Ein kleines Abenteuer kurz vor den großen Ferien. Bevor ihre Wege sich vielleicht für immer trennten. Und jetzt trennten sie sich trotzdem.

 Der Junge kam quer über die Aussichtsplattform gelaufen und stockte abrupt auf der obersten Stufe.

„Ich sage doch, ich kriege dich“, lachte er. Aber das Lachen starb ihm. Die tiefgrünen Augen waren geweitet und schlagartig von allem naiven Wahn verlassen.

Als er entsetzt die Hand vor den, zum Aufheulen weit geöffneten, Mund schlug und sich setzte, um vor Übelkeit nicht völlig das

Gleichgewicht zu verlieren, hatte das Mädchen längst aufgehört zu atmen.  Neben ihr saß eine Taube und gurrte.

Irgendwo in seinen Ohren hörte der Junge die leisen Rufe der Klassenlehrerin.

Sie sollten mit den Versteckspielereien bitte aufhören und sich in fünf Minuten am Kiosk sammeln. Es war Zeit für den Heimweg.


-

© Fiona Wicka, 2012

0

Hörbuch

Über den Autor

scrittura
"Seit meiner Kindheit greife ich zu Stift und Papier, wann immer mich etwas berührt."
ICH BIN ZURÜCK
Fiona Lewald 1992 in Dortmund geboren, im Ruhrgebiet noch viele Jahre verweilt, in Bochum studiert und seit 2020 im schönen Münsterland zuhause. Heute lebe ich mit Ehemann und zwei Töchtern in Rheine.

Leser-Statistik
83

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
scrittura Re: -
Zitat: (Original von Moonoo am 30.10.2012 - 17:14 Uhr) Schöner Text, interessante Bilder die du da mit Buchstaben zeichnest. Weiterhin viel Spaß und Inspiration...

Liebe Grüße


vielen lieben Dank Moonoo :)
beste Grüße, Fiona
Vor langer Zeit - Antworten
Moonoo Schöner Text, interessante Bilder die du da mit Buchstaben zeichnest. Weiterhin viel Spaß und Inspiration...

Liebe Grüße
Vor langer Zeit - Antworten
scrittura Re: -
Zitat: (Original von Anlyna am 24.10.2012 - 21:40 Uhr) Das ist krass!
Aber so schön geschrieben!

LG Anlyna


Danke dir :)
Vor langer Zeit - Antworten
scrittura Re: -
Zitat: (Original von GerLINDE am 24.10.2012 - 21:30 Uhr) Hallo scrittura,

das hast Du sehr schön geschrieben. Deine Geschichte hat mir ganz prima gefallen. 5 Sterne für: "Ich krieg dich doch"!

Lieben Gruß

Gerlinde



vielen Dank :) dein Lob ehrt mich, ich werde schon ganz rot ;)
beste Grüße,
Fiona
Vor langer Zeit - Antworten
GerLINDE Hallo scrittura,

das hast Du sehr schön geschrieben. Deine Geschichte hat mir ganz prima gefallen. 5 Sterne für: "Ich krieg dich doch"!

Lieben Gruß

Gerlinde
Vor langer Zeit - Antworten
JanosNibor Holla! - Das ging aber jetzt mächtig unter die Haut, klasse! Du siehst mich begeistert! Sehr spannend, und mal ohne HappyEnd.

LG Janos
Vor langer Zeit - Antworten
scrittura Re: -
Zitat: (Original von EagleWriter am 20.04.2012 - 23:09 Uhr) Irgendwie... doch recht makaber. Stützt sich zu Tode nur um ... aber spannend bis zur letzten Seite.


Ja in meinem Kopf spielen sich manchmal markabere Dinge ab xD

Mein Freund und ich sind dort lustig herumgestreunt und ich habe mir gedacht "Wenn du jetzt unvorsichtig bist, kann das Böse ausgehen"
Zackkk.. Und da war die Idee zu der Story ;)

vielen Dank fürs Lesen und deinen Kommi

Gruß, Fiona
Vor langer Zeit - Antworten
EagleWriter Irgendwie... doch recht makaber. Stützt sich zu Tode nur um ... aber spannend bis zur letzten Seite.
Vor langer Zeit - Antworten
scrittura Re: -
Zitat: (Original von Marloh am 24.03.2012 - 07:21 Uhr) Auch selbst eher wie der Junge....erschöpft vor Schock....


vielen Dank auch dir Marloh :)
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
17
0
Senden

69038
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung