Zahlreiche Tränen bahnten sich hastig einen Weg über ihr bleiches Gesicht, während sie durch die lange, tiefschwarze Straße rannte.
Um sie herum ragten die hohen Gebäude wie riesige, finstere Gestalten aus dem Boden, umzingelten sie und starrten bedrohlich auf sie herab, als sie an ihnen entlang lief.
Sie wollte endlich weg hier, einfach nur weg, irgendwohin, wo sie keine Probleme mehr haben würde. Sie wollte an einen Ort, an dem sie geliebt werden konnte und nicht nur nach Strich und Faden belogen und betrogen wurde. Sie wollte ein glückliches Leben für sich, wollte lieben und geliebt werden, und nicht immer nur diese schrecklichen, stechenden Schmerzen in ihrem Herz verspüren.
Es war ihr einziger Wunsch, endlich von diesen Qualen erlöst zu werden und einen Mann zu finden, der immer an ihrer Seite stehen würde, doch wie ihr nun einmal erneut bewusst geworden war, konnte sie diesen Mann hier nicht finden. Das einzige, was hier zählte war die Gier und Lust nach Sex, die Besessenheit vom Gedanken an den nackten Körper eines Mannes oder einer Frau. Wahre Liebe bedeutete hier nichts, sie war unwirksam, solange diese Mächte regierten. Und solange sich dieser Zustand nicht änderte, konnte sie einfach nicht hier bleiben. Für sie gab es keine andere Lösung.
Nach einer Ewigkeit, in der sie durch die verwobenen Straßen und Gassen der Großstadt gelaufen war, kam sie erschöpft zum Stehen. Sie ließ sich auf den Boden sinken, lehnte sich rücklings gegen den gewaltigen Stamm eines knorrigen Baumes und atmete tief ein und aus. Ihr Atem ging nur stoßweise, sodass es ihr mehr Schmerzen bereitete als eine Wohltat war, ihre Lungen mit frischer Luft zu füllen. Mit jedem Atemzug durchzog sie ein langanhaltender, tiefsitzender Schmerz, der sich nur für wenige Sekunden vertreiben ließ, bevor er erneut einsetzte.
Vorsichtig schloss sie die Augen und versuchte die Eindrücke, die plötzlich auf sie einströmten, zu verdrängen. Zuerst kam dieser Schmerz, der während jeder Sekunde ihr Herz mehr und mehr zu durchbohren schien, dazu die Stille, die sie geheimnisvoll umgab. Der Wind umwehte kühl ihren halbnackten Körper, während sie die Arme enger um ihren Körper schlang. Ab und zu raste ein Auto über die gegenüberliegende Straße, schien sie jedoch völlig zu ignorieren, vielleicht nicht einmal zu bemerken. Niemand bemerkte sie je, also wunderte es sie auch nicht, dass es nun genauso war. Wer fragte sich schon, warum ein Mädchen mitten in der Nacht, noch dazu nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet, durch diese trostlose Gegend lief?
Es schien das normalste der Welt zu sein, verwundete Seelen in dieser Stadt vorzufinden. Es war wie ein Fluch, der jeden traf, der sein Herz zu verschenken drohte. Es konnte einfach kein gutes Ende nehmen, aufrichtige Gefühle für jemanden zu entwickeln, der unter solchen Menschen aufwuchs und sich ihrer Lebensart anpasste.
Sie seufzte leise auf und kramte zögernd in ihrer kleinen Handtasche, die sie eilig gepackt hatte. Darin befanden sich ihr Handy, auf das nie jemand schrieb, und eine Rasierklinge, die zwar klein, dafür aber umso schärfer war.
Als sie die Klinge an ihrem Unterarm ansetzte, liefen erneut die Tränen über ihre Wangen, bevor sie langsam zu Boden tropften und dort das kühle Gras benetzten.
Sollte sie es wirklich tun?
Sollte sie all das beenden, diese Schmerzen abstellen, die sie tagtäglich quälten und ihr Glück verhinderten?
Mit einer kräftigen Bewegung zog sie die Klinge über ihr Handgelenk und beobachtete, wie sich das Blut auf ihrer Haut verteilte. Bevor ihr überhaupt klar wurde, wie tief der erste Schnitt gewesen war, setzte sie erneut an, diesmal jedoch zu einem noch größeren Schnitt, der direkt über ihrer Pulsader verlief.
Sie begann, leise zu keuchen, während sich die Welt um sie herum drehte und zu schwarzen Schlieren verschwamm. Wie in Trance setzte sie ihre Tat jedoch fort, schnitt sich immer und immer wieder, bis sich vor ihren Augen alles blutrot verfärbte.
Sie sackte langsam in sich zusammen und sank zu Boden. Das Gras um sie herum war voller Blut und klebte feucht an ihrem kalten Körper. Sie spürte die Schmerzen noch immer, erkannte, dass sie noch da waren, doch auch, dass das alles bald vorbei sein würde. Nicht mehr lange, und sie konnte endlich von dieser Welt loslassen, konnte vergessen, was all die Männer ihr angetan hatten. Wie sie ihren Körper benutzt haben, um ihre Gier zu befriedigen, wie sie ihr Liebe vortäuschten und einfach fallen ließen, nachdem sie sich so sehr Hoffnungen machte. Niemand wollte sie, und niemand hatte sie in ihrem bisherigen Leben haben wollen. Sie war immer allein, nur eine leere Hülle, die den Männern zum Stillen ihrer Lust diente.
Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, umspielte ein kleines Lächeln ihre Lippen. Es war so unwirklich, als wäre das alles nicht real, nur wie ein böser Traum, der ihr bisheriges Leben durchzogen hatte. Sie konnte nicht glauben, dass alles gleich vorbei sein würde, und dennoch freute sie sich, dass ihr Leben nun endlich ein Ende nahm. Endlich hatte sie ihren eigenen Willen durchgesetzt und sich von dieser schrecklichen Welt befreit.
Am Ende der Straße vernahm sie bereits die schrille Sirene eines Krankenwagens, doch für sie war es bereits zu spät. Das erste Mal, dass jemand sie und ihre Taten bemerkte, doch nun gab es für sie keine Rettung mehr. Egal, wer die Sanitäter gerufen hatte, es hatte keinen Sinn mehr.
Es war, als würde sie über ihrem eigenen Körper schweben, ihren eigenen Tod beobachten. Wie eine Szene, die eigentlich nicht zu ihrem Leben gehörte, und sie doch unendlich erleichterte, während sie sie mitverfolgte.
Noch bevor die Sanitäter sie erreichten, wich der letzte Hauch des Lebens aus ihrem Körper. Sie lag leblos vor dem Baum, inmitten ihres eigenen Blutes, und immer noch lächelnd.
Dieses Leben war endlich vorbei, es war nun an der Zeit, ein neues zu beginnen. Es würde besser werden, glücklicher, indem sie keinen Gedanken an auch nur einen einzigen Mann verschwendete.
Es gab nur sie und die neue, friedliche Welt, die sie nun betrat.
Es war ihr lang ersehnter Neuanfang.