Im Morgengrauen brachen sie auf, im Gepäck eine Liste der Namen, die sie streichen mussten. Fenja stellte keine Fragen, sie funktionierte. Genau zu diesem Zweck hatte man sie ausgebildet und alles Leben aus ihr gewrungen. Darius war nur ein Anhang, den es galt bei passender Gelegenheit loszuwerden. Doch die bot sich nicht in allzu naher Zukunft. Sie bereisten gemeinsam die moderne Welt und befreiten sie von Menschen, deren Schicksale Fenja weder zu Nahe gingen, noch interessierten.
Est Unobtainium
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Fenja stand vor ihm. Sie war angespannt, versuchte die Worte, die in gewohnt schleppender Weise von den Lippen kamen aus seinem Kopf zu lesen. Sie hasste diesen Mann, so wie sie alles hier verabscheute. Die spärliche Unterkunft mit dem Blätterdach, dessen Durchlässigkeit ihre Schlafstatt bei Regen in ein geplatztes Wasserbett verwandelte. Die Blicke der Kommilitonen, wenn sie am frühen Morgen, nur im Schlüpfer zum Weiher ging und den Honigreis, den sie jeden Tag herunterwürgte, um nicht vom Fleisch zu fallen. All das würde bald ein Ende haben. Sie war soweit. Lord Orbrin hatte es gesagt, vor aller Augen. Das Gefühl von Stolz überkam sie wie ein Rausch. Sie hatte nichts mehr gefühlt seit dem Tag, an dem man ihr alles genommen hatte. Nichts, außer dem stetigen Hass, der sich in jeder Minute durch ihr Herz brannte. Die Anderen hatten sie angesehen, voller Neid und Erstaunen und sie war unter diesen Blicken dahin gewandelt, als wären es Scheinwerfer, die sich auf sie richteten. Sie war soweit, endlich! Als eine der Letzten ins Lager gekommen, als eine der Ersten würde sie gehen. Sie straffte die Schultern. Die Unterwerfung kostete sie so viel Mühe. Sie hatte sich selbst symbolisch den Mund zunähen müssen, um ihre Tage nicht im Loch zu verbringen. Ihre Zähne bissen fest aufeinander. Nur ein falsches Wort könnte alles gefährden. Hier im Lager hatte sie gelernt sich zu zügeln, öffentliche Demütigung zu ertragen, Schmerzen auszublenden. Sie war nur noch eine Hülle, angefüllt mit Hass. Das hatte man hier aus ihr gemacht, mit Folter, mit Hieben, mit Hunger und Durst. Mit nächtlichen Besuchen, unter denen sie ihre Jungfräulichkeit verloren hatte. Lord Orbrin selbst ergötzte sich an ihr. Sie war eine Maschine und existierte nur noch für diesen einen Zweck. Â
„Nun, denn Fenja, ich sehe deine Entwicklung mit Erstaunen.“ Endlich lösten sich Worte unter dem grauen Bart hervor. Sie richtete den Blick gen Boden. Wenn der Meister sprach, durfte kein Augenkontakt bestehen. Seine Stimme hallte von den Wänden wieder, als wäre sie überall. Sie kroch hinter den Säulen hervor, schwebte unter der Decke, bohrte sich in Fenjas leeres Herz. „Du bist soweit, ich hatte es schon angedeutet. Die sieben Lichter der Nacht haben zu mir gesprochen.“ Wie gern hätte sie jetzt gelacht. Ihn ausgelacht, ihn und seine Mythen. Die Zauberkraft, hinter der er sich versteckte, durch die er sich den Gehorsam holte, und die doch nichts weiter war, als ein Ammenmärchen. Er war nur ein gewöhnlicher Mann, das hatte sie gespürt, als er auf ihr gelegen und all seine Sinne eingebüßt hatte. Sie hätte ihn töten können, in diesem kurzen Augenblick und seine Macht wäre erloschen, mit nur einem Handschlag. Ihre Finger hatten sich um den Griff des Messers gelegt. Das Messer, das sie stets bei sich trug, in einer Scheide am ledernen Gürtel. Sie legte den Gürtel nie ab. Ging fast nackt zum Weiher, doch der Gürtel lag um ihre Hüften, wie eine Mahnung. Das letzte Mal im Loch hatte ihr der Schnitt eingebracht, der sich für immer auf der Wange Masuries zeigen würde. Ein Schnitt an der Kehle hätte ihn das Leben gekostet. Fenja wusste mit dem Messer umzugehen. Sie wollte ihn nicht töten. Tief in ihrem Inneren, unter all dem Hass verborgen, empfand sie Mitleid für die gequälte Seele. Er war nur einer von vielen, dessen Weg vorherbestimmt war. „Nun, Fenja, du wirst nicht alleine gehen.“ Diese Worte trafen sie wie giftige Pfeile. Unmerklich trat ein kurzes Schütteln in ihre stolze Haltung. Die Hand wanderte zum Gürtel.
„Darius wird Dich begleiten!“
„Warum Meister? Warum diese Fessel?“, fragte sie, ohne nachzudenken.
„Still, Fenja! Ich erlaubte Dir nicht zu sprechen!“ Sie ging in die Knie, senkte den Kopf noch tiefer und empfing einen Peitschenhieb vom Aufseher neben sich. Der Schmerz wanderte durch ihren Körper, hin zur Hand, die sich am Griff des Messers hielt und die Klinge mit Energie füllte. Sie hatte gelernt, den Hass und Schmerz umzuleiten. Die Kraft im glänzenden Metall aufzufangen, für die Menschen, die sie töten würde. Das Messer war wie der letzte Rest ihres Herzens, ein Instrument ihres dumpfen Fühlens. „Du bist etwas Besonderes, Fenja. Mir beliebt es nicht, Dich zu strafen!“, sagte er und erhob sich aus dem Thron. Sie zitterte von der beißenden Wunde auf ihrem Rücken und vom Zorn. Aber sie blieb in der ergebenen Haltung, ließ sich von ihm berühren. Schlug die Hand nicht weg, die sich mit unverhohlener Gier auf ihre Schulter legte. Er roch nach Alter und Tod. Dieser klägliche Rest eines einstmals kräftigen Körpers würde sich ausradieren lassen, mit einer einzigen, kurz gemachten Entscheidung. Doch hinter der zerfurchten Stirn lag ihre Freiheit. Sein Wort, ein Wort, das er halten musste, um nicht für immer das Gesicht zu verlieren. „Du warst stets wie eine Tochter für mich“,brüllte das Gesagte wie eine lächerliche Lüge in ihren Ohren, hallte im Kopf wie ein wirrer Reigen aus Gedanken, die sie eines Besseren belehrten. Sie schob alles von sich, hin zur Klinge. Das hier war nur ein Moment. „Ich habe gewusst, dass du die Prophezeiung erfüllen würdest, Fenja. Ganz allein, Du. Als ich das erste Mal in deine Augen blickte, habe ich es gewusst.“ Sein Mantel streifte ihren Rücken, als er um sie herumging und sie einkreiste, wie ein Tier seine Beute. „Du wirst die Zirkel vereinen, so wie es die Vorhersehung vor langer Zeit bestimmte. Du wirst das Unobtainium finden. Und wenn ich es in meinen Händen halte, wird die Welt vor mir niederknien, so wie Du jetzt und ich werde die Macht besitzen, zum alleinigen Herrscher aufzusteigen.“ Eine Frage formte sich auf Fenjas Lippen, doch sie war nicht so dumm, sie auszusprechen. Nicht noch einmal wollte sie die Peitsche spüren. Der Meister sah die Frage in ihren Augen und ließ sich dazu herab, sie zu beantworten. „Darius wird mit dir gehen, weil du zu kostbar bist, Kind. Du brauchst einen Gefährten. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn dir etwas zustoßen würde.“ Sie wusste zu gut, um diese, zweite Lüge. Er wollte das Unobtainium, nichts anderes interessierte diesen Mann. Und er sollte es bekommen, wenn damit ihre Freiheit besiegelt war.
Im Morgengrauen brachen sie auf, im Gepäck eine Liste der Namen, die sie streichen mussten. Fenja stellte keine Fragen, sie funktionierte. Genau zu diesem Zweck hatte man sie ausgebildet und alles Leben aus ihr gewrungen. Darius war nur ein Anhang, den es galt bei passender Gelegenheit loszuwerden. Doch die bot sich nicht in allzu naher Zukunft. Sie bereisten gemeinsam die moderne Welt und befreiten sie von Menschen, deren Schicksale Fenja weder zu Nahe gingen, noch interessierten. Sie sah keinen Zusammenhang, zwischen dem Töten dieser vielleicht Unschuldigen und dem Erhalt der so wichtigen Substanz. Sie hatte eine Liste. Die galt es abzuarbeiten, mehr forderte sie nicht. Sie tötete Männer und Frauen, Greise und Kinder, stets ohne Mitleid und Scheu. Sauber und kaltblütig, ohne Spuren zu hinterlassen. Darum kümmerte sich Darius. Fenja verspritze das Blut, er ließ es verschwinden und erwies sich damit doch als äußerst hilfreich. Zwischen ihnen entwickelte sich eine Art von Beziehung, getragen von kurzen Gesprächen um den Ablauf der Tötungsvorhaben, das Beschaffen von Nahrung und einem Schlafplatz. Darius ordnete sich ihr unter. Er sah zu ihr auf, wie zu einem Mentor. Die Zeiten, in denen auch er sie mit den Augen verschlungen hatte, waren vorüber. Der Respekt vor ihrem Können, vor ihrem Kalkül war viel zu groß, als dass er sich so eine Regung noch erlaubte.
Es war Winter, als Lord Orbrin sein Gefolge zurückrief. Fenja hatte die Neuigkeit, zugetragen von Darius, mit Unmut aufgenommen. Zehn Namen trennten sie noch von ihrer Freiheit. Warum diese Unterbrechung? Wichtige Neuigkeiten, Änderungen in der Formation des Tales. Was ging es Fenja an? Sie wollte nichts, als sich des Kleinods bemächtigen, mit dem sie sich auslösen könnte, in ein Leben, von dem sie einmal wusste, dass es existierte, und das jetzt nichts weiter als ein vergangener Schatten war. Und doch musste sie sich fügen. Das Wort des Meisters hatte Bestand, bis in den kleinsten Winkel der modernen Welt, überall waren seine Häscher.
Der Winter hatte auch das Lager erfasst, als Fenja und Darius zurückkehrten. Schnee lag auf den Blätterdächern, die Ausgesuchten kämpften unter silbrigen Flocken, bekleidet noch immer wie am Tage ihres Aufbruchs. In Fenjas Behausung wohnte ein blutjunger Knabe, ein Kind, wie sie schon unzählige getötet hatte. Die Rekrutierung schien keine Früchte mehr zu tragen.
Man zollte ihr Erscheinen mit Ehrfurcht. Sie durfte in den heiligen Räumen nächtigen, bekam ein üppiges Mal, neues Schuhwerk. Man gönnte ihr Ruhe. Als sie vor die Augen des Meisters treten musste, ahnte sie, dass er etwas im Schilde führte. Er stand auf, um sie wie einen lang ersehnten Besuch zu umfangen. Ihre Hand glitt zum Messer, „Fenja, mein Stolz. Man hat mich von deinen erfolgreichen Bemühungen unterrichtet. Heute sollst du dich erholen und Kraft schöpfen. Ich habe dir den Saal richten lassen. Du sollst in der feinsten Seide schlafen und ruhmreich träumen.“ Sie suchte in seinen Augen nach dem wahren Grund ihrer Konsultierung, fand aber nichts, außer der Trübung, die während ihrer Abwesenheit noch stärker hervorgetreten war. Die Ehre des Verweilens neben den Gemächern Orbrins wurde nur ihr zu Teil. Darius musste mit dem Blätterdach vorlieb nehmen, und Fenja wusste, dass dieser ihr gemachte Vorzug einen Hintergrund hatte. Spät in der Nacht, als sie angespannt in die Dunkelheit horchte, klärten sich die neu gewonnenen Privilegien und ihre Bewandtnis auf. Keuchend kam der Meister zu ihr, ein alter Mann, der trotzdem noch den jugendlichen Freuden frönen wollte. Sie spürte wieder seine Sinne fortschwimmen, wie beim ersten Mal, als er sich auf ihr abmühte, und lag still, die Hand an der Klinge. Der Gedanke zuzustechen und sich so der Last zu entledigen keimte in ihr, doch das Wissen um die Aufseher neben der Schlafstatt, die Peitschenhiebe, die ihr im selben Atemzug den Tod bringen würden, ließen sie es erdulden. „Du bist so schön, Fenja, so jung und kräftig. Ich bin ein alter Mann und meine Zeit wird bald kommen“, raunte er ihr ins Ohr, wie ein Liebender. Sie unterdrückte ein Würgen, ließ die Hände an ihrem Körper gewähren.
Am nächsten Morgen brachen sie in aller Frühe auf. Darius fragte nicht nach ihrem Befinden. Das ganze Lager wusste darum. Es war ein offenes Geheimnis. Sie redeten kaum miteinander und Fenja ging zur einzigen Tätigkeit über, die sie noch ausfüllen konnte und vergessen ließ. Sie aß kaum mehr, schlief nur noch in Minuten, die Hand am Messer, und tötete noch kaltblütiger, als jemals zuvor. Darius meinte in ihrem Handeln eine plötzliche Lust zu sehen. Mit jedem Leben, das sie nahm, schien ihr eigenes erträglicher zu werden. Bald ging es ihr immer schlechter, die Namen auf der Liste mussten aufgeschoben werden. Fenja erbrach sich Morgen um Morgen. Sie magerte ab, während ihr Umfang immer mehr zunahm. Auch ohne die Ärzte der modernen Welt wusste Darius, was dies zu bedeuten hatte.„Du erwartest ein Kind, Fenja! Ein Leben wächst in Dir heran“, sagte Darius eines Morgens.Der Ausdruck in ihren Augen bestürzte ihn. So viel Hass hatte er noch nie in einem Menschen gesehen. Er loderte ihm entgegen, als hätte er selbst diese Frucht in ihr gepflanzt. Er musste versprechen, niemandem etwas zu sagen. Die Nachricht davon durfte das Tal nicht erreichen. Dieses Kind würde Fenja dem alten Zauberer nicht gönnen. Darius Mitleid und Ehrerbietung ließen ihn abtrünnig werden. Er versteckte die Freundin vor den Häschern, begab sich selbst in allergrößte Gefahr, doch er sah dieses Flammen in ihrem Blick. Ihr Hass war so groß, dass sie sich selbst schaden würde und in ihm reifte etwas wie Liebe zu diesem Mädchen, das sich schon lange selbst verloren hatte. Die Tage vergingen. Sie hatten ein gutes Versteck und blieben unbehelligt. Darius sorgte für Fenja, wie ein treuer Freund. Als das unerwünschte Kind das Licht der Welt erblickte, war er neben ihr, hielt ihre Hand, obwohl sie ihn beschimpfte und das Messer gegen ihn richtete. Fenja presste das Bündel an die Luft, in drei Stößen, dann stand sie auf, wie befreit von einer zehrenden Krankheit und schickte ihn aus dem Unterschlupf. Darius wusste, was nun geschehen würde. Er hatte den Ausdruck in ihren Augen gesehen. Derselbe Ausdruck, der sie beim Töten beherrschte. Er hörte das Kind schreien, aus kräftigen Lungen, dann erstarb das helle Tönen, kein Laut war mehr zu hören. Darius ging hinein, die Reste zu beseitigen. Das war stets seine Aufgabe. Doch er fand Fenja vor, an der Wand kauernd, das neue Leben an der Brust. Sie schenkte dem ungewollten Kind ihre Mutterschaft. Tränen liefen über die Wangen, in ihren Augen war der Hass erloschen. „Ich konnte es nicht!“, sagte sie, „Ich konnte ihm einfach nichts antun.“ Darius legte den Arm um sie, wissend, dass Verfolgung und Flucht nun ihre ständigen Begleiter sein würden.
Fenja stand hinter ihm, angespannt, ungeduldig. Der alte Mann war nur noch ein Schatten seiner selbst. Jemanden im Schlaf zu töten hatte ihr noch nie Freude bereitet. Das Töten brachte ihr keine Freude mehr. Sie setzte die Klinge an. Ein letztes Mal würde sie als Werkzeug dienen. „Das Kleinod, Meister, ich habe es gefunden“, wisperte sie in die Dunkelheit. Draußen in der modernen Welt, an der Hand Daruis, wartete ihr Sohn Uno.