Oliver und der alte Mann
Oliver ist mit seiner Mutter aus dem verträumten Dörfchen in eine große Stadt gezogen.
"Die Jungs sind alle Angeber. So was wie Nico gibt es unter den keinen. Nico! Mensch, mit dir konnte man angeln und Kirschen aus Nachbars Garten klauen. Opa August hat mich sogar mal auf seinem Hans reiten lassen. Warum hab ich keinen Opa?", träumt Oliver, sitzt auf seinem Bett und schaut traurig auf Fotos aus einer wunderschönen Zeit.
Am nächsten Morgen weckt Mutti ihn zeitig.
"Ach ja, sie muss ja schon um sieben auf ihrer neuen Arbeit sein. Na schön. Ich versuch’s mal mit diesem Kinderhort. Mensch, Nico! Wenn du wüsstest, wie sehr du mir fehlst."
Die Schule ist aus. Hort auch. Endlich! Oliver ist von Mutti zum großen Jungen ernannt worden und muss von nun an alleine nach Hause gehen. Der Wohnungsschlüssel an der dünnen Strippe um seinen Hals baumelt bei jedem Schritt nach rechts und links. Wie immer träumt Oliver und biegt dabei ein paar Straßen später ein.
"Na hallo! Wo bin ich denn gelandet?"
Ein Schäferhund kommt auf ihn zugerannt.
"Hasso! Wo kommst du denn her?", ruft Oliver ihm entge-gen. Der Hund stutzt, bleibt wie angenagelt stehen.
"Hasso! Hierher!", hört Oliver eine äußerst energische Stim-me. Der Hund pariert und saust wie ein Pfeil zu Herrchen.
Herrchen kommt behäbig auf Oliver zugestapft, stemmt die Hände in die Hüften, holt tief Luft und schüttelt den Kopf.
"Sag mal Junge, hast du den Verstand verloren? Hasso ist ein Biest was Kinder betrifft. Wenn der dich nu gebissen hätte?"
"Ach wo", winkt Oliver ab. "In unserm Dorf hatten wir auch einen Hasso, genau so einen wie den da."
"So, so! War das deiner?"
"Nö, er gehörte Opa August mit dem braunen Pferd Hans."
"Opa August? Ist das dein Opa?"
"Mein Opa? Nö, ich hab keinen Opa, aber eine Mami."
"Aha! Hab dich hier noch nie gesehen, kleiner Mann."
"Wir wohnen erst seit einer Woche hier. Aber zu Hause war’s schöner. Ich gehe heut das erste Mal alleine von der Schule nach Hause. Weiß gar nicht, wie ich hierher gekommen bin. Na ja, hab mich eben verlaufen."
Oliver schaut hilflos auf seine Schuhspitzen, ruckelt seinen Schulranzen auf dem Rücken zurecht und will sich gerade umdrehen, da hört er Hasso winseln, und eine alte aber starke Hand packt Oliver sanft an der rechten Schulter. Braune Augen, wie Mami sie hat, schauen ihn aus einem faltigen, ganz nahen Gesicht liebevoll, fast zärtlich an.
"Na, na, kleiner Mann. Wir bringen dich schon wieder nach Hause. Wo wohnst du denn eigentlich?"
Oliver sagt die Adresse und ist mit seinem Latein am Ende.
"So ein Zufall! Da wohn ich auch. Sind wir ja fast Nachbarn. Ich will nachher sowieso noch ins Viertel wegen meiner Zeitung. Was hältst du von einem guten Kakao?"
Oliver nickt begeistert und denkt: "Eigenartig, Mutti sagt im-mer, dass ich nie mit fremden Menschen mitgehen darf. Aber der hier ist irgendwie gar nicht fremd und alleine sind wir ja auch nicht."
Ein anheimelndes Gefühl kribbelt durch seinen schmalen Körper, als die starke Hand des alten Mannes seine kleine weiche behütend umschließt.
"Na, haste deinen Enkel gefunden?", lacht die Gartennach-barin, fleißig die Gießkanne hin und her schwingend, über den Zaun. Der alte Mann schaut grimmig zurück.
"So, kleiner Mann. Hier wohn ich im Sommer", sagt er wie-der freundlich geworden, schließt das Gartentor auf und schiebt Oliver behutsam in die Laube.
"Hier ist es aber schön! Fast wie zu Hause."
Oliver schaut sich auf den Wandregalen die vielen Bilder an. Sogar ein gewaltiges Geweih stakt aus der Wand über dem kleinen Fernseher.
Der alte Mann kommt aus der Kochnische geschlurft.
"So, hier ist der Kakao. Kuchen hab ich auch noch gefunden. Aber nicht meckern. Ist nur gekaufter."
"Haben Sie keine Kinder?", fragt Oliver neugierig, nimmt ei-nen kräftigen Schluck aus dem riesigen Kakaopott, stopft den Kuchen in den Mund, schaut wieder über die Bilder auf den Regalen und sein Blick bleibt unvermittelt an einem hängen.
"Doch, doch. Ich hab eine Tochter", beginnt der alte Mann zu erzählen. "Traurig die ganze Sache. Du musst verstehen. Sie sollte einen Mann heiraten … mit viel Geld und so. Hätte auch fast geklappt, wenn nicht dieser tolle Kurt gekommen wäre. Ein Musiker! Na ja, hat nicht auf mich gehört das Mä-del und plötzlich war sie schwanger. Er weg von ihr und sie weg von mir. Ich hab leider nie wieder was von ihr gehört. Klar war ich sauer. Aber warum denn gleich wegrennen? Ich hätte ihr doch trotzdem geholfen. Ach Mädchen, Mädchen!"
Oliver hört kaum zu. Er stiert mit offenem Mund auf ein Bild und hält den Kakaopott noch immer in seinen Händen.
"Was ist? Hast du jemanden entdeckt, den du aus deinem Dorf kennst?", fragt der Alte und nippt an seinem Kakao.
"Ja! Da! Das ist Mami!", schreit Oliver förmlich aus sich her- aus, der Kakaopott knallt scheppernd auf den Tisch.
"Waaas? Wo?", stutzt der alte Mann, dreht sich abrupt auf seinem Sessel um und stemmt sich hoch.
"Na da, das ist doch meine Mami!"
Oliver springt wie vom wilden Affen gebissen auf, reißt das Bild vom Regal und hält es dem alten Mann dicht vor die Na-se. So nah hatte er sie schon lange nicht mehr vor Augen.
"Das ist Maria, meine Tochter, von der ich dir..."
"Nein! Das ist meine Mami", fällt ihm Oliver ins Wort und schaut den alten Mann unsicher, fragend an. Dieser beginnt zu zittern. Völlig aufgewühlt füllen sich seine Augen mit Tränen. Sein Blick wandert zwischen dem Bild in seinen Händen und dem kleinen Jungen vor sich hin und her.
"Dann musst du mein Enkel sein, kleiner Mann", lacht er plötzlich los, hebt Oliver hoch, gibt ihm einen Kuss auf die Wange und setzt ihn vorsichtig wie ein rohes Ei wieder ab.
Mit dem Handrücken wischt der alte Mann die Tränen aus dem Gesicht, tappt unbeholfen zu dem kleinen Schrank un-ter den Regalen, holt ein Fotoalbum heraus, schiebt es über den Tisch und setzt sich schnaufend neben Oliver.
"Siehst du? Das ist Oma Erna. Ist schon lange tot die Gute."
Der alte Mann schnäuzt laut in ein großes kariertes Taschen-tuch und wischt laufend verstohlen Tränen aus dem Gesicht.
"Ja, das stimmt. Oma Erna auf ihrer Lieblingsbank unter der großen Kastanie vor euerm Häuschen. Das Foto hat Mami auch. Mami hat mir oft von Oma erzählt, aber nie von dir."
Olivers Blick wandert langsam, als würde sich plötzlich eine neue Welt für ihn eröffnen, vom Album zu dem alten Mann.
"Dann ... dann bist du mein Opa, mein echt richtiger Opa."
Oliver umarmt stürmisch seinen Opa, der ihm zärtlich über die kurzen braunen Stoppelhaare streichelt.
"So, nu aber nach Hause. Sonst gibt’s Ärger mit Muttern."
"Okay! Aber du kommst mit", strahlt Oliver und schultert flink seinen Ranzen. Hasso bleibt nach ein paar energischen Worten von Opa jaulend aber gehorsam im Garten.
"Hallo, Frau Pippich! Sie werden’s nicht glauben, aber ich hab wirklich meinen Enkel gefunden", lacht Opa über den Zaun, nimmt Oliver fürsorglich an die Hand und geht stolz wie ein Spanier mit ihm los. Frau Pippich bleibt der Mund offen stehen. So hat sie den alten Griesgram noch nie erlebt.
"Na endlich! Hast du den Schlüssel verbummelt?", ruft Mutti.
"Das ist mein Opa!", präsentiert Oliver sein Mitbringsel.
"Vater!!!", ruft Olivers Mutter überrascht und verwirrt zugleich.
"Wie kommst du ... ich meine Oliver ... ich ..."
"Ach Mädchen, meine Maria, alte Ausreißerin", sagt Opa, geht auf Maria zu und zieht sie liebevoll in die Arme.
"Verzeihst du mir, dass ich damals weggelaufen bin?", fragt Maria und deckt dabei linkisch den Abendbrottisch.
"Ich dir? Ich hoffe, du verzeihst mir altem Dickschädel. Hat-test ja Recht. Hab dich doch in einer Tour bevormundet."
"Hurra, ich habe einen Opa", jubelt Oliver und hüpft wie ein Froschjunges durch die Stube. Opa ist sein bester Freund.