Beschreibung
Der Rattenfänger saß auf einem seiner Lieblingsplätze und sah Marianne und Wilhelm überglücklich wirkend aus dem Hafencafé herauskommen. Sofort schrieb Rattenfänger für Euch aus seinem Erinnerungsbuch diese berührende Geschichte auf ...
Zigarettentribut
Der Rattenfänger hat so seine Lieblingsbänke in der Hafengegend. Die Plätze wandern mit der Jahreszeit, dem Sonnenstand, den Sichtverhältnissen auf die ein- und ausfahrenden Fischkutter … und den Windverhältnissen. Es gelingt sogar an einigen Tagen, alle Bedingungen unter einen Hut zu bringen. Heute allerdings, bei dem eisig scharfen Ostwind, bleibt für den idealen Sitzplatz lediglich die Möglichkeit der Kapuze oder weitergehen. Der Rattenfänger entschied sich für die Kapuze. Und das war die richtige Entscheidung. Er sah zwei ältere Herrschaften freudestrahlend und Hand in Hand aus dem Hafencafé herauskommen und dachte: „Oh, oh, oh. Heute wird es beginnen mit dem Geschnatter im Städtchen und morgen werden sie sich die Mäuler zerreißen. Das sind doch Marianne und Wilhelm!“ Der Rattenfänger duckte sich ein wenig zur Seite, um aus dem Blickfeld der beiden zu geraten. Das wäre jedoch gar nicht nötig gewesen. Für Marianne und Wilhelm gab es offensichtlich keine Umwelt.
Wilhelm war stolz wie der Hühnerhahn hinten in seinem Revier auf dem Hof der Eltern. Ach, er war stolzer als dieser Herrscher über sieben Hennen, die eifrig im Hühnerhaken im staubigen Boden nach versandetem Korn scharrten. Gack, gack, gack. Kikeriki, kikeriki, kikeriki. Ha, heute durfte er seinem Vater Zigaretten holen. Er lief mit dem 50-Pfennig-Stück, fest von seiner rechten Faust umschlossen, Richtung Kaufmann Lübbers, der in der gleichen Straße sein kleines Ladengeschäft führte. Vielleicht siebzig Meter Entfernung waren zu überbrücken. Wie es sich für die Zeit Mitte der Fünfziger Jahre so verhielt, gab es in dieser kleinen Stadt noch sehr wenige Autos, und üblich war in den Straßen daher ebenfalls noch das holperige Kopfsteinpflaster. Dieses war wenig geeignet für fünfjährige stolze Kinder, die es sehr eilig hatten, ihrem Vater zum ersten Mal eine kleine Packung Juno zu holen. Sechs Stück für sieben Tage. Filterlos. Für jeden Feierabend eine. Oftmals wurde ein Feierabend ausgespart, um sonntags beim Spaziergang um den Marktplatz eine Juno genussvoll zu rauchen. Mehr Taschengeld blieb dem Vater aus seinen schweren Arbeiterhänden zum Verqualmen nicht. Sein ganzer Stolz.
Und so passierte es Wilhelm, was passieren musste. Er stolperte. Dabei kannte er jede Kante, jeden Stein. Jede Stolperfalle. Doch er stolperte. Streckte die Hände nach vorn, fing sich ab, hörte es klimpern, und die 50 Pfennig waren nicht mehr in seiner kleinen Faust und auch zwischen den Kopfsteinplasterritzen nicht mehr aufzufinden. Er schämte sich und folgte nicht dem alten Rezept, jetzt fürchterlich rumzuschreien und in Tränen auszubrechen. Sämtliche Nachbarn wären aus den Türen hervorgestürzt gekommen, und hätten mit ihm gesucht und … das kleine Silberstück gefunden. Vielleicht hätten seine Eltern ihn oder das aufgeregte Geschnatter der suchenden Nachbarschaft sogar gehört und hätten mit gesucht.
So fand er nicht, was er, immer mehr verzagend, suchte, aus eigener Kraft und schlich „wie ein geprügelter Hund“ zurück nach Hause. Von seiner Mutter, die ihm zuerst begegnete, fing er sich sofort eine schallende Ohrfeige ein und zusätzlich ein heftiges Gezeter. Sein davon aus dem Garten aufgeschreckter Vater nahm ihn auf den Arm, drückte ihn und ging mit ihm das verlorene Geldstück suchen. Doch es war zu spät. Das Geldstück war nicht mehr aufzufinden und hatte sich wahrscheinlich neue Freunde erobert. Der Vater verzichtete die kommende Woche auf den geliebten Qualm und der Ehestreit um das in Wilhelm gesetzte Vertrauen dauerte ebenso lange an. Der Vater gab Wilhelm von seinem neuen Taschengeld, das gab es damals, wie den baren Arbeitslohn, wöchentlich, direkt wieder 50-Juno-Pfennige. Ein überglücklicher Wilhelm ging fortan einige Jahre Juno kaufen und brachte diese stets erfolgreich nach Hause. Die Mutter war es gewesen, wie es Wilhelm nach dem ersten Einkauf vom Vater erfuhr, die ihm am letzten Tag des Ehestreites diesen Rat gegeben hatte.
Ungefähr zehn Jahre später, als Wilhelm schon die ersten heimlichen Eigenversuche mit Zigaretten und Pfeifen an sich vorgenommen hatte, kuschelte er mit Marianne in einem der „Raucherzelte“, die in dem nahe gelegenen Wäldchen, vermeintlich gut getarnt, aufgebaut waren. Marianne war schon zwei Jahre älter als Wilhelm und sowohl am Rauchen interessiert als auch an vorsichtigen Streicheleinheiten an sehr verbotenen Stellen. Dann geschah es. Marianne gestand Wilhelm, dass sie damals gesehen hatte, dass Wilhelm stürzte und ein Silberstückchen verlor. Sie stand hinter der Gardine des elterlichen Wohnzimmers. Als sie Wilhelm Richtung Elternhaus zurückgehen sah, lief sie sofort aus dem Haus, und noch bevor Wilhelm in sein Elternhaus trat, war sie mit dem Juno-Geld schon wieder in ihr Elternhaus zurückgelaufen. Ihre Mutter hatte Mariannes Aktion mitbekommen, sie zur Rede gestellt, ihr das Geld abgenommen, ihr eine saftige Ohrfeige verpasst und sie zum Stillschweigen verdonnert. Was ihre Mutter für das Geld gekauft hatte, wusste sie nicht zu sagen. Bis heute war sie dieses Ereignis nicht aus ihrem Gedächtnis „losgeworden“.
Wilhelm nahm all sein Wissen aus den Erzählungen der Großen und aus den dänischen Heftchen, die diese in ihren Zelten zum Herumzeigen verborgen hielten, zusammen. Zitternd vor Aufregung drückte er Marianne sanft auf den Boden des Zeltes. Presste irgendwie seine Lippen auf die ihren. Marianne streichelte ihn über seinen Rücken, was ihm Mut gab und ihn seinen „kleinen Wichser“ spüren lies, wie ihn die Großen nannten, wenn sie sich nach dem Bildergucken ihre „großen Wichser“ vorzeigten. Die Großen wollten unbedingt vergleichen, wer von den freizügigen Fotos sich am Kräftigsten erregen konnte. Damit war der Anführer bis zum nächsten Treffen bestimmt. Hartmut gewann fast jede „Sitzung“ und war für eine längere Zeit ununterbrochen an der Spitze. Als Hans ihn dann sozusagen mit einem Entwicklungssprung binnen Kurzem vom Thron stieß … doch das sollte erst in einigen Monaten passieren. Jetzt zurück zum Geständnis … Und irgendwie hatte auch Marianne an diesem Nachmittag wohl genug von den Erzählungen ihrer Freundinnen und wollte wissen, wie die zwei Gegenstücke zusammenpassten. Es passierte etwas Seltsames, etwas Neues, etwas Ungeheures. Es war schneller vorbei, als die 50 Pfennige damals verloren und gefunden waren. Wie auch immer. Übung macht die Freude. Wenn Marianne nach diesem ersten Versuch Wilhelm traf … oder Wilhelm passte Marianne ab … Dann sagten sie: Juno? Ja, ja, ja. Juno hatte seinen Tribut zu leisten und zahlte ihn länger als sieben fehlende Zigaretten den Vater eine Woche gequält hatten und die Ohrfeige, die Marianne von ihrer Mutter erhielt, sie körperlich jemals hätte schmerzen können.
Gut fünfzig Jahre später saßen zwei ältere Herrschaften, die sich aus den Augen verloren hatten, in einem gut besuchten Hafencafé des kleinen Ortes und tranken zu einem süßen Stückchen Nusstorte ein Kännchen Kaffee. Der Mann schaute, während er aß und trank, nebenher in eine Tageszeitung. Die grauhaarige, sehr hagere Frau, schaute zu ihm herüber, dann wieder aus dem Fenster. Sie wirkte nachdenklich und etwas unsicher. Dann erhob sie sich von ihrem Tisch am Fenster, trat, quer durch den Raum gehend, an Wilhelms Tisch, der mehr im hinteren Teil des Lokals sich befand, heran und fragte: Juno? Wilhelm blickte von der Zeitung hoch und sah in die immer noch so wunderbaren dunkelbraunen Augen, um die herum sich in den Jahren so einige Fältchen gebildet hatten. Er lächelte. Er lachte. Er sprang auf. Nahm dieses Persönchen in seine kräftigen Arme, zog sie an seinen leicht füllig gewordenen Körper heran, sodass die schmächtige Frau fast in ihm verschwand, und drückte sie fest an sich. Er würde sie nie mehr gehen lassen. Egal, was noch kommen sollte.
Copyright by Rattenfänger
09. März 2012