Waffenstillstand
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Wieder überkamen ihn Schuldgefühle. „Ich bin erst heute zurück gekommen und habe mir das ganze Ausmaß noch nicht angesehen. Ist es denn wirklich so schlimm, dass für Sie gar nichts zu retten ist?“
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„Ja, das ist es leider.“
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„Und ich kann gar nichts für Sie tun?“
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„Es wäre schön, wenn ein paar meiner Leute bei Ihnen arbeiten könnten. Einige sind nämlich dringend auf Arbeit angewiesen.“
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„Sie meinen, so dringend, dass sie sogar bei einem Blutegel arbeiten würden?“
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Ihr Lachen gefiel ihm immer besser, vor allem, weil es diesmal so spontan kam. „Du liebe Zeit, hören Sie auf, sich selbst so zu zerfleischen Ich werde schon ein gutes Wort für Sie einlegen.“
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„Das trifft sich gut, denn einige meiner Leute haben mich aus Protest verlassen. Sie haben hier einen guten Eindruck hinterlassen, wie mir scheint, Cassie. Gibt es also gar keine Möglichkeit mehr, Ihr Lokal zu retten?“
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„Was wissen Sie eigentlich über mich, außer dass ich vom Zirkus käme?“
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„Nun ja, viel mehr eigentlich tatsächlich nicht.“
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„Tja wissen Sie, Ray, es stimmt auf jeden Fall, dass ich zum fahrenden Volk gehöre. Meinen Eltern gehört ein kleiner Zirkus, ich bin in der Manege aufgetreten, noch bevor ich laufen konnte. Bei so einem kleinen Betrieb braucht man jeden, den man kriegen kann.“
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Ihre Stimme war nun weicher, leidenschaftlicher. Ray wagte es sogar, sich ein wenig zu entspannen.
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„Aber ich war nicht immer dort. Für einen gescheiten Schulabschluss musste ich eine Zeitlang in ein Internat. Dann ging ich eine Weile wieder mit auf Tour, um meine Leute zu unterstützen. Bis vor kurzem war ich auch mal wieder da. Hm, was sie aber nicht wissen können, ist, dass ich davor meine Studien bestanden habe. Harvard Business School.“
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Ray verschluckte sich beinahe an seinem Drink. Das war ja nur einen Steinwurf von seiner Alma mater entfernt, der Harvard Divinity School,dem geisteswissenschaftlichen Trakt!
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„Harvard!“, stieß er überrascht aus, „Wann waren Sie denn dort? Ich meine, wir hätten uns beinahe begegnen können.“
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Wieder sprach sie in Rätseln, als sie antwortete: „Das glaube ich eher nicht... Jedenfalls habe ich meinen Abschluss vor zwei Jahren gemacht, A minus, aber das reicht, glauben Sie mir, um die Risiken einer Geschäftseröffnung abschätzen zu können.“
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Ah, darauf wollte sie hinaus! Trotzdem schwieg er und sie redete weiter.
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„Deswegen können Sie mir glauben, ich bin nicht blöd, blind und naiv in dieses Abenteuer gelaufen. Meine Finanzdecke war in Ordnung, auch wenn-“, hier brach sich wieder ein Schnauben Bahn, „-ich mit SOLCHEN Schwierigkeiten nicht gerechnet hatte.“
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„Und was genau wollen Sie mir damit sagen, Cassie?“
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„Dass auch ich mich ungern in einem falschen Licht betrachtet fühle. Unter anderen Umständen hätte ich vielleicht sogar durchhalten können. Dieses Scheitern im Finanziellen hat einen guten Grund, den ich aber hier mal beiseite lasse.“
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„Hm“, machte er nachdenklich.
Diese junge Frau mit der interessanten Vergangenheit fesselte ihn. Und das, ohne dass er bisher auch nur ihr Gesicht hatte sehen können! Seinen nächsten Gedanken sprach er daher laut aus, ohne es eigentlich geplant zu haben.
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„Da sitzen wir nun, zwei gründlich missverstandene Kreaturen.“ Cassies spontanes Lachen klang sehr anziehend. „Ich bedaure, dass wir uns nicht unter besseren Umständen kennen gelernt haben.“
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Der Stuhl neben ihm knarzte, als sie sich vorbeugte. „Dann fangen wir nochmal von vorn an.“
Ihre Hand berührte seine und er drückte sie automatisch. „Hi, ich bin Cassiopeia Zanzini. Freut mich, sie kennen zu lernen.“
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„Rayleigh Gotha Lornton der III., angenehm“, gab er zurück und konnte ihr Grinsen beinahe hören. Dazu pfiff sie durch die Zähne.
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„Wir sind ein tolles Pärchen, ein Nachkomme des Hauses Gotha und eine Zirkusprinzessin.“
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„Respekt, das wissen Sie also auch?“
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„Ich muss aber nicht ständig 'der Dritte' zu Ihnen sagen, oder?“ Er verdrehte die Augen, auch wenn sie es nicht sehen konnte, schien sie es aber zu spüren. „Sorry, der musste einfach raus..“
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„Na, ich denke, den hatten Sie gut bei mir.“
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„Danke. Möchten Sie noch einen Drink, Ray?“
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Er spürte in sich hinein. Der Tag bisher war schon extrem lang gewesen und er war direkt vom Flughafen ins Chaos gerumpelt.
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„Nein danke, auch wenn ich es bedaure, aber so langsam muss ich in die Federn. Morgen wird es wahrscheinlich schwierig genug, es fehlen wie gesagt etliche Leute und mein Geschäftsführer ist ja auch weg. Auch wenn ich diesen Mann nicht wirklich vermisse, aber ich weiß noch nicht, ob ich den Ablauf morgen so hinkriege.“
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Sie streckte sich nun auch. „Wissen Sie was? Ich habe ja nun Zeit, wie wär's, wenn ich morgen bei Ihnen vorbei komme und zusehe, was ich helfen kann?“
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„Das würden Sie tun? Für mich?!“
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„Wir waren uns doch einig, dass Sie keine direkte Schuld trifft, oder? Sie sind mir sympathisch, Sie sollen nicht auch noch scheitern. Außerdem könnte ich dann mit den Leuten sprechen.“ Diese Frau erstaunte ihn immer mehr.
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Er verabschiedete sich mit Handschlag von Miss Cassiopeia Zanzini. Nach den ersten Unannehmlichkeiten war es ein recht netter Abend gewesen und er dachte kurz amüsiert, ob er sie morgen überhaupt erkennen würde, da er immer noch nicht wusste, wie sie aussah. Wobei das ja auch umgekehrt galt. Jedenfalls war er gespannt darauf, sie morgen einmal richtig zu sehen.
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Doch er wurde enttäuscht. Natürlich war er sehr früh in seinem Büro, solch unchristliche Zeiten hätte er auch niemandem zugemutet. Aber auch um 10 Uhr am Vormittag hatte sie sich noch nicht bei ihm gemeldet. Schade, war sie etwa doch unzuverlässig?
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Dabei hätte er gerne Hilfe bei der Buchhaltung gehabt, nun, sei es drum, das würde er schon schaffen. Wenigstens hatte Miss Zanzini in einem Wort gehalten und ihm ein paar ihrer Leute geschickt, von denen er die meisten einstellte.
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