Kurzgeschichte
zerschlissenes Paradies

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"zerschlissenes Paradies"
Veröffentlicht am 07. März 2012, 6 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

"Seit meiner Kindheit greife ich zu Stift und Papier, wann immer mich etwas berührt." ICH BIN ZURÜCK Fiona Lewald 1992 in Dortmund geboren, im Ruhrgebiet noch viele Jahre verweilt, in Bochum studiert und seit 2020 im schönen Münsterland zuhause. Heute lebe ich mit Ehemann und zwei Töchtern in Rheine.
zerschlissenes Paradies

zerschlissenes Paradies

zerschlissenes Paradies

Sie sitzt am Fenster. Ihr Blick ist verloren im grau verhangenen Himmel, auf der anderen Straßenseite. Die Wolkendecke über dem Geäst der Baumwipfel ist aufgebauscht wie eine dunkle Armee, die lautlos Front bezieht und im Dickicht auf den nächsten Schachzug des Feindes lauscht.Es ist still in dem Zimmer. Es ist still in ihrem Herzen und in ihrem Kopf, die mittlerweile in gegenseitigem Einverständnis aufgehört haben nachzudenken. Andere Entscheidungen sein anderen überlassen, aber nicht mehr ihr. Seufzend legt die junge Frau ihre Hände, die auf ihrem Schoß geruht hatten, in Falten. Sie dachte immer, der Tod  sei etwas Friedliches.

 Wenn du stirbst, schließt du müde die Augen und auf deinen Lippen zeichnet sich ein sanftes Lächeln ab. Und wenn deine Wimpern dann vielleicht Ewigkeiten oder vielleicht Sekunden

später auffliegen, siehst du das Paradies. Wolkenduft liegt dir in der Nase und Bäche ergießen sich, aus denen es zu Boden regnet. Wenn du dich weit genug vornüber lehnst, siehst du vielleicht deine Liebsten und sendest ihnen einen stillen Gruß von den Sternen.

 Sie lächelt ein Wenig, zumindest neigt sich ihr linker Mundwinkel leicht nach oben. Es poltert. Draußen in dem künstlich angelegten Park und in den Fluren vor der schweren Tür herrscht ein Reges auf und ab. Menschen rennen oder warten und reden. Aber alles bewegt sich doch aufgewühlt in demselben monotonen Takt der Uhrzeiger an der weißen Wand über dem Bett.

Nur die blasse Frau am Fenster sitzt bewegungslos und schweigt. Sie hatte sich Gott, als einen starken Mann mit weißem Schnauzbart und Stoppeln am Kinn vorgestellt. Er trug sicher einen feinen weißen Anzug. Und er begrüßte in ihrem Traum vom Tod, die vielen Seelen und er hieß sie willkommen in

seinem Paradies über den gehetzten Köpfen der Welt. Dafür hat es sich gelohnt zu leben.

Doch der Tod entpuppt sich als Wolf im Wolkenpelz.Es ist kein friedlicher Spaziergang hinüber ins geliebte Paradies. Es ist eine Gefangenschaft, denkt sie und möchte am liebsten die Augen schließen. Und selbst hinter zugekniffenen Lidern sieht sie die Farben des Raumes und die kreiselnd wandernden Uhrzeiger noch. Es gibt kein Schwarz. Kein Ruhen. Keine stille Ewigkeit. Sie schluckt.

 Ihre Finger ballen sich zu schwachen Fäusten, als wäre sie für den grausamen Kampf der aufziehenden Armeen am Himmel gewappnet. Es machte keinen Sinn. Was bringt es sich zu beschweren, wenn niemand dich hören kann und niemand dich sehen kann. Und wenn niemand dein Herz schlagen hört, weil es sich entschieden hat, dich alleine zurückzulassen.

Hätte sie weinen können, die Tränen würden fließen, wie ein Meer und auf den sterilen

Boden tropfen. Und hätte sie Schrein können, wäre ihre Stimme durch die dutzenden Räume und Gänge geschallt, wie das Echo eines wilden Tieres. Aber sie kann beides nicht mehr.

Und schlimmer noch, sie kann sich nicht einmal dagegen wehren. Sie kann nur sitzen und benommen beobachten, wie in einem nicht endenden Film auf einer lebenden rundum Leinwand, was passieren wird. Und sie muss leiden und warten, dass der Film vielleicht irgendwann endet und sie einschlafen lässt.

 Der Tür Knauf wird plötzlich umgedreht und die Tür fliegt so ruckartig auf, dass sie dumpf gegen den schmalen Schrank dahinter schlägt.

Der Mann und die Frau, die hineinkommen, sind ihre Eltern. Aber sie kommen nicht zu ihr ans Fenster. Sie umarmen sie nicht zur Begrüßung. Sie schauen nur an ihr vorbei, in den regnerischen Himmel und stellen sich weinend an das Bett. Sie ist wie Luft. Und ihre Mutter nimmt die Hand des toten Körpers und

versucht sich Zuspruch zuzunicken und zu lächeln, „Jetzt bist du an einem besseren Ort mein Kind“. Die junge Frau am Fenster löst den Blick von ihren trauernden Eltern und ihrem toten Körper im Krankenbett, dann schaut sie wieder stumm hinaus in die Wolken.

Vielleicht bleibt sie für immer dort sitzen.

Und sie erdenkt sich ihr eigenes Paradies, weil Gott ihr keines geben wollte.

  

©07.03.2012   Fiona Wicka

 

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Über den Autor

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"Seit meiner Kindheit greife ich zu Stift und Papier, wann immer mich etwas berührt."
ICH BIN ZURÜCK
Fiona Lewald 1992 in Dortmund geboren, im Ruhrgebiet noch viele Jahre verweilt, in Bochum studiert und seit 2020 im schönen Münsterland zuhause. Heute lebe ich mit Ehemann und zwei Töchtern in Rheine.

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paulkarl Was dann? - Danke liebe Fiona,
für deine guten Gedanken, auf die ich ganz "zufällig" gestoßen bin.
Was kommt danach - das beschäftigt uns doch alle.
Geht es weiter? Auch dein Text?
Vielleicht interessieren dich auch meine Gedanken...
Liebe Grüße
paulkarl
Vor langer Zeit - Antworten
Lunamiz Wow - Ich muss sagen, ich finde den Text ehrlich gut geschrieben - und auch das Thema ist toll gewählt.
Mir hat er gefallen!
Vor langer Zeit - Antworten
AngiePfeiffer Das Paradies - Ein wunderbarer Text, danke dafür und LG Angie
Vor langer Zeit - Antworten
ulla Irgendwann setzt sich wohl jeder mit diesem Thema auseinander, viele Fragen, keine Antwort...
Abschied schmerzt immer
lg
ulla
Vor langer Zeit - Antworten
derrainer hallo fiona - das paradies , ist ein glauben , wie der an gott ,
doch der mensch muß glauben , er ist ihm mitgegeben ,
gleich welcher gott oder paradies , es ist glauben .
was stirbt ist der körper ,
ein thema welches schon generationen behandelt habe n
aber immer lebende ,
das paradies

gruß zu dir rainer
Vor langer Zeit - Antworten
scrittura Re: -
Zitat: (Original von Isabel am 15.03.2012 - 16:23 Uhr) Der Text gefällt mir. Sehr behutsam ein schweres Thema in Angriff genommen. Könnte es so oder ähnlich sein?
Gerne gelesen
Liebe Grüße
Isabel


wie es wirklich sein wird, das erfahren wir wohl selbst erst, wenn es für uns so weit ist zu gehen.
Danke vielmals für deinen Kommentar :)

liebe grüße, Fiona
Vor langer Zeit - Antworten
scrittura Re: -
Zitat: (Original von GerLINDE am 07.03.2012 - 22:49 Uhr) Hier muss ich staunen. Sehr gut über ein schweres Thema geschrieben.
5 Sterne am Himmel zusätzlich für Deine Geschichte.

Lieben Gruß
GerLinde


Vielen Danke GerLinde :)
Es freut mich, wenn dir mein Text gefallen hat

glg, Fiona
Vor langer Zeit - Antworten
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