zerschlissenes Paradies
Sie sitzt am Fenster. Ihr Blick ist verloren im grau verhangenen Himmel, auf der anderen Straßenseite. Die Wolkendecke über dem Geäst der Baumwipfel ist aufgebauscht wie eine dunkle Armee, die lautlos Front bezieht und im Dickicht auf den nächsten Schachzug des Feindes lauscht.Es ist still in dem Zimmer. Es ist still in ihrem Herzen und in ihrem Kopf, die mittlerweile in gegenseitigem Einverständnis aufgehört haben nachzudenken. Andere Entscheidungen sein anderen überlassen, aber nicht mehr ihr. Seufzend legt die junge Frau ihre Hände, die auf ihrem Schoß geruht hatten, in Falten. Sie dachte immer, der Tod sei etwas Friedliches.
Wenn du stirbst, schließt du müde die Augen und auf deinen Lippen zeichnet sich ein sanftes Lächeln ab. Und wenn deine Wimpern dann vielleicht Ewigkeiten oder vielleicht Sekunden
später auffliegen, siehst du das Paradies. Wolkenduft liegt dir in der Nase und Bäche ergießen sich, aus denen es zu Boden regnet. Wenn du dich weit genug vornüber lehnst, siehst du vielleicht deine Liebsten und sendest ihnen einen stillen Gruß von den Sternen.
Sie lächelt ein Wenig, zumindest neigt sich ihr linker Mundwinkel leicht nach oben. Es poltert. Draußen in dem künstlich angelegten Park und in den Fluren vor der schweren Tür herrscht ein Reges auf und ab. Menschen rennen oder warten und reden. Aber alles bewegt sich doch aufgewühlt in demselben monotonen Takt der Uhrzeiger an der weißen Wand über dem Bett.
Nur die blasse Frau am Fenster sitzt bewegungslos und schweigt. Sie hatte sich Gott, als einen starken Mann mit weißem Schnauzbart und Stoppeln am Kinn vorgestellt. Er trug sicher einen feinen weißen Anzug. Und er begrüßte in ihrem Traum vom Tod, die vielen Seelen und er hieß sie willkommen in
seinem Paradies über den gehetzten Köpfen der Welt. Dafür hat es sich gelohnt zu leben.
Doch der Tod entpuppt sich als Wolf im Wolkenpelz.Es ist kein friedlicher Spaziergang hinüber ins geliebte Paradies. Es ist eine Gefangenschaft, denkt sie und möchte am liebsten die Augen schließen. Und selbst hinter zugekniffenen Lidern sieht sie die Farben des Raumes und die kreiselnd wandernden Uhrzeiger noch. Es gibt kein Schwarz. Kein Ruhen. Keine stille Ewigkeit. Sie schluckt.
Ihre Finger ballen sich zu schwachen Fäusten, als wäre sie für den grausamen Kampf der aufziehenden Armeen am Himmel gewappnet. Es machte keinen Sinn. Was bringt es sich zu beschweren, wenn niemand dich hören kann und niemand dich sehen kann. Und wenn niemand dein Herz schlagen hört, weil es sich entschieden hat, dich alleine zurückzulassen.
Hätte sie weinen können, die Tränen würden fließen, wie ein Meer und auf den sterilen
Boden tropfen. Und hätte sie Schrein können, wäre ihre Stimme durch die dutzenden Räume und Gänge geschallt, wie das Echo eines wilden Tieres. Aber sie kann beides nicht mehr.
Und schlimmer noch, sie kann sich nicht einmal dagegen wehren. Sie kann nur sitzen und benommen beobachten, wie in einem nicht endenden Film auf einer lebenden rundum Leinwand, was passieren wird. Und sie muss leiden und warten, dass der Film vielleicht irgendwann endet und sie einschlafen lässt.
Der Tür Knauf wird plötzlich umgedreht und die Tür fliegt so ruckartig auf, dass sie dumpf gegen den schmalen Schrank dahinter schlägt.
Der Mann und die Frau, die hineinkommen, sind ihre Eltern. Aber sie kommen nicht zu ihr ans Fenster. Sie umarmen sie nicht zur Begrüßung. Sie schauen nur an ihr vorbei, in den regnerischen Himmel und stellen sich weinend an das Bett. Sie ist wie Luft. Und ihre Mutter nimmt die Hand des toten Körpers und
versucht sich Zuspruch zuzunicken und zu lächeln, „Jetzt bist du an einem besseren Ort mein Kind“. Die junge Frau am Fenster löst den Blick von ihren trauernden Eltern und ihrem toten Körper im Krankenbett, dann schaut sie wieder stumm hinaus in die Wolken.
Vielleicht bleibt sie für immer dort sitzen.
Und sie erdenkt sich ihr eigenes Paradies, weil Gott ihr keines geben wollte.
©07.03.2012 Fiona Wicka