Jonas zog das Auto lächelnd in die Kurve, „so macht man das!“, dachte er, nahm den Fuss vom Gas, schon von weitem konnte er Ilara sehen, die vor dem Haus auf ihn wartete. Sie trug ein kurzes, weisses Kleid, ihre langen Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten, der ihr weit über den Rücken fiel. Als sie das Auto erkannte, strahlte sie über das ganze Gesicht, was ihm ein noch breiteres Grinsen entlockte. Sie stieg ein und begrüsste ihn mit einem Kuss, der nach Vanille roch.
„Hey, Süsser!“, sagte sie leise. Er lächelte ihr zu und fuhr wieder los.
„Wohin gehen wir?“, wollte sie wissen.
„Lass dich überraschen!“, antwortete er, warf ihr einen kurzen Blick zu. „Es wird dir gefallen, ganz bestimmt!“
Ilara hatte schnell verstanden, dass er nicht gerne redete, während er fuhr. Und er hörte auch nicht wirklich zu, was für sie manchmal schon ein kleines Problem darstellte. Sie redete gern, vor allem während dem Auto fahren. Er hatte lieber Musik, er konnte sich besser auf die Strasse konzentrieren. Die Fenster waren heruntergekurbelt, das Dach offen und der warme Sommerwind wehte über ihre Gesichter.
„Ohhhh jaaa!“, machte er und schraubte die Lautstärke hinauf, „ich lieeeeeebe diesen Song!“ er musste schreien, damit sie ihn hören konnte. Sie lächelte.
„Ich mag ihn auch“, sagte sie leise und sah ihn von der Seite an. Beobachtete, wie sich seine sinnlichen Lippen bewegten. Am liebsten hätte sie ihn geküsst, aber das musste warten. Sie verkniff sich die Frage, wie lange sie fahren würden. Wahrscheinlich hätte sie keine Antwort bekommen. So lehnte sie sich zurück, sah aus dem Fenster und liess ihre Gedanken vorbeifliegen. Dachte darüber nach, wie lange sie nun schon seine Freundin war. Sechs Monate. Dieses Jahr hatte eigentlich mit ihm begonnen, was sie als gutes Omen sah. Denn es war ein besonderes Jahr, das liess sich nicht abstreiten. Das Jahr, in dem die Welt untergehen wollte, wenn man denn all dem glauben wollte. Sie glaubte es. Es war gut möglich, dass die Erde – „hör auf!“, schalt sie sich in Gedanken, „denk lieber daran, wie schön dieses Jahr ist!“. Ilara warf ihm einen Blick zu, lächelte und dachte an ihr erstes Treffen. Als sie sich zum ersten Mal sahen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Für beide. Deshalb dauerte es auch nicht lange, bis sie sich das erste Mal küssten. Sie konnte sich gut an diesen Abend erinnern. Wie ihr die Knie weich wurden und die Welt sich zu drehen begann. Er war der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Bei diesem Mann sass sie im Auto, dieser Mann gehörte ihr. Manchmal konnte sie es kaum fassen.
„Da sind wir!“, sagte er und stellte den Motor ab. Sie sah sich um.
„Wo sind wir?“, wollte sie wissen.
„Komm“, gab er zurück, „Steig aus. Ich zeige es dir.“
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Sie folgten einem schmalen Weg, der vom Parkplatz weg durch ein Waldstück führte. Jonas trug einen Korb bei sich, der mit einer karierten Decke zugedeckt war. Er führte sie dem Waldstück entlang zu einem kleinen See.
„Oh!“, entfuhr es ihr.
„Schön, oder?“, er lachte, „Ich mag diesen Ort!“. Er stellte den Korb hin, nahm die Decke und breitete sie auf dem Boden aus. „Hier kommen sehr wenige Leute vorbei. Warum das so ist, weiss ich nicht. Aber – und das ist ja wichtig, wir sind hier ungestört.“
„Warum kennst du diesen Ort?“, fragte sie, während sie sich auf die Decke sinken liess.
„Ah…“, machte er, „ich war schon oft mit meinen Freunden hier!“, er vermied sie anzusehen und auch auf den Bereich „Freunde“ konkreter einzugehen. Denn eigentlich war er nur mit jemandem immer wieder hier. Das musste Ilara nicht wissen.
„Ich hoffe, du hast Hunger!“, sagte er und begann, den Korb auszuräumen. Ilara nickte und liess ihren Blick über den See schweifen.
„Es sind 23 Schwäne“, hauchte sie nach einigen Minuten des Schweigens. Er nickte. „Und so viele Enten!“, fuhr sie fort. Wieder nickte er und sah hinaus auf den See. Das Wasser funkelte im abendlichen Sonnenlicht, als wäre es pures Gold. Auf der anderen Seite fielen riesige Schatten ins Wasser von den Bäumen die am Ufer wuchsen. Er deutete ans andere Ufer. „Wollen wir da rüber schwimmen?“, fragte er.
„Ich habe aber…“, sie schwieg wieder und lächelte verschmitzt. „So so… du willst also nackt baden?“
Er sah sie an. Liess seinen Blick von ihrem Gesicht über ihre Schultern zu ihrem Bauch gleiten.
„Nackt baden?“, fragte er leise, „klingt interessant!“
Ihr wurde ein bisschen schwindelig. War es heute soweit? Erfüllte sich endlich der brennende Wunsch zwischen ihren Schenkeln? So wie er sie ansah…
„Also, lass uns schwimmen“, flüsterte sie. Er erhob sich, zog sich aus und lief zum Wasser. Ohne einmal zurück zu blicken, sprang er kopfüber hinein und schwamm ein paar Züge.
„Komm!“, rief er. Sie zog sich das Kleid über den Kopf und überlegte, ob sie wirklich alles ausziehen wollte. Ilara zögerte, sah zu ihm. Er schüttelte gerade seine dunklen Haare, seine Augen konnte sie nicht erkennen, dafür war er schon zu weit weg. Aber sie fühlte seinen Blick. Wenige Sekunden später war auch sie nackt im Wasser und schwamm mit kräftigen Zügen zu ihm.
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Die Dunkelheit legte sich sanft um die beiden Verliebten, die Sterne funkelten am Himmel. Sie lagen auf dem Rücken, Ilara in Jonas Armen.
„Sag mal, Ilara – hast du eine Entscheidung getroffen?“
Sie schwieg lange, bevor sie antwortete: „Es ist mir zu viel. Ich… ich kann das gar nicht schaffen.“
„Hast du mit Ela gesprochen?“
„Ja.“
„Was hat sie gesagt?“
„Sie sagte, dass ich es schaffen könnte.“
„Aber?“
„Viel Arbeit.“
Jonas seufzte. Das war ihm klar. Wenn Ilara diese Schule wirklich machen wollte, dann würde sie sehr viel arbeiten müssen.
„Und…“, sie hielt inne, „und eigentlich – wollte ich nach dem Abschluss…“, sie schwieg. Seine Handflächen wurden nass. Er dachte daran, was ihm Ela vor etwa zwei Wochen gesagt hatte.
„Du willst ein paar Jahre arbeiten, dann heiraten, Kinder bekommen?“, fragte er vorsichtig. Ilara nickte langsam. „Dich… würde ich gerne heiraten und von dir die Kinder bekommen.“
„Oh.“, machte er. Ela hatte Recht. Wie meistens. Sie hatte ihm gesagt, dass seine Ilara sich erstens einmal vor allem für ihre Figur und ihren Schnickschnack interessierte, aber nicht begriff, dass man für all den Tand arbeiten müsste. Jonas hatte ihr heftig widersprochen. „Sieh es ein, Jonas. Du hast dich für ein Mädchen entschieden, dass dich ausgesucht hat… du kannst ihr all ihre Wünsche erfüllen. Haus, Garten, Hund, Kinder. In welcher Reihenfolge auch immer.“ Jonas hatte die Bar ohne ein weiteres Wort verlassen. Er redete sich ein, dass Ela das alles nur gesagt hatte, weil sie eifersüchtig war. Sie hatte ihm noch geschrieben, dass er ihr nicht glauben müsse, aber vielleicht sollte er trotzdem darüber nachdenken, ob er das wolle oder nicht. Er hatte zurück geschrieben, dass er ganz sicher nicht darüber nachdenken würde. Aus dem einfachen Grund, er war gerade mal 21 und Ilara 20 Jahre jung. Er hatte noch so einiges vor in seinem Leben, bevor er sich um Haus, Garten, Hund, Kinder kümmern wollte. Die Welt sehen, das Zweitstudium anhängen – er wollte das alles eigentlich mit Ilara zusammen machen. Doch so wie die Dinge standen…
„Du willst keine Kinder mit mir oder?“, Ilaras Stimme war ungewöhnlich hoch, fast schon schrill.
„Entschuldige, Schatz. Aber ich bin gerade mal 21!“
„Ja. Aber du willst keine Kinder von mir. Warum sind wir dann zusammen?“
„Wann willst du denn Kinder haben?“, fragte er vorsichtig. Sie hatte sich aufgesetzt und sah ihn von oben herab an.
„Noch bevor ich 25 Jahre alt bin!“, gab sie mit fester Stimme zurück, dann erhob sie sich. „Ich muss mal. Wenn ich zurück komme…“, bedeutungsvolles Schweigen. Wie er das nicht ausstehen konnte. Am liebsten hätte er geknurrt. Wie Ela das manchmal machte. Gerade noch konnte er es unterdrücken. Gerade noch. Er atmete langsam aus. Das entwickelte sich nicht in die Richtung, die er sich vorgestellt hatte.
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„Sag es!“, seine Stimme klang müde und abgekämpft.
„Was soll ich denn sagen?“, fragte Ela am anderen Hörer.
„Dass du es mir ja gesagt hast!“
„Oh.“, Ela schwieg. Auch Jonas schwieg. Minutenlang sagte keiner ein Wort. Er lauschte einfach ihrem Atem, hörte wie sie manchmal leise seufzte. Er wusste, dass sie warten würde. Sie konnte lange warten ohne ein Wort zu sagen. Das mochte er an ihr. Ela – sie musste nicht dauernd quasseln.
„Was tust du?“, fragte er plötzlich.
„Nichts. Ich liege auf dem Bett und sehe aus dem Dachfenster hinaus.“
„Sagst du mir, was du denkst?“
„Nein. Ich kann dir nicht sagen, was ich denke – weil ich nichts Konkretes denke. Ich denke nur über den Tag nach, über all das, was heute so geschehen ist.“
„Erzählst du es mir?“
„Was? Was geschehen ist? Ich denke, du willst mir etwas erzählen?“
„Das habe ich dir erzählt. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“
„Du liebst sie. Oder?“
Er schwieg. Sie lachte leise. „Oh Jonas…“
„Ich weiss. Ich weiss!“
„Lass uns schlafen. Ich bin müde – und ich mag dir nicht erzählen, was heute so lief bei mir. Es ist nicht interessant für dich.“
„Das sagst du jedes Mal. Wann willst du mich eigentlich wieder an deinem Leben teilhaben lassen?“
„Bitte? Du willst an meinem Leben teilhaben? Was reitet dich jetzt?“
„Komm schon. Dein Leben hat mich schon immer interessiert!“
„Ja. Klar.“ Er sah sie vor sich. Ela hatte die Fähigkeit alles was sie sagen wollte in zwei Worte zu legen. Vor allem diese beiden Worte. Je nachdem wie sie es aussprach hatte es seine eigene Bedeutung. Dieses Mal war es voller Ironie. Nein. Voller Sarkasmus.
„Vermisst du mich?“, er hätte sich die Zunge abbeissen können, noch während er die Frage stellte. Sie lachte. „Ich meine… ich meine…“, er wusste nicht, was er genau meinte.
„Ich verstehe dich nicht, Jonas. Du hast Ilara – weshalb interessiert es dich, ob ich dich vermisse?“
Da gab es eine Menge Gründe. Jonas holte Luft, blies sie wieder aus. „Muss nachdenken.“, brummte er.
„Gut. Dann lass uns ein andermal quatschen.“
„Nein. Nein. Warte. Es ist nur so, dass du kaum auf irgendetwas reagierst, dass du das alles einfach so akzeptierst.“
„Was denn? Ilara?“, er konnte das Lächeln hören.
„Ja.“
„Nun ja. Ich hatte einen guten Lehrer, weisst du, der hat mich gelehrt, dass es Dinge gibt, die man akzeptieren muss, wenn man nicht daran zu Grunde gehen will. Und du hast dich gegen mich entschieden – für Ilara. Sie ist süss und sie passt gut zu dir.“
„Sie passt gar nicht zu mir.“
„Ich finde schon.“
„Aber…“, er wusste nicht, was er sagen sollte.
„Weisst du noch Jonas, wie ich dir sagte, dass ich nicht mehr kämpfen werde? Um nichts und niemanden? Du hast dich entschieden – und ich akzeptiere es, so wie du es von mir erwartest. Du hast Ilara und ich… komm ganz gut selber klar. Also. Können wir jetzt auflegen? Ich möchte wirklich gerne einfach schlafen!“
„Ich habe seit Monaten ständig Kopfschmerzen. Als würde mir jemand einen Speer zwischen die Augen stecken, der durch meinen Kopf hindurchgeht und hinten wieder raus.“
„Das tut mir leid!“, sagte Ela. „Warst du beim Arzt?“
„Seit wann rätst du, dass ich zum Arzt soll?“
„Warum sollte ich das nicht tun?“
„Es passt nicht zu dir.“
„Gute Nacht, Jonas!“ Sie hängte auf. Er starrte sein Telefon an, dachte darüber nach, ihre Nummer noch einmal zu wählen. Kopfschüttelnd legte er es auf den Tisch. Das würde gar nichts bringen. Ela würde nicht rangehen. Er rieb sich die Schläfen. Vielleicht sollte er wirklich einen Arzt aufsuchen? Diese Kopfschmerzen raubten ihm schier den Verstand. Vor allem, wenn sie so plötzlich kamen. Nichts half dagegen. Egal was er auch schluckte und tat – die Schmerzen konnten sich steigern, bis seine Augen nicht mehr richtig funktionierten und ihm übel wurde. So wie jetzt. Er dachte wieder einmal darüber nach, wann das mit diesen Kopfschmerzen begonnen hatte. Immer wieder kam er auf dasselbe Ergebnis. Seit Anfang Jahr.Â
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Intermezzo II
12. Februar 2012
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Seit dem Moment in dem die kalten Finger sich in ihre Brust gruben, nach ihrem Herzen griffen und es herausrissen, erkannte sie sich selbst nicht mehr. Eigentlich hätte sie weinen müssen. Oder schreien. Vielleicht auch einfach nur wütend hätte sie werden sollen. Aber nichts war geschehen. Nichts war es zwar auch nicht. Sie hatte gelacht. Laut gelacht. Bis ihr der Bauch wehtat. Dann hatte sie ihm alles Gute gewünscht, hatte etwas von „sie ist süss“ gesagt und so getan, als wäre es überhaupt kein Problem für sie. Zum Glück war sie mit Worten nicht gerade ungeschickt und auch das Lügen an sich stellte keine wirkliche Herausforderung dar. So lange sie ihn dabei nicht ansehen musste. Hätte er sie gesehen, hätte er ihr nicht geglaubt. „Aber er hat mich nicht gesehen!“, sie starrte sich selbst im Spiegel an. Konnte man ihr irgendetwas ansehen? Vielleicht in ihren Augen? Deuteten die schwarzen Schatten vielleicht an, was sie wirklich fühlte? Sie schüttelte entschieden den Kopf. Nein. Sie hatte schon länger diese Schatten. Sie lächelte. Eines, das nicht bis in ihre Augen reichte. Das würde sie üben müssen.
Sie ging zurück in die Küche um sich einen Kaffee zu machen. Während sie vor der Maschine stand, die leise summte, stellte sie sich vor, wie sie einen grossen Speer nehmen würde – wenn sie einen hätte. Sie hielt inne. Wie würde er aussehen, dieser Speer? Er hätte eine eiserne, dreikantige Spitze, damit er sich ganz leicht in Fleisch bohren könnte. Das Holz wäre dunkel, mit Schnitzereien. Geheimnisvollen Zeichen. Sie konnte ihn vor sich sehen. Sie konnte sich vorstellen, diesen Speer in der Hand zu halten. Er wäre leicht und nicht zu lang. Eben diesen würde sie mit voller Kraft zwischen seine Augen stecken – würde den Schaft zusätzlich ein bisschen drehen, damit das Loche grösser werden würde. Sie stellte sich vor, wie der Mann vor einer Wand steht und sie die Spitze in seinen Schädel rammte, soweit, dass er hinten wieder rauskommen würde und wie die Spitze ihn an die Wand nageln würde. Noch ein bisschen drehen – erschrocken drückte sie auf die Stopp-Taste ihrer Maschine. Dunkle Brühe floss über die Tasse, über das Holz, tropfte auf den Boden. Fassungslos sah sie zu. „Kommt es jetzt?“, fragte sie sich. „Kommen diese verdammten Tränen endlich?“, fragte sie die übervolle Tasse. So fühlten sich ihre Augen an. Ãœbervoll. Doch irgendetwas hinderte das Wasser daran, über die Ränder zu quellen. Die Tasse schwieg natürlich. Ihre Augen auch. Keine Träne löste sich. Im Gegenteil. Das Bild von der Speerspitze in seinem Kopf drängte sich wieder in ihre Gedanken. Sie konnte hören, wie er stöhnen würde vor Schmerzen. Er würde niemals schreien. Doch die Schmerzen würden ihn zwingen, ein Geräusch von sich zu geben. Ein äusserst verlockendes Geräusch, wie sie feststellte. Irgendwann wollte sie es wirklich hören. Wie es aus seinem Mund kam. Wie er blanke Verzweiflung ausatmen würde – und vielleicht ein letztes Mal Hoffnung Einatmen… Sie schüttelte den Kopf ein wenig und begann damit, die Schweinerei aufzuwischen.
Das erste Mal seit ein paar Tagen fühlte sie sich gut. Befreit. Und im selben Moment begriff sie, dass sie ihm immer wieder den Speer zwischen die Augen stecken würde – einfach, weil es sich so gut anfühlte. „ Ja. Er soll Schmerzen haben! Dieser verdammte Mistkerl soll leiden!“, dachte sie und ein leises Lächeln zog über ihr Gesicht und erreichte dieses Mal auch ihre Augen. Es war kalt und hart… wie die Speerspitze.