Kapitel 12
Claude
-Regentropfen prasseln gegen das Fenster
Setzen das Land unter Wasser
Ein Springbrunnen, der in all dem untergeht
Die Wege winden sich zwischen den Bäumen entlang
Sind schon lange vergessen
Kein Mensch, der diesen Pfad je wählen würde
So unklar und verloren inmitten des Waldes
Eine trostlose Gegend, erhellt von Laternen
Und doch verlassen, doch bewohnt
Jeder ist einsam in dieser Menschenmenge
In mir herrscht Einsamkeit
Trauer und Hass regieren meinen Körper
Es war so aussichtslos, es gab keine Hilfe
Tränen in ihren Augen, ein verzweifelter Schrei
Mein Verstand spielt verrückt
Ich sehe mich um und bin wieder allein
Sie ist seitdem nicht mehr
Verschließe meine Seele vor allen
So wie die Tore einst verschlossen wurden
Lebe weiterhin in diesem Nebel
Doch eine Erlösung von diesem Schmerz gibt es nicht-
Es vergingen schließlich mehrere Tage, in denen ich einfach nur vor mich hinlebte und versuchte, alles zu vergessen. Zanolla hatte mich beurlaubt, sodass ich Zeit für mich hatte, doch es half mir nicht weiter. Ich schaffte es einfach nicht alleine, das alles zu vergessen, vor allem weil ich nicht einmal wusste, was nun mit Nymphadora geschehen war. Zwar hatte Zanolla gesagt, dass sie Suchtrupps losschickte, doch ich wusste genau, dass es nicht so war. Dafür waren ihr die Leben der Hüter einfach zu schade, sie würde sie nicht wegen einem Mädchen aufs Spiel setzen, egal welcher Abstammung sie war.
Es war wie immer einfach zum Kotzen.
Kaum hatten wir den Angriff der Sukkuben einigermaßen überstanden, passierte wieder das nächste Unglück.
Nymphadora
-Das Blätterdach wiegt sanft im Wind
Verstummt im Laufe der Zeit
Das Flüstern des verstorbenen Waldes ist längst erloschen
Äste, die erschöpft zusammenbrechen
Konnten ihren Bewohnern keinen Halt mehr bieten
Ein morscher, knorriger Stamm
Versuchte vergeblich, die Schönheit des Waldes aufrecht zu erhalten
Der Geruch des Todes liegt in der Luft
Kein Tier, das nicht schon geflohen ist
Keine Hoffnung, die nicht schon aufgegeben wurde
Lasse meinen Blick erneut über die Umgebung schweifen
Bäume senken ihre schweren Äste über uns
Verdrängen das Sonnenlicht
Kalte Lippen, die gierig auf mich warten
Ein Stechen durchbricht plötzlich meine Haut
Dieses leise Schmatzen, dicht an meinem Ohr
Schmerz durchzieht meinen Körper
Versuche vergeblich, gegen ihn anzukämpfen
Blut, überall nur noch Blut
Die schönsten Momente, die an mir vorbeiziehen
Ein letzter, traumhafter Augenblick-
Die nächsten Tage vergingen alle schrecklich langsam.
Die Vampire taten mir zwar nichts, doch wohl fühlte ich mich auch nicht. Die meiste Zeit lag ich, gefesselt durch Liams Rosenranken, auf der Erde und starrte gedankenlos im Wald umher. Falls ich doch einmal Gesellschaft hatte, so war es immer Liam, der mir mein Essen –was sich übrigens auf gerade einmal zwei Mahlzeiten am Tag beschränkte- vorbeibrachte und dabei kurz mit mir redete. Allerdings musste er danach sofort wieder zurück, da er ansonsten selber Ärger bekam.
Ich fühlte mich die ganze Zeit über schrecklich allein, vor allem weil ich nicht wusste, was mit Claude und Castiel war. Keiner der beiden ließ sich bei mir blicken oder versuchte, mich zu befreien. Es war, als hätte ich mich für sie in Luft aufgelöst, als hätten sie endlich ein Problem weniger. So schien es mir auch, als ich mich nach einigen Tagen erneut mit Liam unterhielt.
Ich wusste mittlerweile nicht mehr, wie viel Zeit ich hier verbracht hatte, da mein Schlafrhythmus so ziemlich im Eimer war, doch im Grunde war es auch egal. Es interessierte mich nicht, ob ich den gesamten Tag über schlief oder nur zwei- bis dreistündige Schlafphasen entwickelte. Es war alles dasselbe, sobald ich meine Augen öffnete, lag ich in diesem Wald. Es war auch dasselbe, als Liam eines Tages wieder mit meinem Essen anspaziert kam.
„Und, hast du schon Hunger?“, fragte er grinsend.
„Ich habe ständig Hunger“, murmelte ich vor mich hin, während ich das Tablett entgegen nahm. Nicht nur, dass die Portionen ziemlich klein waren, das Baby schien nun auch etwas von meinem Essen und meinen Nährstoffen abhaben zu wollen.
„Geht es dir wenigstens besser als gestern?“
„Ja. Die Kopfschmerzen sind fast weg und schlecht ist mir auch nicht mehr…“
„Dann hoffen wir mal, dass du dein Essen heute drin behältst. Ich hab dir extra eine Suppe gebracht, sie macht zwar nicht sehr satt, bleibt dafür aber höchstwahrscheinlich im Magen.“
„Danke…“ Ich sah kurz zu ihm herüber, verzog jedoch keine Miene. Mir war einfach nicht zum Lächeln zumute, vor allem, nachdem mich gestern die Übelkeit überkommen hatte.
„Hey, guck nicht so.“
„Wie soll ich denn sonst gucken? Ich sitze seit…“, ich versuchte an den Fingern abzuzählen, wie lange ich eigentlich schon hier war, kam jedoch zu keiner Lösung. Es war einfach viel zu lange. „Ach, ist ja auch egal. Seit einer Ewigkeit behaltet ihr mich hier, und wozu? Damit ich langsam verrecke? Niemand außer dir kümmert sich um mich, weder meine Freunde noch die Hüter, soll ich mich darüber noch freuen?“
„Das sagt ja keiner, aber… Du sitzt schon nicht umsonst hier. Alice braucht dich für irgendwas, aber sie sagt, es ist noch nicht an der Zeit.“
„Ach, und wie lange dauert das noch? Ein paar Tage, Wochen, Monate?“, fragte ich wütend.
„Ich weiß es nicht. Tut mir Leid, aber Alice verrät auch mir nichts von ihren Plänen.“
Ich seufzte und lehnte mich gegen den Baum, der hinter mir stand, während ich die Suppe aß. Mir ging es einfach nur dreckig. Zwar hatte ich derzeit keine weiteren Probleme aufgrund der Schwangerschaft, doch unwohl fühlte ich mich trotzdem. Ich hatte nicht geduscht, keine frischen Sachen bekommen, konnte nicht einmal alleine auf Toilette oder ein wenig im Wald spazieren gehen. Ich war nur an diese eine Stelle hier gefesselt, wo ich bereits mehrere Tage verbracht hatte. Das einzige, was ich bekam, waren die zwei Mahlzeiten und ein paar Decken, da es in der Nacht sonst zu kalt wäre.
„Bist du fertig?“
„Ja.“ Ich reichte ihm die Schüssel und legte mich auf die Seite. „Ich brauche noch ein paar Kissen und Decken, es ist kalt und hart hier“, sagte ich leise.
„Kein Problem, ich bring sie dir später vorbei.“ Es waren erst wenige Minuten gewesen, die er bei mir verbracht hatte, und trotzdem ging er nun schon wieder. Anscheinend hatte er später noch irgendetwas vor.
Erst am Abend erwachte ich durch den starken Wind, der zwischen den Bäumen umherwehte. Liam hatte mir die Decken gebracht, als ich geschlafen hatte, und trotzdem spürte ich den Wind deutlich auf meiner Haut. Sonst war es damit eigentlich immer ziemlich ruhig gewesen, doch heute war irgendetwas anders…
Ich drehte mich erschrocken um, als ich ein lautes Rascheln in den Büschen neben mir hörte, erkannte jedoch nichts. Weit und breit war niemand zu sehen… Oder?
Ein weiterer Punkt, der seltsam war: Die Fesseln an meinem Körper hatten sich gelöst, ich war also frei. Ich versuchte, mich auf eine kleine Stelle hinter den Bäumen zu konzentrieren, die sich meiner Meinung nach gerade bewegt hatte. Irgendetwas war hier, dabei war ich mir jetzt sicher.
„Wehe, du gibst auch nur einen Laut von dir!“ Ein Vampir, wahrscheinlich Milian, legte mir von hinten die Hand auf den Mund.
Gerade, als ich mich umdrehen wollte, kam auch noch ein zweiter Vampir. Er baute sich vor mir auf und starrte mit arroganter Miene auf mich herunter. Anscheinend einer von Milians Freunden.
„Wenn ich gleich meine Hand wegnehme, bleibst du trotzdem ruhig, klar?“
Ich versuchte, mich ein Stück zu drehen um den Vampir hinter mir sehen zu können, doch er drückte mich sofort wieder herum. Ich nickte zögernd, hielt diesmal jedoch still. Der Mann –wobei ich mir anhand seiner Stimme immer noch sicher war, dass es Milian wäre- ließ seine Hand langsam nach unten gleiten, hielt mich jedoch weiterhin fest an der Hüfte umklammert.
„Was… was wollt ihr?“, fragte ich mit zitternder Stimme. Ich wollte es nicht zugeben, doch ich hatte ernsthaft Angst. Bei normalen Menschen wäre es gar kein, oder besser gesagt ein geringes Problem gewesen, doch die Vampire waren tausendmal stärker und auch schneller. Eine Flucht war für mich praktisch unmöglich.
Auf dem Gesicht des Mannes vor mir bildete sich ein breites Grinsen, was mir sofort einen Schauer über den Rücken jagte. Egal, was die Männer vorhatten, es gefiel mir überhaupt nicht.
„Weißt du, eigentlich wollen wir dir nichts Böses, aber wir können es überhaupt nicht leiden, wie du hier herumlungerst und in unseren Angelegenheiten herumschnüffelst“, sagte der Typ hinter mir.
„Aber ich schnüffele überhaupt nicht…“
„Halt die Klappe!“, zischte mich der Mann vor mir wütend an. „Es reicht schon, dass du hier bist. Überall stinkt es nach dir!“ Er rümpfte angewidert die Nase und kam einige Schritte auf mich zu. „Wir wollen dich hier nicht.“
„Schon gut, Jeremiah, sie wird sicher sofort gehen“, flüsterte Milian hinter mir. Zwar hatte ich ihn noch nicht gesehen, doch mittlerweile hatte ich ihn an dem kleinen Tattoo, das er am Ringfinger hatte, erkannt.
„Wir müssen sie so schnell wie möglich loswerden, Liam wird uns sicher bald suchen!“
„Dort, wo wir sie hinbringen, wird sie sowieso niemand finden.“ Milian zog mich hastig nach oben, sodass ich beinahe stolperte, und zerrte mich quer durch den Wald.
„Wo gehen wir hin?“, fragte ich aufgeregt. Nun, nicht aufgeregt im positiven Sinne... Dennoch war ich gespannt, wo sie mich nun hinbrachten, oder was sie überhaupt vorhatten.
„Das geht dich nichts an!“, fauchte Jeremiah wütend. In seinen grünen Augen schien etwas aufzulodern, wie eine riesige Flamme, nur noch bedrohlicher. Auf einmal machte er mir wirklich Angst.
„Du wirst es schon sehen, wenn wir dort sind. Halt bis dahin deine Klappe“, sagte Milian lächelnd, doch ich wusste, dass es eh nur gespielt war. Die beiden konnten mich wirklich überhaupt nicht leiden, wahrscheinlich hassten sie mich sogar bis aufs Blut.
Wir liefen fast die ganze Nacht durch, denn als wir an diesem „besonderen“ Ort ankamen, wurde es fast schon wieder hell. Wenn ich Glück hatte, würden die Vampire mich für heute also in Ruhe lassen. Zwar hassten sie Sonnenlicht, doch hier im Wald war es sogar tagsüber so düster, dass sie nicht nur nachts unterwegs waren. Meine Chancen standen also Fifty-Fifty.
„Wir sind da.“ Milian blieb vor mir stehen und sah sich zufrieden um.
Vor uns lag ein Stück Wald, das genauso öde aussah wie der Rest. Es gab nur Bäume, Büsche und verdorrtes Gras, wie an jeder anderen Stelle hier auch. „Und… was wollen wir nun hier?“, fragte ich zögernd. Vielleicht wollten sie mich auch einfach nur ärgern und waren mit mir die ganze Zeit im Kreis gelaufen, damit ich endlich ruhig war.
„Wir wollen dich“, antwortete Milian grinsend. Noch im selben Moment stürzte er sich auf mich und riss mich zu Boden. „Du bist nicht umsonst hier. Wir sind mehrere Kilometer vom Versteck entfernt, keiner wird dich hören oder finden können. Wir können mit dir praktisch machen, was wir wollen.“ Er beugte sich langsam zu mir herunter und strich mir mit seinen scharfen Zähnen über die Haut, sodass ich eine Gänsehaut bekam.
„Überhaupt wird niemand je auf die Idee kommen, dich zu suchen, weil du nur ein wertloser Mensch bist!“ Jeremiah stellte sich neben uns und starrte mich abwertend an. Im Moment kam ich mir wirklich vor wie der letzte Dreck, so, wie die beiden mich behandelten.
„Lasst mich los! Natürlich wird mich irgendjemand suchen!“
„Nein, das wird niemand. Liam ist nur dein Aufseher, nicht dein Babysitter. Und so viel wird Alice sicher auch nicht von dir halten, dass sie extra wegen dir jemanden losschickt.“ Er packte meine Handgelenke und drückte mich fest auf die feuchte Erde.
Ich begann zu zittern, was jedoch wenig ausmachte, da Milian immer noch auf mir lag. „Geh von mir runter!“
„Erst, wenn ich mit dir fertig bin“, antwortete er grinsend. Erneut beugte er sich zu mir herunter und leckte genüsslich mit seiner Zunge an meinem Hals entlang. „Keine Sorge, es wird nicht weh tun“, hauchte er mir ins Ohr.
Scheiße. Er meinte es ernst. Ich zitterte nur noch mehr, falls das überhaupt möglich war, doch Milian tat es nur mit einem kurzen Lächeln ab. Ihm war es so ziemlich egal, ob ich Angst hatte oder nicht. Er würde seinen Plan auf jeden Fall durchziehen.
Er senkte seinen Kopf weiter, Millimeter um Millimeter, kam mir immer näher, so nahe, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte.
Ich sah mich verzweifelt um, fand jedoch nichts, was mir helfen konnte. Da waren nur Jeremiah, der uns belustigt beobachtete, und ein riesiger, knorriger Baum, der neben uns stand. Nichts, das mir jetzt noch helfen konnte.
Vorsichtig legte er seine Lippen an meinen Hals und küsste mich, bevor er seine langen Zähne ansetzte.
Verängstigt schloss ich die Augen. Gleich würde er es tun. Gleich wäre mein Leben vorbei. Nein, nicht nur meines, sondern auch das meines kleinen, süßen Babys. Dann wäre alles vorbei. Dann könnte ich Claude, Nikita und Nicolaj nie wiedersehen. Gut, sie suchten zwar nicht nach mir, doch ich nahm es ihnen auch nicht übel. Wahrscheinlich hätte ich selber nicht einmal nach einer Nervensäge wie mir gesucht.
Verdammt, irgendetwas, oder jemand, musste mir doch helfen können, oder?
Ich konnte nicht einfach sterben. Ich war schließlich viel zu jung. Sie würden sicher darauf Rücksicht nehmen und mich nicht umbringen.
Quatsch, natürlich würden sie mich umbringen. Sie hassten mich.
Ich spürte, wie seine Zähne langsam in mein Fleisch glitten, und biss fest die Zähne zusammen. Es tat weh. Sehr weh.
Nebenbei schob er mein Kleid herunter und legte seine Hände auf meine Brüste, während ein leises Stöhnen an mein Ohr drang.
Reichte es denn nicht, mein Blut zu trinken, musste er sich denn nun auch noch an mir vergehen?
Warum musste Milian das eigentlich machen?
Er hätte mich einfach freilassen können. Dann wäre ich glücklich gewesen, er wäre glücklich gewesen und vielleicht sogar Jeremiah, der nun ja sowieso nichts von mir haben würde.
Gott, bitte, er musste aufhören. Es tat so weh. Wirklich, ich dachte, ich müsste sterben.
Mein Blut lief unaufhörlich über meinen Körper. Wenigstens eine Ablenkung. Ich versuchte, mich auf mein warmes Blut zu konzentrieren, das über meinen mittlerweile eiskalten Körper lief, doch es konnte mich nicht von meinen Schmerzen ablenken.
Es interessierte mich nicht einmal mehr, wie Milian seinen Gürtel öffnete und mein Kleid nach oben schob. Es war alles egal.
Ich hätte schreien können, aber irgendwie funktionierte das alles nicht so. Ich war wie gelähmt.
Gerade sah ich noch im Augenwinkel, wie Jeremiah zu mir kam, bevor mir alles schwarz vor Augen wurde.
Claude
„Und was willst du jetzt machen?“, fragte Nicolaj leise.
„Ich weiß es nicht.“ Wir saßen gemeinsam in einer Ecke der Bibliothek, dort, wo uns niemand hören oder sehen konnte. Ich hatte endlich mit jemandem darüber geredet, was im Wald geschehen war, auch wenn es mir dadurch nicht wirklich besser ging. Wenigstens wusste jetzt jemand außer Zanolla und mir, was in dieser Nacht vorgefallen war.
„Hat etwa niemand nach Nymphadora gesucht?“ Er sah mich entsetzt an. Zanolla hatte sich irgendeine Ausrede ausgedacht, etwa dass Nymphadora bei ihren Eltern wäre, damit niemand etwas von ihrem Verschwinden bemerkte.
„Nein.“ Ich seufzte und legte die Hände aufs Gesicht. „Zanolla lässt mich nicht mehr vom Schulgelände, nicht einmal aus dem Zimmer darf ich oft raus. Ich komme mir vor, als wäre sie mein Babysitter.“
„Wahrscheinlich ist es auch besser so…“
„Wie kannst du das nur besser finden? Niemand sucht nach ihr, wer weiß, was mit ihr geschehen ist!“
„Ja, aber… vielleicht würdest du dich auch unnötig in Gefahr bringen. Stell dir vor, sie wäre schon…“ Er unterbrach sich selber, um über seine eigenen Worte nachzudenken.
„Was, wenn sie schon tot wäre? Ich kann sie nicht einfach im Stich lassen, was ist, wenn sie noch lebt? Wenn sie irgendwo da draußen ist und meine Hilfe braucht?“
„Nicht einmal dann könntest du irgendetwas unternehmen. Du weißt ja selber nicht, wer oder was euch da eigentlich verfolgt hat.“
„Ich glaube, es waren Vampire“, sagte ich hastig. „Nymphadora hat sich einige Notizen zu den Büchern gemacht. Ich habe sie mir durchgelesen. Darauf erwähnte sie irgendetwas von Vampiren und Engeln, und… das scheint mir am wahrscheinlichsten zu sein.“
Nicolaj starrte mich erschrocken an. „Meinst du wirklich, dass… dass es sie gibt?“, fragte er zögernd.
„Anscheinend schon.“
Plötzlich riss jemand die Tür der Bibliothek auf und kam hereingestürmt. „Claude, wo sind Sie?“, fragte der Hüter, der mich hergebracht hatte, wütend. Wie ich später erfahren hatte, kamen die Hüter aus Rom. Wahrscheinlich war er deshalb ständig so mies gelaunt. Allerdings wollte mir keiner seinen Namen oder sein Alter verraten, vielleicht wollte er hier ja anonym bleiben.
„Geh erst wieder, wenn wir weg sind, sonst bekommst du auch noch Ärger!“, flüsterte ich Nicolaj schnell zu. Sofort stand ich auf und schlängelte mich zwischen den Regalen hindurch zur Mitte des Raumes, sodass der Hüter mich sehen konnte.
„Da sind Sie ja! Zanolla sagt, Sie sollen auf Ihr Zimmer. Kommen Sie mit.“ Er führte mich über die dunklen Flure hinauf zu meinem Zimmer. Solange ich nicht unterrichtete, hatte Zanolla mir einen Raum im Wohngebäude zugewiesen. „Bleiben Sie gefälligst bis zum Ende der Woche hier.“ Ohne ein weiteres Wort knallte er die Tür hinter mir zu.
Ich ließ mich erschöpft auf mein Bett fallen und ging mein Gespräch mit Nicolaj noch einmal im Kopf durch.
Er hatte recht gehabt, ich würde mich nur unnötig in Gefahr bringen, wenn ich nach ihr suchte, aber ich konnte sie auch nicht allein lassen. Sie war noch am Leben, das fühlte ich, doch ich hatte keine Ahnung, wo sie sich überhaupt befand. Vielleicht wurde sie verschleppt, irgendwo ins Ausland. Noch dazu kam ich alleine nicht gegen die Vampire an.
Ich brauchte also irgendeinen Plan.
„Claude, wo sind Sie nun schon wieder hin?“, schrie Zanolla wütend.
Ich rannte sofort zum nächsten Baum und versteckte mich hinter dem Stamm. Nachdem ich nach meinem Gespräch mit Nicolaj noch eine Weile wach gewesen war, hatte ich mich sofort auf den Weg gemacht, um Nymphadora zu suchen. Zwar hatte ich nur die Landkarte mit dem eingezeichneten Weg, doch für den Anfang würde das reichen. Ich hatte wenigstens eine ungefähre Vorstellung, wo ich anfangen musste.
„Kommen Sie sofort wieder her!“, brüllte der Hüter auf der anderen Seite des Schulgeländes.
Langsam sollte ich mich lieber auf den Weg machen, bevor mich jemand fand. Zuerst musste ich irgendwie vom Schulgelände runter, doch das Tor wurde bewacht und war fest verschlossen. Anscheinend hätte ich mir darüber lieber zuerst Gedanken machen sollen.
„Verdammt, jetzt kommen Sie endlich aus Ihrem dämlichen Versteck, ich habe diesen Kinderkram mit Ihnen satt!“ Ich sah im Augenwinkel, wie der Mann angestürmt kam und mit seiner Laterne jeden Winkel beleuchtete.
Egal wie, ich musste wirklich hier weg. Sobald er sich kurz wegdrehte, rannte ich aus meinem Versteck, geradewegs auf das Schultor zu. Wenn ich Glück hatte, hielt heute niemand Wache, und wenn doch… Nun, dann musste ich mir schnell etwas Neues überlegen. Und, wie erwartet, einer der Hüter stand dort.
„Claude, was machst du denn hier? Die anderen suchen dich!“, rief er aufgeregt.
„Caleb, du musst mir helfen, bitte! Ich muss vom Schulgelände!“, flehte ich ihn an. Ich hörte bereits, wie Zanollas Geschrei hinter mir immer lauter wurde.
„Aber… Wozu? Ich kann dich nicht einfach gehen lassen!“
„Bitte!“ Nervös sah ich mich um. Noch schienen die anderen etwas entfernt zu sein, doch nicht mehr lange, dann hätten sie mich entdeckt.
„Tut mir Leid, aber das geht nicht!“
Ich seufzte und trat einen Schritt auf ihn zu. „Mir tut es auch Leid, aber ich muss hier wirklich durch, Caleb.“ Er sah mich verwirrt an, doch bevor er irgendwie reagieren konnte, hatte ich ihm einen kräftigen Schlag gegen die Schläfe verpasst. Sofort kippte er um und blieb reglos liegen. Ich kümmerte mich jedoch nicht weiter um ihn und nahm nur seine Schlüssel. Zanolla würde ihn sicher finden.
Hastig suchte ich den richtigen Schlüssel, um das Tor zu öffnen. Es dauerte für meinen Geschmack etwas zu lang, doch ich schaffte es noch rechtzeitig vom Schulgelände. Ich sah noch kurz Zanolla, als ich gerade wieder das Tor schloss und mit dem Schlüsselbund davonlief. Es war zwar riskant, ihn in den Wald mitzunehmen, doch nur so kam ich auch wieder unbemerkt in die Schule.
„Bleiben Sie stehen!“ Der Hüter feuerte einige Schüsse ab, traf mich jedoch nicht. Ich lief einfach weiter den Weg hinunter, fuhr mit dem Motorboot zum Festland und machte mich auf die Suche nach Nymphadora. Egal wie lange es dauern würde, ich musste sie finden.
Allein der Weg zum Wald dauerte etwas über eine Stunde. Vorher war mir nie bewusst gewesen, wie riesig Venedig eigentlich war, dafür jetzt umso mehr. Mir taten bereits die Füße weh, da ich das Laufen einfach nicht mehr gewohnt war, doch ich rang mich selber dazu durch, weiterzumachen. Egal, wie sehr meine Füße schmerzten oder wie erschöpft ich war, ich konnte nicht aufgeben. Ich musste unbedingt erfahren, was mit Nymphadora geschehen war und hoffte, dass ich für eine Rettung noch nicht zu spät käme.
Als ich die Stadt und die Wiese, die sich dahinter erstreckte endlich hinter mir gelassen hatte und am Waldrand ankam, orientierte ich mich erst einmal an der Karte. Letztes Mal war ich zwar auch nachts hier gewesen, doch nun hatte ich völlig die Orientierung verloren. Irgendwie sah jeder Baum gleich aus, egal wo ich hinsah. Anscheinend müsste ich erst einmal auf eigene Faust den Ort suchen, an dem ich mit Nymphadora gewesen war.
Nachdem ich doch noch eine Weile auf die Karte gestarrt hatte, gab ich die Hoffnung schließlich auf und lief einfach drauf los. Mein Plan war von Anfang an nicht sehr gut durchdacht gewesen, doch nun kam ich mir selber schon etwas dumm dabei vor, dass ich praktisch ohne Anhaltspunkte losgezogen war. Dennoch war es mir die Mühe auf jeden Fall wert. Für Nymphadora würde ich bis ans Ende der Welt gehen.