Prolog - Krüppel
Stöhnend sog Narydiana die Luft ein. Die verkrusteten Wunden überall an ihrem Körper brannten unter den Breiumschlägen der Heiler.
Die junge Elfe war zum ersten Mal seit dem Unfall wieder bei Bewusstsein. Davor hatte sie ab und an Fetzten dessen wahrgenommen, was um sie herum geschah.
Nun lag sie aber wach.
Nun lebte sie.
Noch nie hatte sie so sehr sterben wollen.
Der Schmerz war unerträglich. Noch nie hatte sie so etwas erleiden müssen, es schien ihr als würden hunderte glühender Nadeln in ihr Fleisch getrieben werden. Dazu kam der grauenvolle Juckreiz, wie von tausenden von Nesselstichen. Wären ihre geschundenen Lippen nicht so aufgeplatzt, hätte sie aufgeschrieen.
Plötzlich packte sie einen Entschluss. Sie wollte die Vorhänge aufziehen und den kargen Raum, der nach würzigen Kräutern, Efeu und Jod stank, mit den frischen Briesen fluten, die es nur in den Elfenwäldern gab.
Mit einiger Entschlossenheit begann sie sich auf die Schmerzen vorzubereiten, die ihr das Aufstehen bereiten würde und wuchtete sich schließlich schnell über die Bettkante.
Sie fiel ins Leere, prallte auf dem harten Steinboden auf und knallte mit dem Kopf hart gegen das Nachttischchen, das den Raum zwischen dem Fenster und ihrer Bettstatt ausfüllte.
Schluchzend saß sie einen Moment da, als der Schmerz wie eine heiße Woge Wassers überkochen zu drohte und alles an ihr zu verbrühen schien.
Als sie sich wieder gefangen hatte, versuchte sie aufzustehen. Doch ihre Beine waren taub und schienen sich nicht zu rühren.
Bin ich gelähmt?, schoss es ihr durch den Kopf.
Vorsichtig wanderten ihre bandagierten Hände über ihren schlanken Körper. Sie wollte sich ins Bein kneifen, um die Taubheit zu verscheuchen. Sie kniff ins Leere. Heiße Tränen rannten über ihr Antlitz.
Panisch begann sie auf dem Boden vor ihrem Schoß herumzutasten und schluchzte krampfhaft. Als sie plötzlich die Stümpfe ihrer fehlenden Beine ertastete, erstickte ihre Stimme.
„M… meine… meine Beine!“ schrie sie qualvoll und begann unrhythmisch zu kreischen.
Was war passiert?
Kapitel 1 - Zuvor...
„Heute haben wir uns hier versammelt um den größten aller Krieger zu finden! Heute, werden wir, das höchste der Völker, wie alle tausend Jahre, das Aldyn küren! Jenen jungen Elf, oder jene junge Elfe, mit der einzigartigen, blutroten Aura! Allaerdai erday Wygo!“
Mit den Worten „Wege sind Leben!“ schloss der Hohenpriester seine Rede und löste einen gewaltigen Beifall aus.
Narydiana schob sich missmutig in der letzten Reihe der Menge herum. Wie alle tausend Jahre, sagten die Schriften, wurde ein Krieger aus dem Geschlecht der Elfen geboren, der über eine rote Magie verfügte, eine Farbe, wie sie keine normale Elfe hatte.
Narydianas Groll gegen dieses Fest war aber verständlich. Auch sie war im entsprechenden Jahr geboren um nun, mit ihren achtzehn Jahren eine der Kandidatinnen zu sein. Da sie aber am letzten Tag des Jahres, am Tag vor Neujahr, geboren war, galt ihre Geburt als unter einem bösen Stern stehend und sie war inoffiziell nicht zu der Feier zugelassen. Mehr noch. Nach den elfischen Bräuchen stand ihr nicht einmal eine Erweckung durch einen Magier zu. Sie würde ganz allein zusehen müssen, wie alle anderen Elfen Zauber und Formeln lernen würden, während sie nicht einmal einen Kiesel bewegen können würde, ohne sich zu konzentrieren, als wolle sie einen Hirsch durch die Luft schweben lassen. Auch war ihre Familie adelig unter den Elfen, doch als vor Neujahrnacht Geborene, hatte sie unter ihresgleichen kein Recht auf Familie oder Titel. Unter den Elfen war sie Abschaum.
Sie seufzte. Insgeheim hatte sie sich mit diesem Schicksal abgefunden. Das, was ihr allerdings wirklich zu schaffen machte, war, dass sie ohne Magie kaum ein Jahrhundert alt werden würde. Sie belog sich erst gar nicht; sie fürchtete den Tod.
Plötzlich wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als der Priester laut ankündigte, dass nun der erste der sechs Auserwählten erweckt werden würde.
Gemurmel setzte ein, als Medysar, ein Freund von Narydiana, auf die Bühne aus Holzstäben trat, auf dem Kopf ein goldenes Diadem mit einem eingefassten Rubin. Dieses Diadem zeigte, dass er der Kandidat war, der von den Priestern am ehesten für den Auserwählten gehalten wurde.
Erst verbeugte er sich vor der Masse an Schaulustigen, die sich vor der mystischen Stätte eingefunden hatte, dann kniete er vor den drei Priestern nieder. Vorsichtig hob der Hohenpriester unter ihnen die Hand und berührte Medysar mit dem schlanken Daumen zwischen den Augenbrauen.
Für einen Moment geschah Nichts, doch dann loderten um den jungen Elf orangefarbene Flammen auf und versiegten sofort wider.
Eine Welle der Enttäuschung ging durch die Menge und ergriff auch Narydiana. Sie hätte es dem anstrebenden Magier gegönnt, Ayldin zu werden.
Mit enttäuschter Miene nahmen die Priester Medysar das Diadem ab und legten es auf ein rotes Samtkissen neben sich. Dann verließ der junge Elf schamesrot das provisorische Podest und der Nächste wurde heraufgeschickt.
Wieder verbeugte er sich und kniete sich hin, doch auch seine Aura glühte in der falschen Farbe. Diesmal in Gelb.
Das darauf folgende Mädchen besaß eine grüne Aura, wie der Elf, der ihr folgte und schließlich wurde der Vorletzte Auserwählte mit einer blauen Aura vom Platz geschickt.
Die Stimmung war zum zerreißen gespannt, als die letzte Kandidatin unter grölendem Jubel mit Tränen in den Augen die Sprossen erklomm.
Sie musste es sein, da sie die Letzte war, die noch da war. Die Elfen auf dem Platz jubilierten förmlich und schrieen sich die Seele aus dem Leib, als ihr feierlich das Diadem aufgesetzte wurde.
Narydiana verstand den Aufruhr; In keiner der alten Aufzeichnungen gab es eine Weihe, in der der letzte Teilnehmer Alydin geworden war.
Die zierliche Elfe mit gelocktem, braunem Haar verbeugte sich unter schallendem Applaus und kniete sich zitternd vor den Priestern nieder. Freudentränen quollen aus ihren schönen, schwarzen Augen.
Langsam legte der Hohenpriester seinen Daumen an die Stelle zwischen ihren wohl geformten Augenbrauen.
Das helle, scharfe Zischen einer erwachenden Aura ertönte und unerträglicher Jubel ertönte, dass einem die Ohren schmerzten.
Plötzlich war Alles ruhig. Narydiana, die sich trotzig von der Bühne weggedreht hatte, sah überrascht nach oben. Was hatte die Begeisterung der Anderen so abreißen lassen?
Als ihr Blick auf die Elfe auf dem Podest fiel, klappte ihr spitzes Kinn herab. Fassungslos strich sie sich eine Strähne blonden Haares aus dem Gesicht und rieb sich in den Augen.
Die Farbe der Aura der letzten Auserwählten war von einem sanften Grasgrün.
Nicht rot.
Grün!
Entsetztes Flüstern und hektisches Getuschel setzte ein, während die Priester der Elfe das Diadem wieder absetzten, sie von dem Podest schickten und eine hektische Diskussion begannen.
Als schließlich die ersten, zornigen Rufe aus dem Publikum ertönten begann der Hohenpriester laut zu sprechen und lies mit seiner bloßen Stimme Alles verstummen.
„Es scheint… es scheint als würden heute zwei uralte Gesetzte aneinander geraten!“, polterte er, „Heute ist der erste Tag im Gedenken der Elfen, dass eine Verstoßene das Recht anerkannt bekommt, hier vor uns zu treten und erweckt zu werden.“
Buhrufe schallten aus der erbosten Menge und Protestgebrüll ertönte. Beruhigend hob der alte Elf die Hände.
„Das Alydin zu bestimmen ist ein älterer Brauch als das Verstoßen der vor Neujahrnacht Geborenen. Denn bedenkt! Sie, oder Keine. Und ohne ein Alydin… ich wage es nicht, mir vorzustellen, was dann geschehen könnte. Hiermit rufe ich die Elfe zu uns, die die letzte der Auserwählten ist. Tritt auf das Podest, Narydiana Niemandstochter.“
Die gewaltige Masse aus Elfen verstummte, alle schräg stehenden Augenpaare richteten sich auf Narydiana.
Sie schluckte. Kalter Schweiß lief ihr über die Stirn und ihr Herz raste. Ein Gefühl, wie eine heiß kochende Übelkeit stieg in ihrem Bauch auf. Zitternd trat sie einen Schritt nach vorne.
Das Laufen durch die Reihen der Elfen war ein wahrer Spießrutenlauf. Ein Jeder blitze sie bösartig an, einige zischten ihr leise „Waioay!“ zu… Verräterin.
Als sie nach Stunden, wie es ihr schien, endlich an den Sprossen der Leiter angekommen war, blieb sie einen Moment zitternd stehen. Dann griff sie zaghaft zur ersten Sprosse. Mit jeder kam ihr ein neuer, furchtbarer Gedanke.
Erste Sprosse - Du bist nutzlos.
Zweite Sprosse - Alle hassen dich, Missgeburt.
Dritte Sprosse - Waioay! Waioay!
Vierte Sprosse – Du wirst niemals Alydin, lauf nach Hause…
Mit einem kleinen Ruck übersprang sie die letzte Stufe und zog sich keuchend auf die edel geflochtene Oberfläche des Podestes.
Langsam schritt sie zu den Priestern, drehte sich zum Volk der Elfen und verneigte sich dann vor den drei Elfen in weißen Roben vor ihr.
Schlagartig wurde ihr klar, dass sie das Diadem nicht aufgesetzt bekommen würde, da sie nur eine Verstoßene war, gleich ob sie nun die letzte Kandidatin für die Zeremonie war, oder nicht.
Zögerlich streckte der Hohenpriester seine Hand aus. Nun erkannte Narydiana einen fürstlichen Rubinring an seinem Daumen.
Grob presste er schließlich seinen Finger auf ihre Stirn, knapp oberhalb der Spitze ihrer linken Augenbraue.
Nichts geschah. Vielleicht hatte sie gar keine Aura? Vielleicht wurden Verstoßene deshalb nicht erweckt?
Eine kalte Welle Panik breitete sich in ihr aus.
Mit einem Mal erklang das erlösende Zischen.
Ein blutrotes Flammenmeer schoss aus jeder Pore ihres Körpers und flutete nicht nur das Podium, sondern auch einen Teil der ersten Reihe. Schreiend wichen die Zuschauer zurück, ängstlich davor, verbrannt zu werden.
Alles was Narydiana wahrnahm war… ALLES. Sie sah jedes Gesicht in der ganzen Menge, hörte jeden Aufschrei und roch alle Düfte um sie herum. Ein euphorisches Gefühl, wie eine gelöste Anspannung machte sich in ihr breit. Ein Gefühl, als würde eine der beiden Sonnen von Akurial in ihr scheinen. Dieses glanzvolle Glühen brannte in ihrer Brust.
Macht.
Doch so schnell es gekommen war, so schnell versiegte es wieder.
Verdutzt sah sie sich um.
Der Hohenpriester trat stumm vor und drückte ihr so derb das Diadem mit dem Rubin auf den Kopf, dass etwas Blut in ihr Haar sickerte.
Dann holte einer der anderen in weiß gekleideten Elfen tief Luft und begann unter dem Singsang des Anderen feierlich zu verkünden;
„Sehet, Elfen von Ae´dalia. Das neue Ayldin. Lang lebe, das Elfenblut!“
Noch nie hatte Narydiana so viel Abscheu in einer Stimme gehört.