Beschreibung
Aber immer war sie es, die er vor seinem inneren Auge sah.
Ihre glänzenden, fallenden Haare und der schlanke Hals mit dem eigentümlichen Muttermal, direkt über dem rechten Schlüsselbein. Den Ansatz ihres Kinns, wo sich die Haut unter dem Ohrläppchen leicht vertiefte. Ihr wunderschön geschwungener Mund, die Oberlippe größer als die untere, hervorgewölbt, mit einem ausgeprägten Philtrum.
Wie sie mit ihren feingliedrigen, gepflegten Händen wild gestikulierte.
Es war zwanzig Minuten vor acht, jetzt endlich konnte er es wagen. Wie hatte er sich gesehnt nach diesem Augenblick, schon seit dem Morgen. Als er sich im Büro den ersten Kaffee einschenkte, abgelenkt von der Kollegin, die seine Verspätung mit Argusaugen registriert und einen Bericht darüber, stehenden Fußes weitergeleitet hatte. Die heiße, schwarze Brühe troff über seine Hand. Die Papiertaschentücher saugten sich hellbraun.
Immer nur war er in Gedanken bei ihr. Wenn er die Abrechnung machte, wenn er aus dem Fenster sah, um die tanzenden Zahlen vor seinen Augen loszuwerden. Sogar wenn Oppelmann ihm von den Männerabenden im Eck erzählte, bei denen er lang schon nicht mehr zugegen war. Er nickte dann, ließ ein interessiertes.“ Hm, ah ja“, verläuten. Man musste sich gutstellen mit den Kollegen, wenigstens einen musste man auf seiner Seite haben. Aber immer war sie es, die vor seinem inneren Auge strahlte. Ihre glänzenden, fallenden Haare und der schlanke Hals mit dem eigentümlichen Muttermal, direkt über dem rechten Schlüsselbein. Den Ansatz ihres Kinns, wo sich die Haut unter dem Ohrläppchen leicht vertiefte. Ihr wunderschön geschwungener Mund, die Oberlippe größer als die untere, hervorgewölbt, mit einem ausgeprägten Philtrum. Wie sie mit ihren feingliedrigen, gepflegten Händen wild gestikulierte. Er hatte sich jede Mimik, jede noch so kleine Eigenart ihrer Erscheinung eingeprägt. Konnte sie sich in Erinnerung rufen, als würde sie lebendig vor ihm stehen. Den warmen Klang ihrer Stimme würde er unter Tausenden heraushören können. Sie hatte eine winzige Narbe über der rechten Augenbraue und die kannte nur er. Beim Tennis hatte sie sie sich zugezogen. Sie war ein sportlich aktiver Mensch. Ihr Körper profitierte davon. Die sehnigen Arme und Beine, die festen, kleinen Brüste. Er liebte die Innenseiten ihrer Schenkel, ihre wohlgeformten Hüften.
Und doch hatte er sie nie berührt. Wie oft hatte er sich ausgemalt, ihre Lippen zu spüren, den Hauch ihres Atems an seinem Hals, ihre schlanken Finger in seinem Haar. Sie war zu seiner Obsession geworden. Er tat jeden Atemzug nur für sie, quälte sich durch den Tag, nur um am Abend ihr zu gehören. Sie war so wunderschön und sie wusste darum, und doch war sie so bescheiden und anspruchslos. Andere Frauen forderten teure Kleider, Schmuck und Diamanten. Sie wollten in exclusive Lokalitäten ausgeführt werden, die Schönheiten des Lebens genießen.
Sie begnügte sich nur mit ihm. Sie war so kostbar wie der Morgentau, eingefangen in einer Perle der See. Noch nie war er ein poetischer Mensch gewesen. Doch sie war reine Poesie, ein Gedicht aus Zellen. Er hätte Romane über sie schreiben, alles Ebenmaß der Welt mit ihr vergleichen können. Nichts hätte ihr zugereicht, weil alles neben ihr verblasste. Und er war ein glatzköpfiger Müller von nebenan. Wie oft hatte er sich gefragt, warum sie ihm ihre Gunst schenkte, einem dicklichen Mittvierziger, der seine besten Jahre schon lange hinter sich hatte. Selbst in der stürmischen Jugendzeit hätte ihm solch eine Frau nicht zugestanden, und er war damals nicht von schlechten Eltern. Seine erste Ehefrau war die Schönste der Oberstufe, doch er hatte sie bekommen. Mit den Jahren hatte sie sich in einen grauen, schuppigen Drachen verwandelt, der stetig Feuer spie. Aber Aria würde ihn nie verbrennen, nie seine lechzende Seele verdursten lassen.
Nie würde er sich ihrem Willen entziehen. Sein Herz schlug nur für sie, nur für sie.
Sie war keine Frau, mit der er sich schmücken konnte. Das wusste er, und es war gut so für ihn. Er wäre in ihrem Glanz verblasst. Hätte jedem, der es nur gewagt hätte, sie eine Sekunde zu lang anzusehen, die Augen genommen. Er musste sie teilen, auch das wusste er. Aber die Abende gehörten ganz allein ihm. Nur er wusste, um ihre Geheimnisse, sie vertraute sich ihm an. Ganz allein er wusste, dass sie von zu vielen Zwiebeln Schluckauf bekam, dass sich ihre Knospen zeigten, wenn man behände über die Fußsohlen strich. Dass sie ihren Job hasste. Genauso wie er, nur auf die Abende wartete. Die Abende, die sie miteinander verbrachten. Die stundenlangen Gespräche, das Lachen und die stillen Minuten, wenn sie sich nur in die Augen sahen. Er liebte sie so sehr. Jede Faser seines Körpers verzehrte sich nach ihr. Keine Frau der Welt könnte das Loch füllen, das sich in ihm auftun würde, würde man sie ihm nehmen.
Nur noch fünf ewige Minuten, dann konnte er sie endlich sehen. Es würde ihm besser gehen. Er würde an diesem Tag endlich zur Ruhe kommen. Aller Schmerz würde von ihm abfallen, wie getrockneter Sand. Nur einen Klick und der Monitor flackerte unstet, das Modem wählte sich ein, dann endlich erschien ihr Gesicht. Sie sah müde aus, heute. Hatte dunkle Ringe unter den Augen, und doch nahm es ihr nichts von ihrer Schönheit. Sie trug ein schwarzes Babydoll, das nicht zu viel und nicht zu wenig zeigte. Sie strich den Stoff über ihren Schenkeln glatt, wirkte nervös. Etwas war nicht in Ordnung. Sie fing seinen fragenden Blick auf, wandte sich unmerklich ab. Er registrierte jede noch so kleine Regung. „Hallo Klaus“, sagte sie, kaum hörbar. Er spürte ihre verschleierte Ablehnung.
Nur das reichte aus, um qualvolle Schreie in seinen Kopf zu projizieren.
„Aria, mein Liebling. Den ganzen Tag habe ich mich auf Dich gefreut.“
Sie durfte nicht erahnen, wie sehr er sich verzehrte, wie viel sie ihm bedeute. Ihre Liebe war aus Karten gebaut, ein einziger Windhauch könnte sie zu Fall bringen. Sie durfte ihn nicht sehen, wie sie all die Anderen sah. Er wollte nicht das von ihr, was alle Anderen wollten. Nur er war es, dem sie ihr wahres Gesicht nicht verbarg.
„Du bist etwas besonderes Klaus.“ Wie hatten ihn diese Worte beflügelt. Die Welt hätte er auf seinen Schultern getragen, sie ihr zu Füßen gelegt, nur für ein Lächeln, ein einziges warmes Wort aus ihrem Munde. Doch jetzt blieb sie stumm, als hadere sie mit sich selbst, um eine Erklärung. Er griff an das leblose Plastik seines Monitors, umfasste es, wie er ihren Kopf umfassen würde, zog seine Finger haltend zurück, als hätte er ihr Gesicht in den Händen.
„Aria, ich möchte Dich nie verlieren!“
„Das hier wird unser letztes Treffen, Klaus. Ich sage es Dir im Vertrauen. Ich kann diesen Job nicht mehr machen“, waren ihre letzten Worte.