Kaum ist der Test vorrüber und Chris einigermaßen von Riley akzeptiert, taucht nicht nur plötzlich ein alter Bekannter von Chris und Jake auf, sondern auch Jakes Stiefvater erscheint auf der Bildfläche. Der arme Junge muss sich so einiges anhören, bevor Chris der Kragen platzt und sie dem unfreundlichen Herrn mal die Meinung sagt. Als sie es anschließend gerade schafft, den ganz schön mittgenommenen Jake zu trösten, taucht auf einmal Julien auf. Und dieser enthüllt Jake eher unabsichtlich den Grund für den Hass seines Stiefvaters, über den ihn bisher keiner aufklären wollte - wobei jedoch auch der Tenebrae einen ganz schön düsteren Ausdruck im Gesicht hat und dem Jungen nicht gerade mit Freundlichkeit entgegen kommt. Die Wahrheit verschlägt allerdings auch Chris erstmal die Sprache... Enthält: Kapitel 14: unerfreuliches Wiedersehen Kapitel 15: Halbblut Kapitel 16: Strafe muss sein Kapitel 17: die zweite Warnung Kapitel 18: ungleiche und sich doch ähnelnde Brüder
Als ich gerade dachte, dass es langsam mal Zeit wurde, dass ich auf dem Boden aufschlug, fing mich plötzlich jemand auf. Derjenige schien dabei auszurutschen und landete selbst etwas unsanft auf seinem Hintern, doch der Aufprall war für meinen geschundenen Körper so doch um einiges weniger schlimm.
„Hey, Chris? Lebst du noch?“, hörte ich die besorgte Stimme von Jake fragen. Es war echt komisch, dass ausgerechnet der Tollpatsch mich das fragte.
„Als ob ich von so etwas sterbe“, murmelte ich nur, auch wenn es mir schon mal besser ging, „So zerbrechlich bin ich nicht.“
Der Junge, der mich immer noch halb im Arm hielt, seufzte erleichtert.
„Alles in Ordnung, Felton?“, fragte Riley währenddessen den jungen Erwachsenen, der anscheinend immer noch da saß, wo ich ihn hin befördert hatte, obwohl die Lanzen inzwischen verschwunden sein durften, „Du bist richtig blass.. sie scheint dich ja wirklich ganz schön erwischt zu haben.“
Sogar von hier konnte ich hören, wie Felton schluckte. „D-D-Das.. ich war.. nur nicht darauf vorbereitet“, stotterte er und kam langsam wieder auf die Beine. Ich war erstaunt, dass seine Stimme wirklich zutiefst erschrocken klang. Hatte er mir nur so wenig zugetraut, dass er von diesem Angriff meinerseits vollkommen überwältigt war? Was sollte ich denn sagen? Mich hatte es doch wohl eindeutig schlimmer erwischt.
„Da stimme ich dir allerdings zu“, bemerkte Riley, „So einen Gegenangriff, nachdem sie bereits am Boden gelegen hat, hätte ich auch nicht erwartet.“
„Wir sollten sie aber wirklich zur Krankenstation bringen“, warf Jake ein, „Du hast sie ganz schön schlimm zugerichtet, Felton.“
„Sie hat es doch nicht anders gewollt.“
„Sie ist immer noch ein Mädchen“, erwiderte Jake.
„Hey“, stöhnte ich, „Ihr Jungen müsst nicht immer so tun, als wären wir Mädchen schwächer als ihr. Wir sind euch in vielerlei Hinsicht sogar überlegen.“
„So schlecht scheint es dir ja nicht zu gehen, wenn du noch dummes Zeug von dir geben ka…“ Wie es aussah, sah der liebe Felton mich erst jetzt richtig, wo er näher gekommen war. Ich musste wohl einen ganz schön demolierten Anblick abgeben, wenn er deswegen sogar stockte.
„Das sieht wirklich übel aus“, stellte sogar Riley fest, „Ich lasse zwei Leute aus der Versorgungsabteilung kommen.“
Mein ganzer Körper zog sich unter den Schmerzen zusammen und ich biss nur weiterhin die Zähne zusammen. Das auszuhalten war wirklich keine leichte Übung. Wenn ich daran dachte, mich nur einen Millimeter zu bewegen, schien das Ziehen und Brennen so gut wie unerträglich zu werden. Verflucht, ich hatte zu lange ohne ernstzunehmende Gegner gelebt, ich war es gar nicht mehr gewöhnt schwer verletzt zu werden.
„Aron, ich bitte dich“, hörte ich ein leises Flüstern, „Healing-Mode.“
„Yes, Sir“, kam die genauso leise Erwiderung, während sich Riley und Felton kurz zu unterhalten schienen, zumindest hörte ich ihre Stimmen im Hintergrund. Dem metallischen Klang nach zu urteilen, handelte es sich bei letzterer Stimme um einen Zauberstab. Der Umstand, dass ich anschließend das Gefühl hatte in eine angenehme Kälte gehüllt zu werden, die die heißen Wunden langsam abkühlte und beruhigte, bestätigte meine Vermutung. Auch wenn ich erstaunt war, da es sich hierbei offensichtlich um Heilmagie handelte, welche nur verdammt mächtige Magier praktizieren konnten, da diese Art der Magie Unmengen magischer Kraft verschlag. Einige Sekunden lang war ich in diese sanfte Kälte gehüllt, dann wechselte diese sich mit einer schönen Wärme ab und ich spürte das Kribbeln meiner heilenden Wunden. Schließlich waren die Schmerzen vollständig abgeklungen und meine Verletzungen geheilt. Eine starke Erschöpfung war alles, was zurückblieb.
Obwohl ich am liebsten einfach auf der Stelle eingeschlafen wäre, öffnete ich meine Augen nochmal. „Jake…“, hauchte ich daraufhin jedoch erstaunt. Das war jetzt schon das dritte Mal, dass mich dieser Junge völlig verblüffte. Der vierzackige, blaue Stern seiner Kette hörte gerade auf zu leuchten und die Magie verschwand wieder.
„Hm?“ Riley hatte sich umgedreht und scheinbar gerade noch mitbekommen, was Jake gemacht hatte. „Junge, bist du des Wahnsinns!?“, rief er erschrocken und eilte zu uns herüber.
Mir war auch gerade aufgefallen, dass Jake gefährlich schwankte. Ich schaffte es gerade noch mich selbst aufrecht hinzusetzen und den Jungen am Umkippen zu hindern.
„Oh Mann, ich hab ihm doch gesagt, dass er diesen Schwachsinn lassen soll“, stöhnte Riley, als er vor uns stand, „Sei ihm gefälligst dankbar. Wie du weißt können sich unerfahrene Magier beim Ausführen von Heilungszaubern leicht selbst umbringen.“
„Er ist nur ohnmächtig“, erwiderte ich, „Auch wenn ich verblüfft bin.“ Denn Jake hatte es tatsächlich geschafft sämtliche Verletzungen zu heilen und der Schmerz war nur noch eine schwache Erinnerung. Ich war ihm was schuldig.
Der Ausbilder schüttelte den Kopf, bevor er mich ernst ansah. „Der Kampf hat jetzt insgesamt sechs Minuten und vierzig Sekunden gedauert. Ich hatte dir aufgetragen zehn Minuten lang gegen Felton durchzuhalten.. du warst im Prinzip eigentlich schon nach fünf Minuten geschlagen.. Aber ich hätte nicht erwartet, dass du dich danach nochmal aufrappeln und ihn sogar besiegen würdest. Hut ab.“
„Und was ist nun?“, fragte ich, „Lassen Sie mich auf dem Ausbildungsstand der Jungen anfangen oder nicht?“
„Wie bitte?!“ Felton stapfte mit ungläubigem Gesichtsausdruck zu uns. Da er nichts von dem Grund für den plötzlichen Kampf gewusst hatte, fiel er jetzt natürlich aus allen Wolken. Scheinbar hatte der Ausbilder es ihm genau deswegen verschwiegen.
Riley seufzte. „Ich hoffe, du weißt, was du dir da an Land ziehen willst.“
„Ich bin mir dessen voll bewusst.“
„Das können Sie doch nicht machen!“, rief Felton dazwischen.
„Ich habe ihr nichts darüber gesagt, wie man mit dem Zauberstab der Reihe X25 umgeht“, sagte Riley an den Magier gerichtet, „Und sie hat es trotzdem hinbekommen erst den Dämon zu vernichten und jetzt sogar dich zu schlagen. Ich selbst brauchte fast eine Woche, um das Magiesystem in dem Zauberstab überhaupt mal zu aktivieren und noch mal eine Woche, bis ich die ersten ernst zu nehmenden Angriffe zustande gebracht habe. Auch wenn ich es selbst für übertrieben halte, kann ich nicht leugnen, dass sie es mit ihrem Talent schaffen kann mit euch mitzuhalten.“
„Wie gesagt, was die Theorie angeht reichen mir ein paar Bücher und eine Woche Zeit, dann habe ich das aufgeholt“, bemerkte ich. Nebenbei fiel mir auf, dass Jake, dessen Kopf auf meine Schulter gerutscht war – was mir ohnehin schon fast die Röte ins Gesicht trieb, weil ich seinen warmen Atem auf der Haut spürte und mich das irgendwie nervös machte – damit angefangen hatte sich an mich zu kuscheln. Der Kerl war tatsächlich eingeschlafen! Auf mir! Und er schmiegte sich an mich als wäre ich seine Bettdecke!!
„Na ja, das werden wir sehen…“
Ich packte Jake am Kragen seines beigen Hemdes, hielt ihn ein Stück von mir weg und ohrfeigte ihn mehr oder weniger sanft. „Wach gefälligst auf du Schlafmütze!!“, rief ich wütend, „Und hör auf dich an mich zu klammern! Ich bin doch nicht dein Kissen!“
„Aaah!“ Riley war eindeutig überrascht von meiner plötzlichen Handlung. „Chris! Du kannst ihn doch nicht einfach…“
Jake fing an leise zu stöhnen und etwas Unverständliches vor sich hin zu murmeln, ehe er verschlafen die Augen öffnete. „Mein Gesicht tut weh“, klagte er mit halblauter Stimme und fasste sich an die Wange.
„Geschieht dir recht“, sagte ich nur schnippisch und ließ ihn los.
Der Junge schaffte es gerade noch aufrecht sitzen zu bleiben und sich etwas verwirrt umzusehen. „Ah, Londoner Stützpunkt“, brummte er und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
„Werd endlich wach!“, rief nun Felton erzürnt, „Ich glaub echt nicht, dass ich mit den beiden zusammen Unterricht bekommen soll!“
„Tja, Pech gehabt“, erwiderte ich nur schadenfroh.
„Ich richte dich gleich nochmal so zu wie eben!“
„Gut, dann halte ich mich mit dem nächsten Angriff nicht mehr zurück!“
„Ruhe ihr zwei!“, rief Riley genervt, „Würdet ihr endlich mal aufhören zu streiten?“
„Hmpf!“ Wir sahen beide in verschiedene Richtungen und verschränkten die Arme vor der Brust.
„Sieht so aus, als würde das Training lustig werden“, stellte Jake schmunzelnd fest, der mittlerweile richtig wach geworden war.
„Und anstrengend“, fügte Riley wenig enthusiastisch hinzu.
Die bestellten Leute von der Versorgungsabteilung schickte der Ausbilder wieder zurück. Felton, Jake und ich bekamen für den Rest des Tages frei, da wir wohl alle ein wenig Erholung gebrauchen konnten, und durften uns daher entweder im Stützpunkt rumtreiben – solange wir niemanden bei der Arbeit störten – oder nach Hause gehen. Da Jake sich noch ein wenig auf dem Stützpunkt umsehen wollte, weil er über drei Monate nicht mehr hier gewesen war, beschloss ich ebenfalls zu bleiben. Ich wurde nämlich das Gefühl nicht los, dass ich besser auf den Jungen aufpassen sollte. Wohin Felton verschwand, wusste ich nicht, und es war mir auch ziemlich egal.
Jake und ich marschierten durch das vierte Stockwerk, wo sich der Hauptsitz der Operationsabteilung befand, als wir weiter vorne einige sich nähernde Stimmen hörten. Als die Personen, zu denen sie gehörten, um die Ecke bogen, blieben Jake und ich zeitgleich wie angewurzelt stehen.
„HEEEEEEEEEHHH!!!?“
Wir sahen uns etwas verblüfft an. Schließlich war es ein schräger Zufall, dass wir beide im selben Moment plötzlich angefangen hatten zu schreien und mit dem Zeigefinger auf die Person zu zeigen, die vor den anderen drein ging. Es war ein hochgewachsener Mann, ich schätzte ihn etwa so groß wie Julien, der fast zwei Meter maß. Seine hellblonden Haare waren lang und die vorderen Strähnen hatte er mit einem Band nach hinten gebunden. Er trug auch genau die Klamotten, die ich erwartet hatte: ein blütenweißes Hemd, eine elegante, dunkelblaue Jacke und eine schwarze Hose. Er trug dazu diesen goldenen Ohrschmuck mit einem grünen Edelstein, der sich um seine Ohrmuschel windete. Er sah aus wie ein attraktiver Mann Anfang dreißig. Und nicht zu vergessen das Markenzeichen, durch das ich ihn überall unter hunderten Männern erkennen würde: dieses kleine, schwarze Karo außen auf seiner linken Wange nur ein kleines Stück unter seinem Auge. Das war einfach unverwechselbar.
„LYON!!!“
Jake und ich sahen uns zum zweiten Mal verwirrt an. Wieso hatten wir jetzt auch noch zeitgleich den Namen dieses undurchschaubaren Mannes gerufen?
Die drei Männer hinter dem Kerl runzelten ebenfalls die Stirn über unseren ungeplanten Auftritt.
„Oh Jake, Chris, wie schön euch beide nach der langen Zeit mal wieder zu sehen“, sagte Lyon jedoch mit einem fröhlichen Lächeln, „Geht es euch gut? Du bist ja ganz schön gewachsen, Jake, hast wohl doch auf meinen Tipp gehört und ordentlich Fruchtzwerge gegessen. Und Chris, ich hätte nicht erwartet, dass aus dem kleinen Mädchen mal so eine schöne junge Lady wird. Auch wenn sich an deinem schrecklichen Charakter wohl nichts geändert hat.“
„Ähm, Vizechef, wer sind die beiden?“, fragte einer der anderen Männer, die eindeutig komplett verwirrt waren.
Mein linkes Auge begann derweil zu zucken. „Entschuldigung dafür, dass ich einen für Männer abschreckenden Charakter habe.. Und Moment mal! Vizechef?!“ Ich hatte mir bei dem Namen nichts gedacht, immerhin gab es viele Lyons auf der Welt, aber das hier war ausgerechnet derjenige, den ich fast komplett aus meiner Erinnerung ausradiert hatte. Es war mir beinahe gelungen, dieses viel zu schöne Gesicht mit dem schrägen Tattoo zu vergessen. Leider nur beinahe.
„Ja, ich bin der Vizechef dieses Stützpunktes“, grinste der hochgewachsene Mann mit der überragenden Ausstrahlung von Wichtigkeit und purer Selbstgefälligkeit. Er machte Julien glatt Konkurrenz, einer der wenigen, die das hinbekamen.
„Unmöglich.“
Das war jetzt schon das dritte Mal, dass Jake und ich uns irritiert ansahen. Wie zum Teufel konnte man so oft hintereinander ungeplant gleichzeitig etwas sagen? Gab es dafür nicht irgendein Limit?
„Vize, wir müssen den Zeitplan einhalten“, bemerkte einer der Männer hinter ihm, wohl sein Sekretär oder so. Na ja, es interessierte mich nicht, was die anderen Männer waren. Allein, dass diese Ausgeburt eines Alptraums hier war, war ein einziger Graus.
„Ja ja, ihr Spielverderber“, seufzte Lyon lediglich und marschierte an uns vorbei, „War nett euch zwei mal wiederzusehen. Wie sich die Wege im Leben kreuzen ist manchmal ganz schön unheimlich, nicht?“ Wie konnte er das nur mit einem Lächeln sagen?
So schnell, wie der Kerl und seine Verfolger aufgetaucht waren, verschwanden sie auch wieder um die nächste Ecke.
„Ich glaub´s echt nicht“, stöhnte ich und schüttelte den Kopf, „Von allen Menschen, denen ich hier in die Arme laufen konnte, musste es ausgerechnet dieser Wolf in Scharfpelz sein.“
„Du kennst ihn auch?“ Jake sah mich erstaunt an.
Ich erwiderte seinen Blick. „Du auch?“
Einen Moment lang war es still, dann seufzten wir beide gleichzeitig.
„Sieht so aus, als hätten wir dasselbe Schicksal“, stöhnte ich, „So wie du reagierst hat er dich auch auf dem Gewissen gehabt.“
Dass Jake sich die Arme rieb als hätte er Schüttelfrost reichte als Antwort aus, ich zwang ihn lieber nicht dazu, sich an so etwas zu erinnern. Obwohl ich es ja mehr oder weniger unabsichtlich schon mal getan hatte, wie mir gerade einfiel. Irgendwie bekam ich bei den Gedanken ein schlechtes Gewissen.
„Hat er dich auch genau mit dem konfrontiert, was du am wenigsten leiden kannst?“, fragte ich resigniert und zog ein vielsagendes Gesicht bei der Erinnerung, „Er hat meine liebsten Spielsachen absichtlich kaputt gemacht; hat seine eigenen, absichtlich gemachten Fehler auf mich abgeschoben; als ich angefangen hatte Magie zu lernen, hat er mich zum Teil so heftig angegriffen, dass ich Tage später noch was davon hatte; und zu allem Überfluss hat er auch noch Insekten ins Haus gebracht! Er hat mir sogar einmal eine Heuschrecke direkt vor die Nase gehalten, ich dachte, ich müsse sterben vor Angst.“ Ich fröstelte bei der Erinnerung und rieb mir instinktiv die Arme. „Er ist der Teufel in Person.“
„Also hattest du schon Angst vor Insekten, als du noch kleiner warst?“, fragte Jake mit einer hochgezogenen Augenbraue.
„Sag das noch ein Mal laut und du endest als Küchenschabe“, drohte ich, „Und wie du weißt, hasse ich Insekten und all dieses Kleinvieh, also könnte es passieren, dass ich dich versehentlich zerquetsche oder Insektizide benutze. An deiner Stelle würde ich sehr vorsichtig mit meiner Wortwahl sein.“
„Jaa.. du hast recht.“ Sein Lächeln war doch ziemlich außer Form geraten. Aber immerhin war er auf andere Gedanken gekommen. Halt! Wieso dachte ich darüber überhaupt nach? So langsam bekam ich ja einen richtigen Komplex. Das war gar nicht gut. Ich benahm mich ja schon fast wie eine Mutter. Apropos, was war eigentlich jetzt mit seiner Mutter?
Als wir um die Ecke bogen, sah ich nur auf einmal einige Anzüge. Es gelang mir gerade noch zu bremsen, doch Jakes Talent zeigte sich natürlich und er stolperte mitten in einen der Männer hinein. Ausgerechnet in den direkt an der Front mit dem weißen Anzug, das gab bestimmt Ärger.
„Tut mir lei…“ Jakes Gesichtszüge froren innerhalb eines Sekundenbruchteils ein und er erstarrte zur Salzsäule. Jedoch war sein Ausdruck so fassungslos und entsetzt, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Er sah so entgeistert aus wie ich, als ich von Rosebads Tod gehört hatte. Von dem meiner Eltern gar nicht zu sprechen.
„Was sucht ein Nichtsnutz wie du hier?!“, fragte der Mann Mitte vierzig barsch. Doch anstatt bloß ein wenig verärgert über Jakes Unachtsamkeit zu sein, schien er vor Wut bald außer sich zu sein. Auch wenn er nicht ausbrach wie ein Vulkan, war die brodelnde Lava hinter seiner beherrschten Fassade deutlich zu spüren und in seinem Ton zu hören.
Der Junge neben mir erwiderte nichts. Er war kreidebleich.
„Antworte! Du Nichtsnutz von einem Sohn!“, schrie der hellhaarige Mann und hob die Hand, als wollte er Jake mit einem Schlag umbringen. Da war wirklich dieser Todeswille in seinen Augen zu sehen.
Ich war völlig geschockt. Das dort war sein Vater? Jakes Stiefvater?! Dieser Willam, dessen Persönlichkeit mir schon bei der kurzen Erzählung von Jake total missfallen war? Was suchte dieser Kerl hier?
Der Schlag ging haarscharf daneben und das auch nur, weil Jakes Beine ihn scheinbar nicht mehr getragen hatten und er zu Boden gesackt war. Dort saß er jetzt, den vollkommen erschrockenen Blick immer noch auf seinen Stiefvater gerichtet. Er zitterte vor Angst.
„Tse.“ Willam spuckte zur Seite – obwohl wir uns wohlbemerkt immer noch im Gebäude des Londoner Stützpunktes befanden – und sah ihn verächtlich an. „Komm mir ja nicht mehr unter die Augen, du verfaulter Abschaum! Es war schwer genug Elena dazu zu bringen, dich endlich aus dem Haus zu werfen! Warum muss ich deine Visage genau jetzt sehen!? Man sollte dich einsperren lassen! So was wie dich frei rumlaufen zu lassen, sollte verboten werden! DU solltest verboten, am besten gleich AUSGELÖSCHT werden! DU…“
Irgendwann reichte es. Genug war genug. Ich hatte überlegt meinem Vorschlag Folge zu leisten und diesem unmenschlichen Kerl in seinen arroganten, herrschsüchtigen Arsch zu treten, doch das würde bei der Wichtigkeit – auf die ich ihn des Aufzugs entsprechend einschätzte – uns wahrscheinlich nur Probleme aufhalsen. Aber das mitansehen konnte ich auch nicht mehr. Es gab ein Limit, wie unmenschlich man sein durfte, und das war hier eindeutig um Meilen überschritten.
Ich packte diesen Willam an seiner schicken, blauen Krawatte, zog ihn auf meine Höhe runter und sagte ruhig, aber genau deshalb umso drohender: „Lassen Sie diesen Jungen verdammt nochmal in Ruhe, Sie Tyrann von einem Vater. Wichtige Männer sollen doch angeblich immer so fein und besser als andere sein. Dass ich nicht lache, für Leute wie Sie wurde die Hölle geschaffen.“ Mein teuflisches Lächeln kam zum Vorschein. „Passen Sie auf, dass Sie nicht zu früh dort landen, mir täte der Teufel leid.“
Mein vernichtender Blick hatte sich die ganze Zeit in die im Moment völlig verblüfften Augen dieses Mannes gebohrt. Nun stieß ich ihn weg wie irgendwelchen Müll und wischte mir die Hand an dem Mantel ab, auch wenn es mir widerstrebte ihn mit den Bakterien eines solchen Mannes zu beschmutzen. Danach packte ich Jake am Arm, zog den total konsternierten Jungen auf die Füße und schleifte ihn hinter mir her an den Männern vorbei. Die anderen waren sowieso sprachlos gewesen und auch Jakes Stiefvater schien noch mit seiner Fassung zu ringen. Mit Sicherheit hätte er sich nie träumen lassen, von einem siebzehnjährigen Teenie so behandelt zu werden. Tja, das Schicksal konnte einem schon gemeine Streiche spielen, es tanzte nach niemandes Pfeife.
„Chris!“ Es war jetzt schon das fünfte Mal, dass der Junge versuchte mit mir zu reden, doch ich zog ihn immer noch die Treppe runter, bis wir im zweiten Untergeschoss waren und ich ihn in den Umkleideraum schubste, wo ich zuvor meine jetzigen Klamotten gefunden hatte. Es war zum Glück niemand da, wobei mir einfiel, dass das eigentlich die Damenumkleide war. Doppeltes Glück gehabt. Wobei das im Augenblick keine Rolle spielte.
„Noch ein Wort mehr und ich hätte es wirklich in Erwägung gezogen deinen Stiefvater zu ohrfeigen“, sagte ich aufgebracht, „Was ist das für ein Kerl?! Der hat sie ja nicht mehr alle!“
Jake sah mich verwirrt an. Allmählich kehrte aber wenigstens seine Gesichtsfarbe wieder zurück, weshalb er nicht mehr ganz so sehr wie eine Leiche aussah.
„Wie kann man so etwas nur sagen?“, fragte ich und verschränkte die Arme vor der Brust, „Das ist mir unbegreiflich. Hast du irgendetwas gemacht, was ihn dich so…“ Während ich sprach, fiel es mir wieder ein.
„Wahrscheinlich weil ich nicht sein leiblicher Sohn bin“, antwortete Jake dennoch und setzte ein mattes Lächeln auf.
„Trotzdem“, erwiderte ich, „Ich kann zwar nicht aus Erfahrung sprechen, aber es würde mich doch sehr wundern, wenn alle unehelichen Kinder so behandelt werden würden. Und überhaupt, er hat deinen eigentlichen Vater umbringen lassen.. ist der Kerl noch zu retten? Wieso läuft ein Mörder wie er frei durch die Gegend?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Jake leise und wich meinem Blick aus, „Meine Mutter sagte, dass es vertuscht worden war. Und sie wird seitdem in einem großen Zimmer unserer Villa eingeschlossen und kann nicht mehr nach draußen…“
„Wie bitte?!“, fragte ich beinahe fassungslos, „Was zum Teufel soll der ganze Schwachsinn? Erst bringt er jemanden um und dann hält er noch seine eigene Ehefrau gefangen? Steht die Welt auf einmal Kopf oder was?! Hat davon denn keiner etwas mitbekommen?“
Jakes Gesichtsausdruck gab immer mehr von der in ihm wohnenden Verzweiflung und Wut preis. „Es stehen alle auf der Seite von meinem Stiefvater“, entgegnete er und ballte dabei die Hände zu Fäusten, „Alle in der Villa halten zu Willam und sagen, dass es nur gut ist, dass er meinen Vater hat umbringen lassen! Warum will mir keiner sagen! Selbst meine Mutter schüttelt jedes Mal nur den Kopf, wenn ich sie frage! Ich habe keine Ahnung, warum das alles so ist! Ich weiß nur, dass meine beiden Brüder die ganz großen Helden sind und ich der Sündenbock bin!“
Ich sah den auf einmal ziemlich aufgebrachten Jungen nur an. Wie es aussah, vergrub er all diese Gefühle normalerweise unter einem undurchschaubaren Lächeln. Mein Zorn schien ihn irgendwie angesteckt und dazu gebracht zu haben, das alles herauszuschreien.
Jake keuchte und schien gegen die wütende Verzweiflung und noch weitere Gefühle anzukämpfen. Meine Augen weiteten sich jedoch, als ich eine Träne zu Boden fallen sah. Er hatte den Kopf gesenkt und der Pony seines fast schulterlangen, hellblonden Haares verdeckte seine Augen, aber seine Emotionen hatten ihn anscheinend vollkommen übermannt. Das war kaum mitanzusehen. Bei dem Anblick wurde mir mein eigenes Herz schwer. Verdammt, warum mussten seine Gefühle so ansteckend sein?
Zögerlich streckte ich meine Hand aus und strich ihm über das seidige Haar. Es war weich und fühlte sich an als wäre es frisch gewaschen. Obwohl der Junge bestimmt zehn Zentimeter größer war als ich, zog ich ihn vorsichtig an mich und drückte seinen Kopf sanft auf meine Schulter. So hatte Rose mich immer getröstet, wenn ich früher geweint hatte, was sie sich angeblich bei meiner Mutter abgeschaut hatte. Vielleicht konnte ich ihm damit wenigstens ein bisschen Trost spenden.
Jake schien im ersten Augenblick ein wenig überrascht zu sein, doch dann legte er plötzlich die Arme um meinen Rücken und presste mich an sich. Normalerweise hätte ich ihn wohl weggeschubst und wenn nicht sogar geschlagen, aber jetzt konnte ich das nicht. Mal davon abgesehen, dass es sich gar nicht so schlecht anfühlte, wie ich immer gedacht hatte. Er strahlte eine angenehme, wohlige Wärme aus. Es war das erste Mal, dass ich einem Jungen so nahe war – okay, wenn man einen gewissen Dämon ausschloss – aber es war anders, als ich gedacht hatte. Ich konnte es nicht genau beschreiben, aber es war definitiv anders. Und das nicht im schlechten Sinne.
Augenblick mal! Was sollten diese Gedanken denn schon wieder?! Also ehrlich mal, irgendetwas stimmte mit mir doch wirklich nicht! Das war die völlig falsche Situation für solch schräge Feststellungen. So etwas sollte mich noch nicht mal interessieren. Ich musste versuchen diesen hilflosen Jungen irgendwie wieder aufzumuntern. Ähm, dabei fiel mir ein, dass das eigentlich auch nicht normal für mich war. In letzter Zeit spuckte mein Hirn des Öfteren solche komischen Einfälle aus. Vielleicht sollte ich es mal zum Durchchecken in der Werkstatt abgeben. Oder am besten ganz überholen lassen.
Es vergingen einige Minuten, während denen ich Jake immer wieder über das Haar strich, was ich wegen meines krummen Gedankengangs kaum bemerkte. Dass er sich anscheinend wieder beruhigt hatte, merkte ich erst einige Minuten später, wobei es mir dann umso deutlicher auffiel. Nur eine Sache verwirrte mich.
„Ähm.. wenn es dir wieder besser geht, solltest du mich vielleicht mal wieder loslassen.“ Das irritierte mich ziemlich. Von den Filmen bei Tante Rosebad und auch von meiner fast eineinhalb Jahre langen Erfahrung unter Menschen – zuvor war ich ja fast sechzehn Jahre lang nur in der Gesellschaft meiner Tante und gelegentlicher Gäste gewesen – wusste ich, dass es für einen Jungen und ein Mädchen hundertprozentig nicht normal war, sich so lange zu umarmen, wenn sie nicht irgendwie verwandt waren.
„Äh.. nein.“
„Hah?“ Was sollte denn die Antwort jetzt? Und dann auch noch in diesem mädchenhaft verlegenen Tonfall.
„Es wäre peinlich, wenn du mich so siehst“, murmelte er.
Meinte er das wirklich ernst? Ich konnte nicht anders, ich fing an zu kichern und brauchte einen Moment, bis ich etwas darauf erwidern konnte. „Du solltest dich selbst mal hören“, sagte ich und versuchte das Lachen zu unterdrücken, „Eben noch in tiefer Verzweiflung und jetzt hörst du dich an wie ein verknalltes Mädchen. Jake, es ist nichts Falsches daran Tränen zu vergießen. Auch Jungen dürfen das, also was soll daran so peinlich sein?“
Er gab nur einen unverständlichen Laut von sich.
„Hey, lass mich los du Klammeraffe“, schmunzelte ich und klopfte ihm auf dem Rücken, „Sag nicht, dass du jetzt schmollst? Du bist doch kein Kleinkind.“
Schon wieder kam nur so ein gebrummter Laut.
„Oh Mann, du bist anstrengend, weißt du das?“, fragte ich amüsiert und schob ihn ein Stück zurück, „Du bist doch ein siebzehnjähriger Junge, solltest du dich da nicht ein bisschen erwachsener benehmen?“
Jake sah lediglich zur Seite. Es schien ihm wirklich peinlich zu sein in meiner Gegenwart geweint zu haben. Ich weiß, mein Hirnkasten hatte einen Schaden, aber ich fand das echt süß.
Plötzlich aber begann das Mal an meinem Halsansatz zu kribbeln und noch bevor ich mir an die Stelle fassen konnte, spürte ich bereits seine Anwesenheit. In der nächsten Sekunde fand ich mich mal wieder – um genauer zu sein, wie immer – mit dem Rücken an Juliens Brust wieder und spürte seine Arme um Schultern und Taille. Sein warmer Atem direkt auf mein Haar war auch nicht zu verkennen und ich konnte sein arrogantes Lächeln schon vor mir sehen.
„Julien.. Was bitteschön suchst du hier?“, fragte ich resigniert. Ich konnte mich nicht daran erinnern ihn gerufen zu haben.
„Ich wollte dich sehen“, erwiderte der bildschöne Tenebrae, den die meisten Frauen wohl als den vom Aussehen her perfekten Mann beschreiben würden.
„Du liebst es anscheinend, mir auf die Nerven zu gehen“, stöhnte ich.
„Ist daran etwas falsch?“
Ich rollte mit den Augen und sah ihn genervt an, auch wenn ich mir dabei fast den Hals verdrehen musste. „Ja. Und wenn du schon auftauchen musst, könntest du nicht jedes Mal diese Position beziehen? Ich bin keines deiner Opfer, die du mit diesem übertriebenen Charme verführen kannst. Mein Kopf funktioniert noch bestens und wird nicht darauf reinfallen.“
Julien seufzte. „Wieso werde ich immer so kalt behandelt?“
„Weil du ein über zweihundert Jahre alter Schürzenjäger bist und ich nichts für Leute wie dich übrig habe“, entgegnete ich entnervt, „Wieso bist du jetzt hier?“
„Die Vertragsabrechnung vom letzten Mal steht immer noch aus“, antwortete der Dämon nun kurz angebunden.
„Was? Verdammt, das hatte ich ganz vergessen“, murmelte ich. Zu dem Zeitpunkt hatten die Ereignisse bereits angefangen sich zu überschlagen, weswegen mir das komplett entfallen war.
„Ich darf dann…“
„W-War.. Verfluchter Dämon, nicht jetzt!“, rief ich entsetzt und lief zeitgleich rot an.
Julien hob die Augenbrauen. „Ich werde nicht riskieren, dass du es endgültig vergisst. Also hör auf dich zu wehren, ich bin sowieso stärker als du.“
„Verdammter…“ Ich versuchte mich von ihm wegzudrücken, doch natürlich war das vergebens. Außerdem hatte er ja Recht, normalerweise durfte das noch nicht mal aufgeschoben werden. Es stand mir nicht zu, mich zu wehren, auch wenn ich das hasste.
Julien beugte sich vor und ich legte widerstrebend den Kopf zur Seite. Er küsste die Stelle, wo sich das Mal befand, woraufhin ich spürte, wie ein Teil meiner magischen Kraft zu ihm wanderte. Der Preis für meinen Schutz, was ich erst einige Zeit nach Schluss des Vertrages richtig verstanden hatte.
„W.. Was…“
Scheibenkleister! Erschrocken blickte ich zu Jake, der ja auch noch nur wenige Meter entfernt stand und uns ziemlich verdattert anstarrte. Juliens plötzliches Auftauchen hatte mich so beschäftigt, dass ich ihn glatt vergessen hatte. Dreimalverdammter Mist! Wieso hatte das ausgerechnet jetzt passieren müssen?
„Hoh? Du bist ja auch hier“, stellte Julien unbeeindruckt fest und richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf. Mit meinen ein Meter siebzig war ich schon ein recht großes Mädchen, aber mit seinen fast zwei Metern überragte er mich natürlich um ein ganzes Stück. Neben ihm musste ich wie ein Kind aussehen. Schon wieder falsche Gedanken, das war doch überhaupt nicht das Problem!
„D-Das…“ Ich suchte nach einer Erklärung, doch mir wollte einfach nichts einfallen, was plausibel genug klang. Zumal Jake wusste, dass der Mann hinter mir ein Dämon war.
„Du hast also wirklich einen Vertrag mit einem Tenebrae“, stellte Jake noch immer etwas stutzig fest. Sein Verstand schien aber trotz seiner Verwirrung gut zu arbeiten, das musste man ihm lassen.
„J-Ja…“, sagte ich zögerlich, „Auch wenn es wohl gemerkt ein Versehen war.“
„Die Schönheit hier war ganz schön dumm und taub für Gefahren, als sie mich vor neun Jahren beschworen hat und unbedingt einen Vertrag schließen wollte“, grinste Julien, „Aber wie ich mir gedacht hatte, ist es doch sehr interessant geworden.“
„Was soll das denn heißen?“, fragte ich resigniert, „Du hattest deinen Spaß dabei ein unschuldiges Kind in die Irre zu führen.“
Der Dämon unterdrückte eindeutig ein belustigtes Kichern. „Das kann ich nicht leugnen.“
Jake sah uns nach wie vor unsicher an.
Ich wusste auch immer noch nicht, was ich zu ihm sagen sollte. So entstand eine Weile lang Stille, in der mir auffiel, dass Julien den Jungen nachdenklich ansah. Und das nicht zum ersten Mal.
„Wieso siehst du Jake immer so an?“, fragte ich ihn ernst.
Er antwortete nicht sofort, sondern musterte Jake erneut so eingehend, als wollte er sich sein Aussehen haargenau einprägen. „Na ja“, sagte Julien dann auf einmal, „Ich hätte nie damit gerechnet, hier auf der Erde dasselbe Blut wie in meinen Adern zu finden. Noch dazu in einem Abkömmling einer Reinblutfamilie.“
Jake und ich sahen ihn beide beinahe fassungslos an. Erstens mal, hatte der Typ einen Röntgenblick oder was? Woher konnte er die Herkunft von Jakes Blut so genau bestimmen? Zweitens, hatte ich mich gerade verhört oder hatte er „Reinblutfamilie“ gesagt? Und drittens, „dasselbe Blut wie in meinen Adern“? Julien war eindeutig ein Dämon, was bedeuten würde, dass er in Jake ebenfalls Dämonenblut wahrnahm. Aber „wie in meinen Adern“? Sollte das etwa heißen, dass...
„Man könnte sagen, dass du mein kleiner Halbbruder bist“, fügte Julien hinzu. Sein Ton war jedoch todernst. Es war eindeutig, dass er nicht wie sonst herumalberte. Er meinte es wirklich ernst. „Wegen deiner Mutter wurde mein Vater umgebracht.“ In den letzten Worten lag unverkennbar ein jahrelang aufgestauter Hass. Für einen Moment stellten sich sogar meine Nackenhaare auf.
Jedoch konnte ich nicht mal erraten, was gerade in Jake vorging. Er sah den Dämon gerade erst zum zweiten Mal und bekam nun auf einmal gesagt, dass in seinen Adern Dämonenblut floss. Das musste wie ein schlechter Scherz für ihn klingen. Der Schock über eine so plötzlich in ernstem Ton verkündete Tatsache – denn auch wenn es völlig absurd klang, glaubte ich Julien – war bestimmt unbeschreiblich.
„Das…“, setzte der fassungslose Junge an.
„Ist keine Lüge“, schnitt Julien ihm aber das Wort ab und sein Blick verdüsterte sich, „Ich hätte niemals erwartet, dass diese Menschenfrau damals bereits sein Kind in sich hatte. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich sie gehasst habe. Die Frau.. die meinen Vater…“ Er verzog das Gesicht. „Führt sie jetzt wenigstens ein schönes Leben? Ich wette als reinblutige Magierin lebt es sich reichlich komfortabel. Nachdem sie meinen Vater in den Tod geschickt hat, hat sie jetzt bestimmt ein schönes Leben an der Seite irgendeines anderen reinblutigen Magiers…“
Ich war völlig verdattert, als Jake plötzlich einen Satz nach vorne machte und Julien eine Ohrfeige verpasste.
„Du hast doch keine Ahnung!!!“, schrie Jake außer sich vor Wut, „Seitdem dein Vater sie verführt hat und sich dann einfach hat umbringen lassen, sperrt Willam sie in einem Zimmer ein und lässt sie nicht mehr raus! Er schlägt sie! Er misshandelt sie! Manchmal liegt sie halbtot auf dem Bett und scheint wie eine lebende Leiche zu sein! Nennst du das etwa ‚ein schönes Leben‘ führen?!“
Der Tenebrae war eindeutig genauso überrascht wie ich und sah den jungen Magier erstaunt an.
„Wenn dein Vater nicht gewesen wäre, könnte sie jetzt ein angenehmes Leben führen und ich müsste nicht immer den Hass meines Stiefvaters zu spüren bekommen!“, rief Jake und ballte die Hände wieder zu Fäusten, „Es ist alles die Schuld von deinem Vater! Und Mutter sagt trotz allem immer noch, dass sie ihn liebt! Dass sie ihn liebt wie keinen anderen!! Verdammt nochmal, ich versteh das nicht!“
Julien zuckte leicht, als hätte er sich plötzlich an etwas erinnert, und fasste sich mit einer Hand an die Stirn.
„Wenn er nicht gewesen wäre, wäre das alles nie passiert!“ Jake holte mit der geballten Faust aus, anscheinend wollte er den Dämon ein weiteres Mal schlagen. „Wenn er…!“
„Hey, werd ja nicht übermütig, Bengel“, sagte Julien auf einmal wieder ruhig und fing den Hieb des Jungen ab, „Glaubst du ernsthaft, ich lass mich noch ein zweites Mal von dir schlagen?“
Jake biss die Zähne zusammen und verzog zornig das Gesicht.
„Aber du hast mich gerade an etwas erinnert“, stellte der Dämon fest, „An etwas, was mein Vater sagte, bevor er aufgebrochen ist, um diese Frau zu holen: ‚Ich hätte nie geglaubt, dass ich mich jemals derartig in eine menschliche Frau verlieben könnte‘. Seine Worte haben für mich wie die eines Geisteskranken geklungen.. Wieso musste ich mir erst den Wutausbruch von einem zu kurz geratendem, pubertierendem Halbblut anhören, um sie zu verstehen?“ Ein kaum erkennbares Lächeln lag auf seinen Lippen.
Jake wirkte daraufhin ziemlich verwirrt und ließ seinen Arm wieder sinken. Ich hatte die Szene lediglich beobachtet. Ich glaubte auch nicht, dass es so etwas schon einmal gegeben hatte. Jemand, der halb Magier und halb Dämon war, stritt sich mit seinem dämonischen Bruder. Selbst wenn ich das jemandem erzählen würde, würde mir das keiner abkaufen. Ich selbst konnte es ja auch kaum glauben.
„Das ist also seiner Liebe zu dieser Elena geworden.“ Julien sah Jake erneut an, aber dieses Mal mit einem weniger harten Blick. Dann seufzte er und wandte sich ab. „Du hast eindeutig zu viel von deiner Mutter, Kurzer.“
„Eh?“ Jetzt war Jake eindeutig verwundert. Dazu schien er auch noch ein wenig rot im Gesicht zu werden. „Wer ist hier kurz?“
„Na du“, erwiderte Julien mit einem leichten Schmunzeln und legte mir einen Arm um die Schultern, „Aber ich denke, es wird ganz interessant sein, dich zu beobachten, kleiner Bruder.“ Das Letzte klang irgendwie spöttisch.
Jake knurrte nur und schien über die Bezeichnung beinahe noch mehr verärgert zu sein als über „Kurzer“.
„Und was soll das hier schon wieder werden?“, fragte ich wenig begeistert und deutete auf Juliens Arm auf meiner Schulter.
„Mir ist nur eingefallen, dass ich dem Bengel besser zeigen sollte, was mir gehört“, antwortete Julien grinsend, „Und dass angucken zwar erlaubt, das Anfassen aber mir vorbehalten ist.“
Ich kniff ihn einfach in den Handrücken, was dazu führte, das er ein ganz klein wenig das Gesicht verzog. Ja, das funktionierte auch bei Dämonen. „Davon wüsste ich aber“, erwiderte ich, „Ich gehöre niemandem und das mit dem Anfassen kannst du dir abschminken.“
Der Tenebare seufzte herzhaft. „Deine Tante hätte dir auch gerne etwas in Sachen Liebe und Beziehungen beibringen können. Was das angeht fehlt es dir nämlich eindeutig an Feinfühligkeit.“
„Du kannst mich mal“, konterte ich trocken, „Und jetzt verschwinde. Du hast bekommen, was du solltest, also zisch ab.“
„Zisch ab?“ Er hob die Augenbrauen. „Meine Liebe, du solltest dringend mal an deiner Ausdrucksweise arbeiten. Eine Lady weiß sich anders zu formulieren.“
„Eine Lady ist das, was ich am wenigsten sein will, wenn du in der Nähe bist“, entgegnete ich genervt.
„Na na, das…“ Julien beugte sich vor, um mich scheinbar auf die Wange zu küssen. Also ehrlich mal, wieso musste der Kerl sich immer an mir auslassen? Das war unfair!
Allerdings ließ die nächste Überraschung nicht lange auf sich warten. Bevor der Dämon mir mit seinem Gesicht zu nahe kommen konnte, wurde ich plötzlich von ihm weggezogen. Jetzt befand ich mich plötzlich in den Armen eines anderen, was mich ziemlich verblüffte, da es nur noch einen anderen Kandidaten in diesem Raum gab.
„Hooo?“ Julien stemmte eine Hand in die Hüfte und sah den Jungen hinter mir mit einem hochmütigen Lächeln an. „Soll das etwa eine Herausforderung sein?“
„Fass sie nicht einfach so an“, erwiderte Jake in drohendem Tonfall, den ich bei ihm gar nicht kannte. Mir wurde dabei nur bewusst, dass anscheinend Jakes reifere Seite das Ruder übernommen hatte und mich an sich zog. „Bohnenstange.“
Einen kurzen Augenblick lang herrschte Stille, dann prustete Julien los und auch mein Gesicht war von einer Mischung aus Belustigung und Überraschung hin und her gerissen. Ich hatte mich geirrt, es war immer noch Tollpatsch Jake, der die Kontrolle über seinen Körper hatte. Für einen Moment hatte er nur glatt wie seine erwachsenere Version geklungen.
Der Dämon schüttelte nur kichernd den Kopf. „Du solltest dir was Besseres einfallen lassen, Kurzer“, sagte er amüsiert, „Na ja, scheint als müsste ich gehen. Über unser Zusammentreffen habe ich glatt die Audienz bei Lucifer vergessen. Es tut mir in der Seele weh, Chris, aber wir werden uns leider für´s Erste wieder trennen müssen.“
„Bye bye Romeo“, sagte ich nur trocken, „Und komm bloß nicht so schnell wieder.“
„Ich werde dich auch vermissen.“ Damit verschwand der Dämon endlich spurlos.
„Wie hast du es neun Jahre lang mit ihm als Vertragspartner ausgehalten?“, fragte Jake resigniert und ließ mich wieder los.
„Normalerweise taucht er nur auf, wenn ich ihn Rufe, wie in den Bergen“, bemerkte ich, „Da er mich meist in gefährlichen Situationen unterstützt hat, hat er mit diesem Theater höchstens danach anfangen können. Aber dass er auch ohne mein Rufen einfach auftauchen kann, beunruhigt mich gerade ein bisschen.“
„Mich auch“, murmelte Jake.
„Apropos.“ Mir fiel da etwas ein. „Was sollte das eben gerade eigentlich?“
Er schien etwas erwidern zu wollen.
„Und vorher noch“, fuhr ich selbst dazwischen, „Julien sagte vorhin ‚Abkömmling einer Reinblutfamilie‘. Jake, könntest du bitte so freundlich sein und mir mal deinen vollen Namen verraten?“
Ein etwas entgleistes Lächeln schlich sich auf seine Lippen.
In dem Moment war über Lautsprecher jedoch die Stimme einer Frau zu hören: „Chris und Jake aus der Ausbildungsabteilung mögen sich bitte zum Büro des Abteilungsleiters für Ausbildung begeben. Ich wiederhole, Chris und Jake bitte zum Büro von Mr Averill.“
Nur knapp drei Minuten später standen wir im Büro von Mr Averill, wobei wir dort, wie ich mir gedacht hatte, nicht den Abteilungsleiter sondern Riley antrafen, der uns schon ziemlich sauer erwartete. Wenn draußen jemand vorbeiging, konnte er ein schönes Theater hören, so laut wie Riley wurde.
„Dir ist natürlich nichts Besseres einfallen, als dich ausgerechnet mit Herrn Dante anzulegen!“, sagte Riley wutschnaubend, „Weißt du eigentlich, was das bedeutet?! Er ist das Oberhaupt der höchst gestellten Reinblutfamilie! Er besucht die Sitzungen der Führungskräfte aller Stützpunkte auf dieser Welt und hat einen ungeheuren Einfluss! Er ist in unserer Gesellschaft praktisch der mächtigste Mann! Und du dumme Göre musstest ihm natürlich drohen!“
„Er war derjenige, der Jake mitten im Flur vor allen fertig machen musste“, erwiderte ich stur wie ich sein konnte, „Außerdem ist das Einzige, was ich wirklich getan habe, ihn an der Krawatte zu ziehen und ein paar Sätze zu sagen. Wenn er das als Bedrohung ansieht, ist das sein Problem.“
„Deswegen hasse ich Teenagergirls, sie sind absolut uneinsichtig“, stöhnte der Ausbilder.
„Haben Sie eine Tochter oder woher wollen Sie das so genau wissen?“
Eine Ader über seinem linken Auge begann zu zucken. „An deinem ersten Tag hier scheinst du wirklich nichts Besseres zu tun zu haben als Kämpfe anzuzetteln.“
„Die ersten zwei haben Sie mir aufgebrummt“, konterte ich, „Dafür kann ich nichts.“
Riley schien kurz davor zu sein vor Wut zu etwas kurz und klein zu schlagen. Stattdessen seufzte er jedoch und schüttelte den Kopf. „Es scheint wirklich gar nichts zu bringen, dich zu rügen“, stellte er fest, „Aber selbst wenn du im Recht sein solltest, steht da eine ganze Horde Anwälte, Bodyguards und nicht zu vergessen seine Familie hinter ihm und erwartet, dass dir eine harte Strafe verpasst wird. Um genau zu sein hat er deinen umgehenden Rausschmiss gefordert.“
Ich sah den Mann verdattert an. Dieser Willam war noch dreister, als ich gedacht hatte.
„Es ist jedoch dein erster Tag hier“, fuhr der Ausbilder fort, „Du bist mit den Regeln noch nicht vertraut und dein Wissen über die heutige Rangordnung und Gesellschaft von uns Magiern weist noch einige entscheidende Lücken auf. Ich konnte Mr Averill davon überzeugen, es bei einem Strafdienst zu belassen. Sei mir gefälligst dankbar, ich hab bis eben noch mit ihm diskutiert, um ihn irgendwie davon zu überzeugen, dich nicht gleich wieder achtkantig rauszuwerfen.“
„Ich wüsste zwar nicht, dass ich einen groben Fehler begangen habe“, seufzte ich, „Aber da Sie anscheinend meinen Rausschmiss verhindert haben, muss ich Ihnen wohl wirklich dankbar sein.“
„Das will ich auch hoffen“, sagte Mr Riley, „Und nun zu eurer Strafe.“
„Eurer?“ Jake sah ein wenig verwirrt aus.
„Ja, ganz recht, du auch, mein Freund.“ Riley sah ihn düster an. „Du hättest dieses vorschnelle Mädchen stoppen sollen, aber weil du es nicht getan hast, wirst du gleich mit bestraft.“
„Nicht wahr…“ Jake ließ den Kopf hängen, schien aber damit leben zu können, wenn ich seine sonstige Körpersprache richtig deutete.
„Ihr beide werdet mich auf meinen nächsten Auftrag begleiten“, sagte der Ausbilder plötzlich, „In einer Gegend etwas weiter draußen hat die Observationsabteilung eine größere Ansammlung niederer Dämonen entdeckt und nach den Aktivitäten in der letzten Zeit können wir stark damit rechnen, dort auch einen Schwarzen Magier anzutreffen.“
„Ähm.. fällt das nicht eher ins Aufgabengebiet der Operationsabteilung?“, fragte Jake.
„Normalerweise ja“, antwortete Riley, „Aber in letzter Zeit ist die Aktivität der Dämonen in fast allen Regionen ziemlich stark angestiegen, weshalb nicht nur die Leute aus der spezifischen Abteilung, sondern auch wir anderen, ausgebildeten Magier immer wieder mit solchen Jobs ausgesendet werden. Auch die Lehrer an eurer und den anderen Schulen werden teilweise für solche Jobs herangezogen.“
Jake und ich sahen ihn beide an. Das, was der Ausbilder da sagte, hörte sich gar nicht gut an.
„Im Augenblick brauchen wir jeden fähigen Magier, den wir kriegen können“, fuhr Riley fort, „Deswegen werden wir auch, sobald wir zurück sind, mit eurer Ausbildung in gesteigertem Tempo fortfahren. Felton arbeitet bereits halb für die Operationsabteilung mit und auch wenn ihr beide mir noch ein wenig Sorgen macht, werdet auch ihr wohl bald eure ersten Aufträge bekommen. Also seht dies einfach schon mal als kleinen Vorgeschmack an.“
„Wir sollen also wirklich mit Ihnen einen Auftrag ausführen?“, fragte ich nochmal, auch wenn mir die Antwort natürlich klar war. Das war weniger eine Bestrafung, sondern viel mehr eine etwas andere Art von Belohnung.
„Ja, übermorgen früh geht es los“, antwortete Riley, „Wir sehen uns aber morgen noch hier, da werde ich euch auch die näheren Informationen geben.“
Wir nickten nur beide.
„Gut, das war´s dann auch erstmal“, seufzte der Ausbilder und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, „Ihr könnt gehen. Und geht dieses Mal bitte direkt nach Hause, ich habe keine Lust heute nochmal so ein Theater zu erleben.“
Am liebsten hätte ich was erwidert, doch ich beließ es bei einem kurzen Abschied und verließ mit Jake zusammen das Büro.
„Am besten wir teleportieren“, bemerkte Jake, „Mit dem Taxi dauert es etwas mehr als zwei Stunden von hier nach Birmingham.“
„Oh na dann.“ Ich zog meinen Zauberstab aus der Tasche meines Mantels. „Zafira, zurück zur Akademie.“
„Yes, my Master“, antwortete der Zauberstab und im nächsten Moment setzte bereits der Teleportationsprozess ein.
„Willst du dich gar nicht umziehen?“, fragte Jake stirnrunzelnd.
„Das tu ich, wenn wir wieder zuhause sind“, erwiderte ich.
Das waren wir im nächsten Augenblick dann auch, obwohl Jake daraufhin ein wenig irritiert wirkte.
„Daltons Büro…“
„Auch wenn anscheinend keiner hier ist“, stellte ich leicht enttäuscht fest, „Ich wollte den Clown noch was fragen.. Und dich sowieso.“
„Oh oh…“
„Du scheinst ja schon zu wissen, was mich brennend interessiert.“
„J-Ja.. ich habe eine starke Vermutung.“
„Also?“
„Ich will sicher gehen, dass wir das Selbe meinen.“
Ich stöhnte. „Bist du wirklich der Sohn von Willam DANTE?“
Er zögerte einen Moment, bevor er antwortete: „Ja, wobei ich ja.. zum Glück nicht einen Tropfen von seinem Blut in mir habe. Meine Mutter Elena, eine entfernte Cousine, war ihm schon als Kind versprochen worden, es ist eine arrangierte Ehe.“
„Und ist eigentlich alles in Ordnung?“, fragte ich und ließ mich dabei auf einen der Stühle vor dem Pult sinken, „Immerhin hast du gerade erfahren, dass du halb Magier halb Dämon bist.“
„Im ersten Moment war ich wirklich erschrocken“, gestand Jake mit einem schiefen Lächeln, „Aber wenn ich genauer darüber nachdenke, bin ich lieber ein halber Dämon als der Sohn von Willam. Ich.. fragte mich nur, was du dazu sagst…“ Jetzt klang er wieder ein wenig unsicher.
Ich sah ihn leicht erstaunt an. „Na ja, ich war auch etwas verwirrt, aber andererseits bist du immer noch Jake, Dämonenblut hin oder her. Was dich ausmacht ist deine Persönlichkeit und nicht deine Abstammung. Und ich bin sowieso ziemlich gut darin geworden überraschende Neuigkeiten einfach hinzunehmen. Auch wenn ich mich frage, ob du als Halbdämon irgendwelche besonderen Fähigkeiten hast.“
„Davon habe ich bisher jedenfalls noch nichts gemerkt“, entgegnete er und obwohl sein Lächeln noch ein Stück schiefer war, wirkte er erleichtert.
„Vielleicht hätten wir das noch Julien fragen sollen“, überlegte ich, „Wenngleich ich froh bin, dass er ein Treffen mit.. Lucifer ist doch der Herrscher von Reiga, oder?“
Das schien Jake auch gerade aufzufallen. „Dein Vertragspartner ist wirklich was anderes. Er muss ja ganz schön wichtig sein, wenn er sich mit dem Herrscher der Dämonenwelt trifft.“
„Jaaa.. bei seinem Pokerface ist es ziemlich schwer ihn zu durchschauen. Auch wenn er trotzdem ein übertriebener Frauenheld bleibt. Ich will nicht wissen, wie er und die anderen Tenebrae sich die Zeit vertreiben.“
„Ich auch nicht.“
„Du kannst übrigens schon gehen“, bemerkte ich, „Du musst doch todmüde sein, nachdem du mich vorhin von den Verletzungen vom Kampf mit Felton erlöst hast. Selbst ich weiß, dass Heilungszauber die Schwersten sind. Außerdem sehe ich dir an, dass du gleich im Stehen einschläfst.“
„Wirklich?“ In dem Moment gähnte er auch noch und die Katze war endgültig aus dem Sack. „Dann entschuldige mich bitte, ich hätte sonst mit dir gewartet.“
„Kein Problem“, wehrte ich lächelnd ab, „Sieh zu, dass du ins Bett kommst.“
Damit verließ er den Raum, auch wenn er vorher noch über seine eigenen Füße stolperte, deswegen gegen einen der Schränke lief, sich dabei Kopf und Knie stieß und anschließend noch voll gegen die Tür rannte, bevor er leicht schwankend endlich nach draußen kam. Ich konnte mir ein schiefes Lächeln nicht verkneifen. Er war wirklich ein Tollpatsch.
So verbrachte ich knapp zehn Minuten damit das Büro mit meinen Augen zu untersuchen. Zu gerne hätte ich auch mal in die Akten geblickt, doch bei meinem Glück kam Dalton genau dann zurück, wenn ich gerade meine Nase in einen der Ordner steckte. Daher ließ ich das lieber. Herausfordern wollte ich diesen unberechenbaren Erwachsenen lieber nicht.
„Oh wie komme ich denn dazu?“
Als ich überrascht hinter mich blickte, stand dort plötzlich Dalton. Hätte er nichts gesagt, hätte ich ihn wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Dieser komische Kauz mit den schrägen Klamotten konnte manchmal wirklich gruselig sein.
„Ausgerechnet du erwartest mich“, sagte Dalton und wanderte hinter den Schreibtisch, um sich auf seinen Sessel zu setzen, „Wie war denn dein erster Tag?“
„Abenteuerlich“, antwortete ich kurz angebunden, „Ich würde auch ausführlicher werden, aber mein Gefühl sagt mir, dass Sie eh schon alles wissen.“
„Du hast eine gute Intuition“, stellte der Direktor grinsend fest und zog einen Lolli aus seinem Zylinder.
„Das war abzusehen, soweit kenne ich Sie inzwischen“, murmelte ich resigniert.
„Du und Jake geht also in zwei Tagen mit Riley auf einen Ausflug.“ Er wickelte das Papier ab und steckte sich den runden Lolli in den Mund, „Also werdet ihr auch eine Weile im normalen Unterricht fehlen, dafür werden wir uns wieder plausible Gründe einfallen lassen müssen. So ein Ärger.“
„Hmhm.“ Das war mir ziemlich egal. „Aber nun zu dem Grund, weshalb ich mir überhaupt die Mühe gemacht habe hier zu warten.“
„Ich bin ganz Ohr.“ Das sagte er, während er gleichzeitig eine Zeitung aus seinem Hut zog. „Die Londoner Regionalzeitig ist wesentlich spannender als unsere. Wenn du willst, kann ich sie dir mal ausleihen.“
Ich war kurz davor etwas ziemlich Ungehobeltes zu sagen, doch ich konnte es mir gerade eben noch verkneifen. „Da Tantchen es vorgezogen hat, mich nicht über die heutige Gesellschaft aufzuklären, habe ich leider keine andere Wahl, als Sie zu fragen.“ Nach der ganzen Geschichte heute, war mir nicht danach gewesen Riley ein weiteres Mal aufzuregen, mit dem Typen hatte ich mich fürs Erste genug angelegt. „Die Reinblutfamilien.. Ich weiß immerhin, dass sie ziemlich wichtig sind, aber warum genau werden sie so.. hoch geachtet?“
„Deine Tante hat dir wirklich nichts über die heutige Ordnung erzählt, oder?“ Das Spatzenhirn sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
„Nein“, erwiderte ich, „Scheinbar hat sie versucht mich aus dem ganzen Gerangel herauszuhalten und vor irgendetwas zu schützen.“
Bei den letzten Worten wurde Daltons Gesichtsausdruck plötzlich ernst und er zögerte erst einen Moment, bevor er antwortete. „Hier bei uns Magiern haben die mit der größten Macht das Sagen“, erklärte er und sah mich mit einem durchdringenden Blick an, „Und die Magier mit den größten Kräften sind die mit einem hohen Anteil Magierblut in sich. Sie haben einfach von Natur aus die Gabe Magie ohne weitere Schwierigkeiten oder große Hilfsmittel zu verwenden. Auch haben sie verdammt viel Kraft und können damit in Kämpfen länger durchhalten. In ihnen liegt das größte Potenzial, weshalb sie einen hohen Status haben, der dem eines Grafen oder Fürsten gleichkommt. Damit haben sie auch bei wichtigen Entscheidungen ein Mitspracherecht und ziemlich viel Einfluss.“
Also stimmte meine Vermutung – nach Rileys Vortrag – tatsächlich.
„Es gibt heute noch drei Magierfamilien, die sich die ganzen Jahrhunderte über durch eine Linie aus reinblutigen Magiern auszeichnen“, fuhr Dalton fort, „An dritter Stelle steht von der Macht her die Walker-Familie und an zweiter Stelle die Dante-Familie, Jakes Familie, wie du wohl inzwischen wissen dürftest. Die Spitze hat die ganze Zeit über die Familie MacAlister gehalten, bevor die Schwarzen Magier mit einem Angriff die Erben Roseka und Alan getötet haben. Da deine Tante mit dir geflohen und spurlos verschwunden ist, ist das Gerücht aufgekommen, dass die Familie nicht mehr existiert.“
Ich hatte zwar gewusst, dass ich aus einer ziemlich wichtigen Familie kam, doch Rosebad hatte mir nie gesagt, dass die MacAlister an der Spitze der Reinblutfamilien standen. Das war mir völlig neu.
„Du verstehst, welche Macht die MacAlister auch im Ministerium für magische Künste hatten.“ Sein Blick war ernst und er betrachtete einen blauen Saphir in seiner Hand. „Die an zweiter Stelle stehende Familie Dante, besser gesagt ihr Oberhaupt Willam Dante, hat aber in dem Tod von Roseka und Alan seine Chance gesehen an die Macht zu kommen. Die Familie hat innerhalb der letzten elf Jahre einen irrsinnigen Einfluss gewonnen und auch die beiden älteren Söhne von Herrn Dante sind schon dabei ihrem Vater zu folgen, sie haben bereits ziemlich hohe Positionen im Stützpunkt Glasgow und werden wohl bald in deren Führungsabteilung befördert werden. Und wenn sie dort erstmal die Leitung übernommen haben und damit an den Sitzungen aller Führungskräfte aller Stützpunkte auf dieser Welt teilnehmen dürfen, wird es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Familie endgültig die Herrschaft über das Ministerium und damit alle Magier gewinnt. Seitdem die MacAlister nicht mehr über ihnen stehen und damit den Machtwahn von Willam Dante ausbremsen, gibt es keinen mehr, der ihn aufhalten kann.“
„Sie wollen, dass ich ihn stoppe und mich dafür als Erbin der reinblutigen MacAlister zeige?“, vermutete ich. Der Gedanke war meinem Kopf ganz plötzlich entsprungen. Ich wusste nicht, woher er so plötzlich kam. Aber ich war mir irgendwie ziemlich sicher, dass es auf so etwas hinauslaufen würde.
„Ich will, dass du die Entwicklungen selbst im Auge behältst“, erwiderte Dalton und ich staunte, dass ich tatsächlich in gewisser Weise Recht hatte, „Ich selbst werde ebenfalls aufpassen und dir notfalls unter die Arme greifen. Denn du bist als Erbin der mächtigsten Reinblutfamilie die Einzige, die die Dantes im Notfall auch ohne Gewalt wieder auf ihre Plätze zurückweisen kann – wenn sie es mit ihrem Einfluss allzu sehr übertreiben und auf komische Ideen kommen – da ihr Platz im obersten Rat des Ministeriums eigentlich dir gehört. Zumindest der von Willam persönlich.“
Okay, das mit dem Sitz im obersten Rat erstaunte mich jetzt ziemlich. Allerdings lagen mir solche Positionen nicht, daher hoffte ich, dass es nie so weit kommen würde.
„Du solltest achtsam sein“, mahnte der Clown, fast als hätte er meine Gedanken gehört, „Du weißt nie, wo der Feind sich verbirgt. Er kann direkt neben dir sitzen, ohne dass du etwas davon merkst. Deine besten Freunde können sich plötzlich als deine Feinde entpuppen. Wenn irgendjemand, der mit Dante in Verbindung steht, verfrüht herausfinden sollte, dass die MacAlister doch noch eine Erbin haben, wirst du in großer Gefahr schweben. Auch die Leute um sich betrifft das…“
„Was.. Was soll das?“, fragte ich irritiert. Das war ja fast so, als würde er mir drohen, dass bald etwas passieren würde. In so ernstem Tonfall klang das wirklich fast wie eine Prophezeiung. Ob er etwas wusste?
„Hmmm…“ Er legte den Kopf schief und schien mich akribisch zu mustern. „Du solltest etwas weniger essen, sonst wirst du bald ein kleines Pummelchen werden.“
„W.. Haaah?“ Dazu fiel mir ehrlich nichts ein.
„Keine Sorge, ein bisschen weniger Süßigkeiten und mehr Sport, dann besteht keine Gefahr“, grinste er, was mit dem Lollistiel in seinem Mundwinkel so schön dämlich aussah.
„Ich esse keine Süßigkeiten“, erwiderte ich trocken, „Und Sport habe ich bei weitem genug. Aber ich verstehe schon, dass Sie nicht fortfahren wollen. Ich habe auch keine Lust mehr, also einen schönen Tag noch.“ Den Raum hatte ich schneller verlassen, als er gucken konnte.
„Und weg ist sie“, seufzte Dalton und holte den zweiten Edelstein aus der Schublade, „Hoffentlich nimmt sie die Warnung ernst. Die Vorbereitungen sind so gut wie abgeschlossen.. ich bin gespannt, was unsere Anführer planen. In jedem Fall hat es etwas mit dem Jungen zu tun, auch wenn sie die letzten Male versagt haben ihn zu fangen. Das wird bestimmt kein weiteres Mal passieren, jetzt wo sie fast alle ihre Leute in Position gebracht haben.“
Er betrachtete den Rubin in seiner Hand. „Hoffentlich ist euer Juwel gut genug geschliffen worden, denn vor ihr liegt eine harte Prüfung.. Roseka, Alan, erlaubt mir wenigstens eure Tochter zu retten…“
Der Unterricht am nächsten Morgen schien im Gegensatz zu den ganzen Erlebnissen am Vortag so langweilig, dass ich kurzzeitig sogar während Herr Smiths mathematischen Ausführungen zu Wurzeln wegnickte und erst beim Klingeln zur Pause wieder aufwachte. Gut, dass ich auch aufrecht dösen konnte, sofern man mich nicht anstieß, ansonsten hätte es Ärger gegeben.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Susan besorgt, als wir draußen unter einem Baum saßen und den Schatten genossen, da es in der Sonne ganz schön warm war.
„Klar“, sagte ich und gähnte nur. Langsam kam mir der Verdacht, dass ich mich gestern doch etwas verausgabt hatte. Seit langem mal wieder. Anstatt das schlecht zu finden, freute ich mich jedoch fast darüber – auch wenn es doch nervig war alle naslang zu gähnen.
„Hast du nicht viel geschlafen?“, fragte July neugierig, „Oder ist bei deinem Job etwas passiert? Und als was arbeitest du eigentlich? Du hast uns immer noch nichts darüber verraten.“
„Das werde ich auch nicht.“ Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen.
„Kann es sein, dass du so etwas wie eine Geheimagentin oder Spionin bist?“, fragte July begeistert. Sie war eindeutig voll in ihrer Fantasie versunken. „Wenn das so ist, kannst du natürlich nichts sagen. Das wäre ja fast so etwas wie Vaterlandsverrat.“
„Na, so schlimm wäre das nun auch nicht“, bemerkte ich resigniert. Vielleicht war es aber auch einfacher, wenn die drei so etwas annahmen. Dann würden sie wenigstens aufhören mich darüber Löcher in den Bauch zu fragen.
„Ist nicht wahr, du arbeitest wirklich für einen Geheimdienst?“, fragte nun auch noch Clare aufgeregt, „Für welchen? Und was sind deine Aufgaben? Wie sieht es da drin aus? Ich hab bisher nur Filme wie James Bond gesehen, aber ich glaube nicht, dass das alles der Wahrheit entspricht. Wie ist es so ein Geheimagent zu sein?“
„Schhh!“ July drückte ihr eine Hand auf den Mund. „Das darfst du doch nicht so laut sagen. Es ist immerhin geheim. Außerdem kann sie uns darüber doch gar nichts sagen.“
Mein Gesicht musste gut ausgesehen haben. Pure Ungläubigkeit über so viel Fantasie und Naivität. Die beiden waren echt eine Marke für sich.
Susan sah mich nur schmunzelnd an. „Ich glaube nicht, dass es etwas so geheimnisvolles ist“, bemerkte sie leise, „Aber ich glaube, die beiden sind mit ihrer Vorstellung von dir als Geheimagentin so glücklich, dass sie uns eh nicht zuhören werden.“
„Das denke ich auch“, seufzte ich. Dann hörte ich ein unterdrücktes Kichern und als ich einen Blick um den Baumstamm warf, ging da gerade Jake vorbei. Ich verwettete mein Mittagessen darauf, dass er uns gehört hatte.
„Ja ja, lach nur, du Tollpatsch“, sagte ich resigniert, „Hast du wenigstens ausgeschlafen oder muss ich damit rechnen, dass du heute noch öfter so auf Kollisionskurs gehst wie gestern?“
Jake grinste, ehe er plötzlich über einen Stein stolperte und der Länge nach auf dem Boden aufschlug. Stolpern mit anschließendem Hinfliegen schien seine Lieblingsbeschäftigung zu sein, auch wenn ich mich fragte, wie er das bei der Häufigkeit ohne größere Verletzungen hinbekam.
Susan, July und Clare, die auf meine Frage hin damit aufgehört hatten über mein Dasein als Geheimagentin zu diskutieren, sahen den Jungen nur ein wenig verwirrt an.
Ich schüttelte lediglich den Kopf und lud ihn ein sich zu uns zu setzen, was meine drei Freundinnen zwar zunächst verwirrte, doch schon nach wenigen Minuten verstanden sie sich ziemlich gut mit dem Tollpatsch und keiner hatte mehr etwas gegen seine Anwesenheit. Später nach dem Mittagessen verabschiedeten wir uns dann voneinander, wobei Jake und ich zuerst in verschiedene Richtungen gingen und uns erst wieder trafen, als die Mädchen außer Sichtweite waren. Schließlich musste man gerade Julys Fantasie nicht allzu viel extra Stoff geben.
Zafira teleportierte uns rüber zum Stützpunkt, wo wir uns als erstes mal auf die Suche nach Riley machten. Dabei kamen wir allerdings durch beinahe alle Abteilungen, weil der Typ scheinbar von einer zur nächsten rannte und es uns einfach nicht gelang aufzuholen.
„Meine Güte, ist es immer so schwer ihn zu fassen zu bekommen?“, fragte ich resigniert.
„Gelegentlich“, antwortete Jake schmunzelnd, „Er tut zwar während des Trainings immer so ungenießbar, aber er ist eigentlich ganz nett. Ich hab noch nie erlebt, dass er eine ehrliche Bitte ausgeschlagen hat. Und da die meisten das gleich ausnutzen, kommt er an manchen Tagen ganz schön rum.“
Ich fragte mich, ob es vielleicht seine nette Seite gewesen war, die ich bei unserem ersten Treffen kennengelernt hatte. Riley war ganz schön schräg – auch wenn er mit Dalton natürlich nicht mithalten konnte, der Clown spielte in einer anderen Liga.
„Na ja, beim Training und allem, was seinen Job als Ausbilder betrifft, ist er allerdings so, wie du ihn kennst“, bemerkte Jake, bevor er plötzlich stolperte und mit dem Kopf voran gegen eine Tür rannte.
Ich hob nur eine Augenbraue und verkniff mir gleichzeitig ein Lächeln.
„Aua“, murmelte Jake und rieb sich die Stirn.
In dem Augenblick wurde die Tür plötzlich geöffnet, woraufhin Jake und mir kurzzeitig die Gesichtszüge entgleisten.
„Oh, was für eine Überraschung“, stellte Lyon fest und lächelte breit, „Ich hätte nicht erwartet, dass wir uns so bald wiedersehen.“
Verflucht, mir war gar nicht aufgefallen, dass wir uns inzwischen auf dem Stockwerk der Leitungsabteilung befanden. Außerdem kannte ich dieses Lächeln, es war so was von verdächtig.
„Wir auch nicht“, erwiderte ich und sammelte meine Gesichtszüge wieder ein.
Jake wirkte genauso begeistert.
„Wollen wir nicht zur Kantine gehen und ein bisschen plaudern?“, fragte der Vizechef grinsend.
„Chef Lyon“, sagte einer der Männer, die noch hinter ihm standen, weil er die Tür blockierte, „Sie haben in wenigen Minuten eine Videokonferenz mit Mr Lonefield und…“
„Sagen Sie ihm einfach, dass ich noch ein wichtiges Treffen habe“, erwiderte Lyon und schob mich und Jake bereits den Gang runter, „Es wird nicht lange dauern, Sie müssen ihn nur etwa eine Viertelstunde hinhalten.“ Dabei grinste er auch noch.
„Vize…!“
Damit waren wir auch schon um die nächste Ecke und die armen Männer blieben zurück. Ehrlich gesagt taten sie mir richtig leid. Ich würde nicht direkt für diesen Mann arbeiten wollen, selbst wenn man mich noch so gut bezahlen würde.
„Und Sie sind wirklich der Vizechef hier“, murmelte ich resigniert, „Wie haben Sie das mit dieser Arbeitshaltung nur geschafft?“
„Verbindungen“, erwiderte Lyon schmunzelnd, „Alles Verbindungen, meine liebe Chris.“
„Und reden Sie nicht so vertraut“, konterte ich, „Ich kann Sie nach wie vor nicht leiden.“
„Ich weiß“, entgegnete er, „Genau deswegen find ich dich ja so schnuckelig.“
Das war zu viel. Mich als „schnuckelig“ zu bezeichnen verdiente die Todesstrafe! Wütend drehte ich mich um und trat nach seinem Schienbein. Nur dummerweise war Jake schneller als ich. Er traf den von dem doppelten Angriff etwas überraschten Mann sogar mit einem kräftigen Tritt, allerdings geriet er anschließend selbst aus dem Gleichgewicht und purzelte nach hinten. Und wer stand völlig unvorbereitet hinter ihm? Natürlich ich, wer auch sonst? Und wie sollte es auch anders sein, als dass ich von seinem Schwung umgehauen wurde und mit ihm zusammen hintenüberfiel.
„Großartig.“ So viel zu meinem Plan Lyon sein Mundwerk zu stopfen. Jetzt lag ich unter Jake und kam mir vor wie ein eingequetschtes Sandwich.
„Ihr seid wirklich zu süß“, bemerkte Lyon schmunzelnd, der vor uns hockte und einen ziemlich belustigten Gesichtsausdruck hatte. Scheinbar hatte ihm der Tritt nicht sehr viel ausgemacht, an seiner Widerstandsfähigkeit schien sich genauso wenig geändert zu haben wie an seinem Aussehen. Auch wenn seine hellblonden Haare meines Erachtens ein kleines Stück länger waren als früher, aber ansonsten hatte er sich nicht verändert. Nicht eine Falte. Zu dumm auch. Und das blöde schwarze Karo auf seiner Wange grinste auch noch so dämlich wie früher. Wer ließ sich bitteschön das Symbol eines Kartenspiels auf die Wange tätowieren?
„Was zum Teufel tut ihr da?!“
Jake und ich blickten nach hinten, wo Felton stand und uns ziemlich schockiert anstarrte.
Das machte mich wieder auf etwas aufmerksam. „Würde es dir etwas ausmachen langsam mal von mir runterzugehen?“
„Äh.. sorry.“ Jake rappelte sich schleunigst wieder auf, wobei ich eine leichte Röte in seinem Gesicht entdeckte.
„Danke sehr“, sagte ich und setzte mich erstmal gerade hin. Mir fiel dabei auch Lyons amüsierter Blick auf, da er noch neben mir hockte, wodurch seine langen Haare fast den Boden berührten. „Ist was?“
„Hmmm.. ich frage mich immer noch, zu wem das gehört“, murmelte er grinsend. Seine smaragdgrünen Augen glänzten richtig, als hätte er etwas ziemlich Geheimnisvolles entdeckt und wollte ihm jetzt auf den Grund gehen. Es war noch verdächtiger als sein Lächeln.
„Wovon bitteschön sprechen Sie?“, fragte ich argwöhnisch.
„Willst du schon wieder Ärger machen?“, fragte Felton zornig. Das war wohl an mich gerichtet, anscheinend hatte er von dem Theater gestern gehört. „Du hast echt keine.. Vizechef…“ Er schien den Erwachsenen neben mir erst jetzt zu erkennen.
„Hi“, grinste Lyon nur und stellte sich wieder hin, wodurch er den jungen Mann fast um einen Kopf überragte. Heiliger, warum mussten eigentlich alle immer so verdammt groß sein?
Ich wollte gerade ebenfalls aufstehen, als Jake mir auf einmal mit einem leicht zerknirschten Lächeln die Hand hinhielt. Immerhin schien er zu wissen, dass ich meine Rache lieber selber ausführte, schön dass er es begriffen hatte. Darum ließ ich mir von ihm aufhelfen und bemerkte Feltons irritierten Blick, der zwischen uns und Lyon hin und her wanderte.
„Ich wollte die beiden gerade zu einem netten Plausch einladen“, sagte der Vizechef mit seinem üblichen Grinsen, „Möchtest du dich nicht auch dazugesellen?“
Nein danke, dachte ich nur mit aller Macht. Mir reichte ein anwesender Kerl, den ich nicht leiden konnte. Ich brauchte weiß Gott nicht noch einen.
„Äh.. tut mir leid.. ich bin auf dem Weg zu einem Auftrag.. Sir“, brachte der junge Mann stockend hervor. Ich hätte nicht gedacht ihn mal so perplex zu sehen. Die Chefs mussten ja wirklich hoch angesehene Leute sein. Zumindest hoch angesehen von denen, die Lyons richtige Persönlichkeit nicht kannten. Dann würde das definitiv anders aussehen.
„Na so was“, seufzte Lyon in theatralischer Manier, „Da kann man wohl nichts machen. Viel Erfolg bei deinem Auftrag.“
„V-Vielen Dank, Sir!“
Felton schien sogar vergessen zu haben, dass Jake und ich auch noch da waren und alles sahen, einschließlich seines gerade ziemlich peinlichen Benehmens. Ich unterdrückte schnell ein Kichern und sah zur Seite. Daraufhin lief der Magier ein wenig rot an und sah zu, dass er Land gewann, auch wenn er mir noch einen vernichtenden Blick zuwarf.
„Ein netter Freund, den ihr da habt“, stellte Lyon belustigt fest, „Sollen wir dann?“
„Ist es möglich, diese Einladung abzulehnen?“, fragte ich.
„Nein.“
„Wieso wusste ich das?“
„Weil du ein schlaues Mädchen bist.“
„Aber wir haben was zu tun“, erwiderte Jake, „Wir suchen unseren Ausbilder.“ Gut gemacht, das rettete uns vielleicht.
„Riley?“ Lyon hob eine Augenbraue. „Der kommt da hinten gerade.“
Als wir uns umdrehten, entdeckten wir tatsächlich den Mann mit dem kurzen, hellbraunen Haar, welcher uns in dem Moment ebenfalls erspähte. Allerdings wurde sein Gesichtsausdruck plötzlich ein wenig düster und ich wurde das Gefühl nicht los, dass er auf einmal sauer war. Mit schnellen Schritten stand er neben mir und Jake und zog uns beiden an den Ohren.
„Tut mir sehr leid, wenn die zwei schon wieder etwas angestellt haben, Vizechef“, sagte Riley ernst, „Ich werde in Zukunft besser auf sie achten.“
Wir sahen ihn alle drei etwas verwirrt an, ehe Lyon plötzlich lachte.
„Sie müssen sich nicht entschuldigen“, bemerkte er amüsiert, „Ich war derjenige, der die beiden zu einem kleinen Plausch eingeladen hat. Und das nicht, weil sie etwas angestellt haben, sondern weil ich neugierig bin, was sie in den letzten Jahren so gemacht haben.“
Jetzt wirkte Riley ziemlich perplex, wobei er auch endlich unsere Ohren wieder freigab. Das hatte wehgetan!
„Nicht wahr, ihr zwei?“
„Ja.“ Wir klangen beide nicht allzu begeistert.
„Vizechef!“ Da kam einer seiner drei Sekretäre – für die ich die Männer jetzt einfach mal hielt, die ihm ständig auf den Fersen waren – angelaufen und blieb keuchend stehen. „Bitte, wir können.. Herrn Lonefield nicht länger besänftigen.. Sie müssen sofort kommen!“
„Hm?“ Lyon wirkte nicht allzu erfreut. „Ich habe gerade ein wichtiges Gespräch…“
„Gehen Sie gefälligst ihren Pflichten nach!“, riefen Jake und ich gleichzeitig. Das war die Gelegenheit ihn loszuwerden.
Der Vize sah uns einen Augenblick lang enttäuscht an, ehe er seufzte. „Na schön“, stöhnte er.
„Gott sei Dank.“ Der arme Sekretär schien ganz schön erleichtert zu sein.
Jedoch beugte sich Lyon noch einmal vor, sodass er mit seinem Kopf direkt zwischen dem von Jake und mir war. „Aber ihr zwei solltet aufpassen“, flüsterte er plötzlich mit vollkommen ernster Stimme, „Die Erde mit ihrem vielen Licht ist trügerisch, man weiß nie, was sich in den Schatten verbirgt und auf einen lauert. Besonders auf euch zwei…“
Ich war so verblüfft, dass mir darauf nichts einfiel. Das war jetzt schon die zweite Warnung, die ich innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu hören bekam, und Jake wirkte ebenfalls erschrocken. Langsam bekam ich wirklich das Gefühl, dass wir bald große Probleme bekommen würden.
In dem Moment richtete sich der Vizechef wieder auf und zerzauste uns plötzlich die Haare. „Viel Glück euch beiden“, grinste er, bevor er sich zu dem nervösen Sekretär umdrehte und ihm folgte.
„Was…“
„War das?“, beendete Jake meine Frage und unsere Blicke trafen sich. Irgendetwas ging hier vor, wie uns allmählich klar wurde.
„Ich wusste gar nicht, dass ihr unseren Vize persönlich kennt“, stellte Riley auf einmal in skeptischen Ton fest. Es war nur allzu deutlich, dass ihn das sehr interessierte.
„Er ist ein lebendiger Alptraum“, erwiderte ich und verscheuchte schnell die unguten Gedanken. Darüber konnte ich mir wann anders den Kopf zerbrechen.
„So?“ Der Ausbilder hob eine Augenbraue.
Zum Glück konnten wir bald das Thema wechseln und kamen auf den morgigen Auftrag zu sprechen. Wir würden uns um neun hier treffen – Dalton hatte bereits arrangiert, dass Jake und ich vom Unterricht befreit waren – und dann sofort aufbrechen. Da die Dämonen sich auf einem weiteren Areal verteilt hatten, würden wir wohl auch eine Weile herumwandern müssen, daher sollten wir uns entsprechend ausrüsten. Es war nicht ganz klar, wie lange wir brauchen würden bis wir alle Dämonen vernichtet hatten, aber wir sollten wohl lieber mit einem langen Tag rechnen. Na ja, war jedenfalls interessanter als der Unterricht in der Akademie.
„Gut, wir nähern uns dem Bereich, in dem sich die Dämonen mit ziemlicher Sicherheit befinden“, sagte Riley mit einem Blick auf den Bildschirm, der frei über seiner Armbanduhr schwebte und im Augenblick eine Karte der Umgebung zeigte. Magisches Equipment aus der Entwicklungsabteilung, nicht im normalen Handel erhältlich. Ich musste über meinen eigenen gedachten Kommentar grinsen.
„Ich hoffe, ihr habt beide eure Zauberstäbe dabei.“ Er trug heute über dem hellblauen Oberhemd den für Aufträge üblichen, weißen Mantel, auch wenn die der Jungen lange Ärmel hatten. Ich selbst trug auch die Klamotten vom M.f.m.K. und Jake ebenfalls. Allerdings hatte er auf den Mantel verzichtet und trug nur das weiße Oberhemd mit den dreiviertellangen Ärmeln und den schwarz gefärbten Rändern zu der langen, dunkelgrauen Hose.
„Natürlich“, sagte Jake nur lächelnd.
„Für wie blöd halten Sie uns eigentlich?“, fügte ich noch hinzu.
„Bei euch beiden weiß man nie“, erwiderte der Ausbilder, „Und Jake, nimm´s mir nicht übel, aber bitte versuch nicht zu sehr in die Kämpfe zu geraten.“
„Jawohl.“ Er schien es mit Fassung zu tragen.
„Sie hatten vorgestern auch Schwarze Magier erwähnt“, bemerkte ich, „Werden wir auf welche stoßen?“ Vielleicht konnte ich bei der Gelegenheit endlich herausfinden, wer von denen für den Tod meiner Eltern verantwortlich war. Zwar hatte ich eh vor dem ganzen Pack in den Hintern zu treten, doch die Verantwortlichen wollte ich mir besonders vorknöpfen.
„Es ist möglich, aber nicht sicher“, antwortete Riley.
„Sie kommen.“
Ich sah Jake einen kurzen Augenblick lang überrascht an, ehe ich begriff. „Operation-Mode, Zafira!“, rief ich schnell und der Rosenanhänger begann zu leuchten.
In dem Moment gab Rileys Uhr auch ein warnendes Piepsen von sich und schaltete auf ein Radar um, wo sich dieser Stelle jede Menge rote Punkte näherten.
„Wie schön, anscheinend bleibt uns das Suchen erspart“, lächelte ich und hob meinen Zauberstab, „Zafira, wir werden reichlich zu tun haben, also sei ein guter Junge und bleib aufmerksam.“
„Yes, my Master“, erklang die enthusiastische Stimme aus meinem Stab und ich grinste noch breiter. Ein wenig Abwechslung im Alltag tat gut. Außerdem hatte ich gerade irgendwie irrsinnige Lust ein paar Dämonen zu bekämpfen. Vielleicht hatte ich ein wenig überschüssige Energie, jedenfalls war ich schon fast aufgeregt.
Riley sah mich einen Moment lang leicht überrascht an, ehe er kaum erkennbar lächelte. „Du solltest nicht so fröhlich klingen“, warf er ein, „Xerxes, aktiviere Kampfmodus!“
„Zu Befehl“, erklang daraufhin eine tiefe, metallische Stimme, die sich aber von denen von Zafira und Aron unterschied, und eine schwarze Pistole tauchte vor dem Ausbilder auf.
In dem Augenblick stürzte sich von links eine ganze Herde niederer Dämonen auf uns und wir wurden getrennt. Na ja, ich hatte schon damit gerechnet, dass wir nicht die ganze Zeit zusammenbleiben würden. Immerhin lautete der Auftrag die Dämonen zu vernichten und das funktionierte einzeln sowieso besser.
Daher war ich nicht weiter überrascht und machte mich daran einen Dämon nach dem anderen zu vernichten, dass ich bald immer wieder von dem rot glitzernden Staub umgeben war und dahinter noch mehr Dämonen sah. Ich war froh, dass ich Zafira auf dem Weg hierher noch einige kürzere und weniger energieverschlingende Zauber beigebracht hatte, sonst wäre das ziemlich anstrengend geworden. Auch wenn ich zwischenzeitig, wenn es mir allzu eng wurde, trotzdem gerne zu den Stärkeren griff.
Das letzte Mal in den Bergen mit dem Blumenkurs waren wir von einer ähnlichen Meute attackiert worden, doch komischerweise war ich heute nicht mal annähernd so beunruhigt wie zu dem Zeitpunkt. Hatte ich mich wieder an solche Arten von Auseinandersetzungen gewöhnt? Oder lag es an der Anwesenheit der anderen zwei, die ich im Augenblick aus den Augen verloren hatte? Dabei fiel mir auf, mein Hirn spuckte schon wieder schräge Gedanken zu unpassenden Zeitpunkten aus.
„Oh Mann, das war ja ein Ansturm“, stöhnte ich. Gerade war es mir gelungen die letzten Dämonen von dem Schub zu vernichten. Allerdings fiel mir auf, dass ich mich dabei etwas von der Stelle von vorhin entfernt hatte, ich hörte zwar Kampfgeräusche, aber Riley und Jake schienen beide etwas weiter rechts zu sein. Besser ich gesellte mich wieder zu ihnen.
„Was haben wir denn da?“ Plötzlich stand keine zehn Meter entfernt jemand, der in einen langen, schwarzen Umhang gehüllt war, welcher mal wieder nichts von dem Aussehen und der Figur des Trägers preisgab. Einzig die Stimme verriet, dass ich hier mal wieder einen männlichen Kandidaten der Schwarzen Magier vor mir hatte.
„Jemand, der zum Aufräumen geschickt wurde“, erwiderte ich und lächelte leicht.
„Hm, das hört sich interessant an“, sagte der Schwarze Magier, „Eine kleine Aufwärmübung schadet nie.“
„Sie tun gut daran mich nicht zu unterschätzen“, bemerkte ich.
Ein heimtückisches Lächeln stahl sich auf die Lippen meines Gegenübers. Er hatte eindeutig etwas geplant. Jedoch hörte ich plötzlich einen überraschten Laut und drehte mich augenblicklich um, auch wenn ich den Jungen durch die Bäume hindurch nicht sehen konnte.
„Jake…“ War ihm etwas passiert?
„Obscura eius vires quae ego mando vobis magi Obstupefio.“
Ich drehte mich erschrocken wieder um. Verdammt, ich war zu langsam!
„In nomine Lucifer princeps magnus, tenent signatum copiis in secula seculorum“, sprach der Schwarze Magier schnell den Spruch zum Verschließen sämtlicher magischer Kräfte seines Gegners – welcher zu den verbotenen Zaubern gehörte –zuende.
Bevor ich etwas dagegen tun konnte, spürte ich die Taubheit in sämtlichen Gliedern und sank wie ein nasser Sack in mich zusammen. Da ich es gewöhnt war, dass die Magie ähnlich wie Blut durch meinen Körper floss, führte der Verschluss meiner Kräfte zu diesem unschönen Nebeneffekt, der mich endgültig hilflos werden ließ. Gerade gegen mich als Reinblut, die ich eine hohe Konzentration von magischen Kräften schon fast brauchte, war das einer der effektivsten Zauber. Dieser Bastard hatte mich voll erwischt.
Jake zuckte zusammen, ehe er nach links blickte. In dem Augenblick gingen zwei Schüsse knapp an seinem Gesicht vorbei und trafen zwei Dämonen, die ihn gerade hatten angreifen wollen.
„Pass gefälligst besser auf“, schnauzte Riley und schoss mit magischen Kugeln bereits auf die nächsten Dämonen.
„Kannst du Chris´ Zustand überprüfen?“, fragte Jake ernst.
Der Ausbilder sah ihn für einen kurzen Moment verwirrt an, ehe er einen Knopf auf seiner Armbanduhr drückte und der Bildschirm daraufhin wechselte. Sein Gesicht wurde beinahe augenblicklich blass. „Hast du das geahnt?“, fragte er ungläubig, „Die Sensoren von ihrem Zauberstab zeigen kein Fünkchen magische Kraft mehr an.“
Jakes Augen weiteten sich.
Ich verzog das Gesicht, als der Schwarze Magier neben mich trat. Sein überhebliches Grinsen regte mich verdammt auf und ich überlegte fieberhaft, wie ich mich aus dieser misslichen Lage befreien konnte. Mit versiegelter Magie fiel es mir jedoch schon schwer mich überhaupt zu bewegen, was dazu führte, dass ich im Augenblick eine perfekte Zielscheibe darstellte. Verflucht, das erste Mal fand ich es wirklich ungeheuer unpraktisch reinblutig zu sein.
„So schnell stopft man vorlauten Gören das Mundwerk“, höhnte er, „Auch wenn ich nicht erwartet hätte, dass es so gut funktioniert. Gehörst du etwa zu den Familien mit höherem Anteil Magierblut?“
Am liebsten hätte ich ihm vors Schienbein getreten. Und zwar richtig mit Schmackes!
Sein Grinsen wurde noch breiter und er richtete seinen Zauberstab auf mich. „Igniculus“, sagte er in genüsslichem Tonfall.
Als der Funke meine Magengegend traf, unterdrückte ich mit aller Macht den Drang zu schreien. Es war ein einfacher, aber gerade aus der Nähe sehr effektiver Zauber um einem Schmerzen zuzufügen. Ich verzog das Gesicht und stöhnte leise.
„Hnhn, das macht wirklich Spaß“, stellte der Schwarze Magier fest, „Welchen Zauber soll ich als nächstes benutzen? Ah, ich weiß einen Schönen. Vestibulum!“
Der Blitz schoss herab und ich schrie dieses Mal hörbar auf. In meinem Kopf drehte sich alles und mein Blick verschwamm. Mein Körper wollte sich nun endgültig nicht mehr bewegen und ich keuchte nur noch.
„Arme Kleine, du kannst einem schon fast leidtun, dass du ausgerechnet mir in die Arme gelaufen bist“, grinste er, „Vielleicht sollte ich nett sein und dir den Gnadenstoß verpassen.“ Er stellte sich über mich und richtete die Spitze seines Zauberstabes direkt auf mein Herz. „Süße Träume…“
War ich eigentlich bescheuert oder was? Mein Verstand hatte sich wieder erholt und warf ein, dass ich mir so was doch nicht gefallen lassen konnte. Da würde ich mich ja noch eher von Felton besiegen lassen als von so einem kleinen Wicht, der sich wegen ein paar verbotener Tricks für ganz toll hielt.
Ich knurrte wütend und begann in rasendem Tempo meine magischen Kräfte zu bündeln. Wenn mir etwas im Weg war, musste ich es einfach nur zur Seite schaffen, das hatte mir Rosebad so häufig eingebläut, dass ich es wahrscheinlich nie mehr vergessen konnte, selbst wenn ich es wollte. Und gegen dieses verdammte Siegel würde ich mit Sicherheit nicht verlieren. Das wäre ja noch schöner. Meine Ehre als Reinblut, als Tochter der MacAlister, stand hier auf dem Spiel. Außerdem sah mein Stolz ganz und gar nicht ein sich geschlagen zu geben. Ich würde es dem Kerl doppelt und dreifach zurückzahlen. Nur über meine Leiche ließ ich mich von einem Schwarzen Magier besiegen.
„Was.. spinnt die Anzeige oder…“ Riley starrte das Display über seiner Uhr verdattert an, während er blind fünf weitere niedere Dämonen abknallte. Die Messanzeigen für das Austreten der magischen Kräfte standen bereits im roten Bereich und waren noch immer dabei anzusteigen.
Jake hatte ebenfalls erkannt, was los war. Im Gegensatz zu dem völlig verblüfften Riley musste er jedoch lächeln.
„Himmel.. sie hat einfach so mal eben die Höchstwerte überschritten“, brachte der Ausbilder nur erstaunt hervor und wurde anschließend aber wieder ernst, „Langsam verstehe ich, warum man sie unbedingt für die Operationsabteilung gewinnen wollte, bei den Zahlen würde den Leuten im Stützpunkt schwindlig werden.. Aber der Zauberstab.. Er ist für eine Menge Kraft ausgelegt, aber nicht für so viel…!“
Jake sah ihn erschrocken an. Dann machte er schon auf dem Absatz Kehrt und sprang mit einem Satz über die Herde Dämonen, ehe der Magier auch nur auf die Idee kommen konnte ihn aufhalten zu wollen.
Der Schwarze Magier sah mich gerade erschrocken an – ihm schien erst jetzt aufzufallen, was ich tat – und im nächsten Moment war bereits ein Geräusch zu hören, das dem Zersplittern von Glas ähnelte. Ein wenig schwarzer Rauch stieg von mir auf und dieses Mal war ich diejenige, die grinste.
„Du hast.. das Siegel gesprengt…“, stellte der Mann völlig fassungslos fest. Scheinbar war er sehr von sich und seiner Macht überzeugt gewesen. Dieses Ego dürfte ich gerade ganz schön zertrampelt haben.
„So sieht es aus“, erwiderte ich mit einem drohenden Lächeln. Die plötzlich wieder wallende Magie hatte meinen ganzen Körper von der Taubheit befreit und als Zusatz sogar die schlimmsten meiner Verletzungen geheilt. So ging es auch meiner Magengegend ein wenig besser und ich konnte es dem Typen heimzahlen.
„Emergency warning“, sagte Zafira jedoch plötzlich, „System overloaded.“
Ich sah den Zauberstab verwirrt an. Sollte er nicht eigentlich selbst größtes Einwirken magischer Kräfte aushalten können?
„You have used too much power“, fügte Zafira hinzu, „If you continue like this I won´t be able to handle your power anymore and my core will be damaged.“
Oh Heiliger, da hatte ich ja was geschafft. Und das ausgerechnet jetzt.
„Tse.“ Der Schwarze Magier fing tatsächlich an zu lachen. „Überlastet? Du hast dich gerade selbst aus dem Kampf geworfen, das ist wirklich dämlich!“ Er lachte noch lauter und schien sich bald zu krümmen.
Im ersten Moment war ich auch beinahe fassungslos, doch dann wurde mein Gesicht lediglich ernst. „Zafira, hast du irgendeine Art Selbstreparierungsprogramm?“, fragte ich, „Wenn ja, dann aktiviere es.“
„I have one, but if I change in this mode I´m not able to translate your magic“, entgegnete der Zauberstab, „You won´t be able to fight with me.“
„Keine Sorge, ich kann auch ohne Stab kämpfen“, erwiderte ich, „Sieh du nur zu, dass du wieder in Ordnung kommst.“
Der Zauberstab zögerte einen Moment. „I understand, my Master“, sagte Zafira dann, „I change into Recovering Mode.“ Der Zauberstab leuchtete rötlich auf und im nächsten Augenblick hatte ich wieder die Kette mit dem Rosenanhänger in den Händen. Er blinkte rötlich und ich band mir das Schmuckstück wieder um den Hals.
„Du bist lustig“, grinste der Mann mir gegenüber, „Wie willst du bitteschön ohne Zauberstab kämpfen?“
Da stahl sich so ein heimtückisches Lächeln auf meine Lippen. „Jet ignis.“
Der Schwarze Magier machte erschrocken einen Satz zur Seite und entkam damit ganz knapp meinem Angriff. „Tse.“ Er schien nicht sehr erfreut zu sein. „Cras Lorem!“
Ein lilaner Pfeil aus gebündelter Energie sauste durch die Luft auf mich zu. Ich wollte gerade einen Schild rufen, als plötzlich jemand vor mir stand und den Pfeil einfach mit seinem Dreizack abwehrte. Die Waffe hatte einen fast zwei Meter langen, tief dunkelblauen Schaft mit drei eleganten, silbernen Klingen am oberen Ende. Erst im zweiten Moment bemerkte ich, dass der Junge vor mir Jake war.
„Oho, da haben wir ja noch einen…“ Auf einmal wirkte der Schwarze Magier ziemlich überrascht, bevor er wieder grinste. „Robert Dante.. was für ein Zufall…“
Nun war ich es, die verdammt irritiert dastand. Die Schwarzen Magier in den Bergen waren doch auch hinter einem gewissen Robert Dante her gewesen. Außerdem fiel mir bei dem Nachnamen etwas auf.
Es war als konnte Jake Gedanken lesen, als er sich umdrehte und mich mit einem matten Lächeln im Gesicht ansah. „Jake ist nur mein erster Name“, bemerkte er, „Mein voller Name ist Jake Robert Dante.“
Für einen Augenblick war ich völlig überrascht. Mein werter Hirnkasten nahm sich jedoch schnell wieder zusammen und ich hatte bereits eine vage Vermutung, warum die Schwarzen Magier hinter Jake her waren.
Als ich gerade etwas sagen wollte, fielen mir plötzlich die ganzen Dämonen um uns herum auf. Man hatte uns in der Zwischenzeit nach allen Regeln der Kunst umzingelt. Eine perfekte Falle, die mir nur allzu bekannt vorkam. Scheinbar war dies eine bewährte Methode, sonst würden nicht so viele der dunklen Seite sie benutzen.
„Wie schön, dass du freiwillig zu uns kommst“, sagte der Mann mit einem düsteren Lächeln, „Das erspart uns einiges.“
Die Dämonen hinter den Büschen und Bäumen kamen nun langsam auf uns zu und hatten bereits diese vielversprechend gierigen Blicke. Es war ziemlich klar, dass wir nicht unverletzt bleiben würden. Mein Schild war zwar stark, aber ich hatte ziemlich viel Kraft aufwenden müssen, um dieses blöde Siegel brechen zu können. Ich war alles andere als kaputt, aber um ein solches Aufgebot an Dämonen mit noch einem Schwarzen Magier dazu ausschalten zu können, fehlte mir doch die nötige Kraft.
„Du steckst ja schon wieder in Schwierigkeiten…“
Überrascht fand ich mich mal wieder in den Armen eines gewissen menschlichen Dämons wieder, der mich gerade fast zu Tode erschreckt hatte. Wieso tauchte der Kerl in letzter Zeit immer dann auf, wenn man nicht mit ihm rechnete? Und dieses Mal auch noch gänzlich ohne irgendwelche Vorzeichen?
„Meine widerspenstige Prinzessin“, beendete Julien schmunzelnd seinen Satz und drückte mir plötzlich von oben einen Kuss aufs Haar.
Jake hatte sich schon bei den ersten Worten umgedreht und sah genauso verdattert aus wie ich mich fühlte. Allerdings wurde sein Gesichtsausdruck beinahe sofort wieder ernst.
Bei der Bezeichnung entgleiste mein Gesichtsausdruck auch ein wenig und ich sah ihn mit einem unelegant schiefen Lächeln an. „Und du bist der perverse Prinz aus dem Königreich Sexuelle Belästigung mit vierundzwanzig Stunden Service“, erwiderte resigniert, bevor ich ihm meinen Ellenbogen in die Brust bohrte, „Lass mich los, du alter Aufreißer!“
„Alt?“ Er hob nur eine Augenbraue, während er meine Befreiungsversuche komplett ignorierte. „Ich bin gerade mal vierhundertneunzehn.“
„Ich sagte doch, ein alter Greis…“ Verflucht nochmal, wieso hatte dieser Typ keine Schwachstelle? Das ging mir so was von auf die Nerven!
Währenddessen kam unbemerkt von uns Riley auf die Lichtung geeilt, der allerdings schnell zum Stehen kam und die Szene stirnrunzelnd musterte, wie auch der bediente Schwarze Magier, den wir gekonnt ignorierten.
In dem Augenblick bekam Julien plötzlich den Schaft von Jakes Dreizack direkt auf den Kopf. Für einen kurzen Moment war der Dämon überrumpelt, in dem ich am Oberarm gepackt und von dem Tenebrae weggezogen wurde. Ein Blick verriet mir, dass ich dieses Mal wirklich die reifere Version von Jake vor mir hatte. Sein Gesichtsausdruck war ernst und er hatte wieder diese stolze und leicht arrogante Ausstrahlung, die – wie mir jetzt erst bewusst wurde – von dem Tenebraeblut in ihm kommen musste. Man könnte sogar fast meinen, er wäre selbst einer dieser bildschönen, mächtigen Dämonen.
„Ist es nicht eigentlich deine Aufgabe sie zu beschützen?“, bemerkte Jake dann in beinahe schon gelassenem Tonfall, „Wenn ich richtig liege, gehört Flirten nicht zu eurem Vertrag.“
„Hooo, du scheinst ja doch ein wenig von unserem Vater mitbekommen zu haben“, stellte Julien lächelnd fest, „Richtig, es ist MEINE Aufgabe sie zu beschützen, Kleiner.“
„Werd nicht übermütig“, konterte Jake und richtete den Dreizack auf seinen Halbbruder.
Juliens Lächeln wurde breiter. „Das sollte ich besser zu dir sagen.“
„Versuch es doch.“ Ein himmelblauer Stein am Übergang vom Schaft zu den Klingen des Dreizacks leuchtete bläulich auf. „Ich werde nicht gegen dich verlieren.“
Juliens Fingernägel wurden ein wenig länger und er erwiderte Jakes herausfordernden Blick.
Ich sah die beiden nur perplex an, da mir nicht so recht klar werden wollte, was genau die zwei da betrieben. Machten Brüder öfter so etwas? Ich hatte ehrlich gesagt nicht den leisesten Schimmer.
Die Dämonen um uns herum machten nun plötzlich einen Satz auf uns zu, nur sollte ich nicht dazu kommen sie selbst zu vernichten.
Jake schwang seinen Dreizack, der wohl die Kampfform seines Zauberstabes Aron war, und rief: „Himmlischer Regen!“
„Et de abyssis terrae spinis nigrum est statim, vos appello“, murmelte Julien zeitgleich schnell. Dabei fiel mir zum ersten Mal auf, wie die Pupillen seiner goldgelben Augen während des Kämpfens zu dünnen Schlitzen wurden, wie die von Katzen.
Jedoch war es auch das erste Mal, dass ich sah, wie Jake ernsthaft kämpfte. Sein Zauber beschwor hunderte, bläulich leuchtende Speere, die vom Himmel herabschossen. Wie der Regen selbst, nur waren sie viel schöner und tödlicher zugleich. Zur selben Zeit schnellten auf einmal hunderte schwarze und verflixt lange Dornen aus der Erde, welche nicht weniger vernichtend waren als der Angriff von oben.
Zusammen schaffen Julien und Jake es sämtliche Dämonen mit nur diesem einen Streich zu vernichten, woraufhin ich sie lediglich verdattert ansah. Wow, die zwei waren eine ziemlich gute Kombination, auch wenn sie sich scheinbar aus irgendeinem Grund nicht so richtig leiden konnten.
„Nicht schlecht“, räumte Julien ein und fuhr sich mit einer Hand durch sein pechschwarzes Haar. Die elegante Bewegung hatte ihm bestimmt schon so manches Frauenherz eingebracht, wobei das bei mir zum Glück nicht wirkte. Auch wenn ich nicht verleugnen konnte, dass er irgendwo schon attraktiv war.
„Gleiches zurück“, erwiderte Jake und legte sich den Dreizack über seine Schulter. Mit dieser ganz leicht tieferen Stimme und dem ruhigen Blick seiner himmelblauen Augen wirkte er wirklich um einiges reifer als seine tollpatschige Seite und gar nicht mal so unattraktiv.
Im Augenblick sah ich die Ähnlichkeit der beiden, die sie zwar nicht im Aussehen aber dafür in ihrem Charakter und dieser überirdischen Ausstrahlung hatten. Heiliger Strohsack ey, die beiden sahen direkt nebeneinander und mit diesen Gesten aus als wären sie wunderschöne Prinzen und gerissene Bösewichte in Einem. Das war echt kaum zu glauben, was sollte ich davon jetzt halten? Denn obwohl Jake wohl gemerkt etwas mehr als zehn Zentimeter kleiner war als sein dämonischer Halbbruder Julien, wirkte er im Moment nicht minder eindrucksvoll. Seine erwachsenere Seite hatte wirklich etwas Anziehendes, das selbst auf mich wirkte. Bei den Gedanken musste ich schnell die aufsteigende Röte unterdrücken. Schon wieder falsche Einfälle! Husch, husch! Zurück in eure Schubladen ihr unpassenden Gedanken!
„Auch wenn das keine große Sache war“, bemerkte Julien mit leicht provozierender Stimme.
„Viel zu einfach“, kommentierte Jake, „Ich stimme dir zu.“
„Tse.“
Die Halbbrüder und ich sahen leicht verwundert auf. Den Schwarzen Magier hatten wir vollkommen vergessen. Na ja, das war sein Pech. Er hätte ja schon vorher auf sich aufmerksam machen können.
„Zum Teufel mit euch“, zischte der Mann und sprang mit einem Satz ans andere Ende der Lichtung, „Genieß deine freien Tage, Robert Dante, es werden deine Letzten sein!“
Damit verschwand der Gute und wir sahen uns stirnrunzelnd an.
„Weißt du zufällig genau, warum sie hinter dir her sind?“, fragte ich Jake.
„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete dieser, „Aber ich vermute fast, dass es etwas mit meiner Abstammung zu tun hat.“
„Du also auch.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Fragt sich bloß, ob wir mit unserer Vermutung richtig liegen.“
„Sagt mal, von welchem Stern kommt ihr zwei eigentlich?“
Überrascht drehten Jake und ich uns um. Wir hatten beide komplett vergessen, dass Riley ja auch noch hier in der Gegend war. Das hatten wir nun davon.
„Und wer ist der junge Mann, wenn ich fragen darf?“ Der Ausbilder sah uns mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
Erschrocken blickte ich zu Julien, der jedoch völlig gelassen wirkte. Als könnte Riley nicht jeden Moment herausfinden, dass er ein Dämon war.
„Ich bin ein Bekannter der beiden und war gerade in der Gegend“, sagte Julien und lächelte freundlich.
Rileys Augen wurden schmal. Er schien zu überlegen, ob der Schürzenjäger hinter mir die Wahrheit sagte oder nicht.
Ich war sichtlich nervös, immerhin wäre es gar nicht gut, wenn der Magier herausfinden würde, was Julien wirklich war. Allerdings legte dieser plötzlich einen Arm um meine Schultern und zog mich an sich.
„Wir Tenebrae können unsere dämonische Präsenz verbergen“, flüsterte er mir so leise ins Ohr, dass ich ihn kaum hören konnte, „Er wird nicht merken, was ich bin.“
„Das will ich dir auch raten“, raunte ich zurück. Sonst steckte ich in Schwierigkeiten.
Mir fiel dabei auch Jakes feindseliger Blick auf, der klar auf den Dämon hinter mir gerichtet war. Ich hätte nicht gedacht, dass der Junge mal einen derart finsteren Blick draufhaben könnte. Das war richtig beeindruckend.
„Was flüstert ihr da?“, fragte Riley jedoch misstrauisch. Er schien die Lunte förmlich zu riechen, der Kerl hatte eine verdammt gute Intuition, das musste man ihm lassen.
„Nur ein wenig Liebesgeflüster“, erwiderte Julien mit seinem charmanten Lächeln.
Ich lief augenblicklich rot an und die Antwort schien auch Jake ganz und gar nicht zu passen. Da der Junge unweit neben uns stand, brauchte er noch nicht mal mehr einen Schritt zu tun, sondern holte einfach mit der geballten Faust aus und ich riss gleichzeitig mein Bein hoch. Nur während Jake auf Juliens Kopf zielte, drehte ich mich und plante die bestimmt auch bei männlichen Tenebrae empfindlichste Stelle zu treffen. Dummerweise aber war der Dämon nicht blöd. Er fing Jakes Hieb kurz vor seiner Wange ab und hielt mein Fußgelenk kurz vor besagter Stelle fest.
„Wo zielst du hin, meine Liebe?“, fragte er mit einem ganz leicht schiefen Lächeln
„Dahin wo´s wehtut“, erwiderte ich mit einem vielsagenden, leicht wütenden Grinsen.
Riley runzelte die Stirn, schien jedoch komischerweise nicht mehr ganz so misstrauisch zu sein. „Übrigens ihr zwei, die Frage vorhin war ernst gemeint“, bemerkte er dann, „Jake, ich bekomme langsam das Gefühl, dass du eine geteilte Persönlichkeit hast. Und Chris, wie zum Teufel kann ein Kind wie du so viel magische Kraft haben?“
„Eh…“ Wusste er es nicht? Na ja, er sollte es ja auch nicht wissen können, aber trotzdem. Entweder er dachte sich bei meinem Nachnamen nichts oder er kannte diesen noch nicht mal. Stimmt, er nannte mich ja auch nur bei meinem Spitznamen, obwohl das bei Chefs sonst eher selten war.
„Mit der geteilten Persönlichkeit liegen Sie fast richtig“, erwiderte Jake gelassen, es schien ihm nicht sonderlich viel auszumachen, dass der Ausbilder das nun wusste, „Auch wenn es ein wenig komplizierter ist.“ Er schien Julien aus den Augenwinkeln anzusehen, der mich dank unser beider Angriffe nicht mehr im Arm hatte.
„Und Chris?“ Riley sah mich erwartungsvoll an.
Ich wusste nicht, ob ich mit der Wahrheit antworten sollte. Theoretisch gesehen vertraute ich dem Ausbilder mittlerweile eigentlich so weit, dass ich es ihm sagen könnte. Er war zwar streng und hatte kein Erbarmen, aber irgendwie war er mir gerade deshalb auf gewisse Weise sympathisch. Aber trotzdem, Dalton hatte mich davor gewarnt, meine Identität als Nachkomme der höchsten Reinblutfamilie preiszugeben. Dabei fiel mir ein, ich hatte noch nicht mal Jake davon erzählt.
Als ich eher unabsichtlich zu ihm blickte, sah er mich ernst an. Komischerweise wurde ich das Gefühl nicht los, dass er bereits ganz genau wusste, was ich war. Er schien es schon die ganze Zeit über zu wissen. Ich fragte mich zwar, woher er das wissen konnte, aber es war in Ordnung.
„Betriebsgeheimnis“, antwortete ich mit einem geheimnisvollen Lächeln.
„Hey, was glaubst du, mit wem du sprichst?“, fragte Riley gereizt, „Als dein Ausbilder…“
„Als die mit der größeren Macht verweigere ich Ihnen die Antwort“, unterbrach ich den daraufhin ziemlich perplexen Ausbilder, „Tut mir leid, aber wie Dalton mir sagte, soll ich vorsichtig sein. Und das schließt leider auch Sie ein.“
„Du verheimlichst uns also etwas“, stellte Riley nicht sehr begeistert fest.
„Haben wir nicht alle unsere kleinen Geheimnisse?“ Jake trat neben mich und legte mir einen Arm um die Schultern, um mich an seine Seite zu ziehen. „Die haben Sie doch mit Sicherheit auch, oder?“, fragte er mit einem wissenden Lächeln.
Dass Jake sich in seinen Augen so untypisch benahm, schien Riley für einen Augenblick glatt die Sprache zu verschlagen. Er sah den Jungen lediglich verdattert an.
Um ehrlich zu sein war ich gerade auch etwas überrascht. Die Art wie er mich an sich zog ähnelte der von Julien – von dem er sich das mit großer Wahrscheinlichkeit auch abgeguckt hatte – doch komischerweise stieg mir bei Jake eine leichte Röte ins Gesicht, die nicht von Wut stammen konnte. Ich war schließlich nicht sauer, nur ziemlich überrascht und irgendwie ein wenig nervös.
„Kleiner, was habe ich dir zum Thema Anfassen gesagt?“, fragte Julien bedeutend.
Jake lächelte selbstgefällig und beugte sich so weit vor, dass seine Lippen fast meine Stirn berührten – weswegen ich nun endgültig rot anlief – wobei er immer noch zu seinem Halbbruder blickte. „Ich habe nie behauptet, dass ich dem zustimme“, erwiderte er und der blaue Stein an seinem Dreizack begann zu leuchten, „Und noch weniger, dass ich sie dir überlasse.“
Der Teleportationsprozess setzte ein und wir waren verschwunden, bevor Julien etwas darauf erwidern konnte.
Der Dämon hob daraufhin nur eine Augenbraue. „Der Bengel wird ja richtig aufsässig.“
„Wer sind Sie eigentlich?“, fragte Riley allerdings ernst. Der Ausbilder wurde das Gefühl nicht los, dass dieser Mann kein normaler Magier war.
Julien sah ihn daraufhin kurz an, ehe sich ein leichtes, sicheres Lächeln auf seine Lippen schlich. „Mein Name ist Julien Van Black“, antwortete er.
„Und in welcher Beziehung stehen Sie zu den beiden?“ Rileys Augen waren schmal geworden und der Griff um die Pistole in seiner Hand wurde fester.
„Hn.“ Julien wandte sich ab und ging in Richtung Westen. „Das geht Sie nichts an.“
Als Riley gerade die Waffe heben wollte, war der junge Mann plötzlich verschwunden. Komplett und ohne eine Spur zu hinterlassen.
„Jaaake.“ Ich pickte dem Jungen meinen Zeigefinger in die Wange. „Was genau sollte das eben werden?“ Ich war immer noch ein wenig rot im Gesicht. Doch da Jake, seit wir hier mitten zwischen einigen Bäumen auf dem Gelände der Dalton Academy standen, wieder tollpatschig war und sich versehentlich selbst den Schaft seines Dreizacks auf den Kopf gehauen hatte – was übrigens ziemlich witzig ausgesehen hatte – verschwand auch die Nervosität langsam wieder.
„He he.. das tut weh“, bemerkte der Junge schief lächelnd und band sich die Kette mit Aron als vierzackigem Stern um den Hals.
„Geschieht dir nur recht“, erwiderte ich und ließ meine Hand wieder sinken, „Aber könntest du mir mal verraten, was du und Julien da betreibt? Und vor allem, wieso hat deine erwachsenere Persönlichkeit eigentlich ausgerechnet eben übernommen, als Julien da war? Mit ihm anwesend bestand doch gar keine Gefahr.“
„Äh.. na ja, das ist etwas kompliziert“, stellte er zögernd fest. Aus irgendeinem Grund wirkte er fast ein wenig enttäuscht. „Wie auch immer, was macht dein Zauberstab?“, fragte er dann, „Riley sagte, dass er deinem plötzlich so hohen Kraftaufwand nicht standhalten kann.“
„Das habe ich auch vor kurzem erfahren.“ Ich blickte ein wenig resigniert drein. „Zafira?“
„In a few hours I will be completely recovered“, antwortete mein Zauberstab jedoch zuversichtlich.
„Freut mich zu hören“, seufzte ich erleichtert. So würde wenigstens keiner merken, dass ich ohne Zauberstab zaubern konnte. Außerdem hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil Zafira wegen mir beschädigt worden war. Ich musste dringend etwas unternehmen, damit das nicht nochmal passierte. Dabei kam mir auch eine gute Idee, der ich am besten noch heute nachkommen sollte.
„Ach ja, Chris.“
Ich sah den Tollpatsch an, als er ein paarmal ansetzte etwas zu sagen, es aber dann doch nicht tat. Schließlich sah er mir jedoch in die Augen.
„Die Idee ist mir jetzt schon eine ganze Zeit lang durch den Kopf gegeistert“, sagte er, „Ich will meine Mutter endlich befreien.“
Das kam jetzt echt unerwartet.
„Ich habe schon eine ganze Weile lang über ihre und meine Vergangenheit nachgedacht“, bemerkte Jake, „Und wenn Julien nicht gelogen hat, wollte mein leiblicher Vater sie auch befreien. Ich weiß, so wie ich zurzeit bin ist das eine ganz schön heikle Idee, aber ich will sie retten. Ich kann sie nicht noch länger bei Willam lassen. Nur.. für mich allein ist das so gut wie unmöglich, das sehe ich ein. Deshalb wollte ich dich fragen.. ob du mir vielleicht helfen würdest?“
Zuerst war ich ein wenig verwundert, dass er mich bei dieser Familienangelegenheit dabei haben wollte, doch dann musste ich lächeln. „Wenn du lange genug darüber nachgedacht hast und das deine Entscheidung ist, werde ich dir gerne helfen. Du kannst auf mich zählen.“
Der Junge nickte und lächelte nun ebenfalls.