Kaum hat Chris im Blumenkurs einigermaßen Fuß gefasst, geht es auch gleich auf die erste Exkursion - fünf Tage in den Snowdonia-Nationalpark. Dort sollen sie eigentlich trainieren, nur werden sie schon kurz nach der Ankunft von einem Schwarzen Magier angegriffen. Dieser scheint eigentlich hinter einem gewissen Robert Dante her zu sein, doch im Kurs befindet sich niemand mit diesem Namen und trotzdem werden sie angegriffen. Desweiteren lernt Chris per Zufall eine ganz andere Seite von ihrem tollpatischen Teampartner Jake kennen, bei der sie nur ziemlich blöd aus der Wäsche guckt und ihre Schlagfertigkeit etwas auf die Probe gestellt wird. Im Gegenzug gibt Chris allerdings unfreiwillig gleich zwei ihrer eigenen Geheimnisse preis, denn abgesehen davon, dass sie sogar mehr Macht als die Lehrer besitzt, hat sie einen Vertrag mit einem Wesen, mit dem kein Magier einen Pakt haben sollte... Enthält: Kapitel 5: Ab ins Trainingslager Kapitel 6: die Überraschung schlechthin Kapitel 7: Vertrag mit einem Tenebrae! Kapitel 8: ein ziemliches Donnerwetter
Die Tage bis Mittwoch vergingen wie im Flug. Das Wochenende verbrachte ich mit July, Susan und Clare hauptsächlich irgendwo in den Straßen von Birmingham. Die drei liebten es durch die etwas belebteren Einkaufsstraßen zu schlendern und in den Läden zu stöbern. Außerdem wollten wir das schöne Wetter ausnutzen und gingen Eis essen und machten in einem kleinen Park sogar ein Picknick. Die freien Tage musste man ja schließlich ausnutzen.
Montag und Dienstag kam ich dann erstmals dazu das volle Ausmaß von Jakes ungewöhnlichem Talent zu erleben. Da wir beide eingesehen hatten, dass wir uns vor dem Ausflug besser noch ein wenig aneinander gewöhnen sollten, verbrachten wir relativ viel Zeit zusammen. Auch wenn ich schon nach wenigen Stunden versuchte den Kontakt so weit wie möglich wieder zu reduzieren.
Wie schaffte er es bloß alle paar Schritte zu stolpern, dauernd hinzufallen, etwas fallen zu lassen – am besten noch ganze Aktenstapel, die man vorher noch ordentlich sortiert hatte und anschließend irgendwie wieder in diese Reihenfolge bringen musste – mit jemandem oder etwas zusammenzustoßen – darunter waren abgesehen von Schülern und Lehrern auch Türen und Pfeiler, von der Inneneinrichtung gar nicht zu sprechen – oder Dinge zu verlieren, die man am besten noch gerade dringend brauchte?
Der Unterricht im Blumenkurs war allerdings noch schlimmer. Dauernd verhaspelte oder versprach er sich und schaffte es kaum die einfachen Sprüche richtig aufzusagen. Langsam begann ich zu glauben, dass er höchstens Rang E haben konnte. Gelegentlich richtige Antworten hin oder her, Magie war immer noch etwas praktisch Bezogenes und darin war er genauso eine Niete wie in eigentlich allem anderen auch. Es tat mir zwar leid, das festzustellen, aber es war so.
Am besten war es noch, als er es schaffte in der wie ein fünf Sterne Restaurant aussehenden Kantine auszurutschen und sein ganzes Tablett so in die Luft zu schmeißen, dass ich die Spagetti mit Soße und den Orangensaft beinahe voll abbekam. Einzig ein Sprung auf einen Tisch neben mir rettete mich vor dieser Blamage.
Na ja, das waren dann meine Tage bis Mittwoch, wo wir vom normalen Unterricht befreit waren, weil der Blumenkurs angeblich auf eine für den Unterricht wichtige Exkursion ging. Wobei ich immer noch überrascht war, dass es tatsächlich eine richtige Schule für Magie gab. Meine Tante hatte immer nur davon geredet, dass das Wissen über Magie in den jeweiligen Familien von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Doch nach dem heutigen Stand wurden die meisten jungen Magier auf Schulen geschickt, die im geheimen auch Zauberunterricht erteilten. Wie es aussah, war Tantchen Rosebad nicht mehr auf dem neuesten Stand gewesen.
Unser Ziel war nicht weit entfernt vom Snowdonia National Park. Die Landschaft war grün, mit Wäldern übersät, von lauter Hügeln und kleinen Bergen bestückt und nur selten sah man mal eine kleine Stadt. Ein schöner Ort, wie geschaffen um Ferien zu machen oder ein paar Tage wandern zu gehen. Allerdings waren das nicht unsere Pläne.
Auf einer Anhöhe war ein relativ altes Haus errichtet worden, das wohl schon so manchen Sturm hatte aushalten müssen. Es war gerade groß genug für eine Gruppe wie uns und draußen waren noch zwei Holztische mit Bänken und eine Feuerstelle. Hier würden wir von Wald und der reinen Natur umgeben sein, bis zur nächsten Stadt brauchte man zu Fuß bestimmt einen halben Tag, sofern man nicht mit Motordüsen an den Füßen geboren worden war.
„Also, packt eure Sachen aus und richtet euch schön ein“, sagte Jones, als wir alle mit unseren Reisetaschen vor dem Haus standen.
„Die Zimmerverteilung findet nach den Teams statt“, verkündete Edson, „Zimmer eins teilen sich Thomas und Kai; Zimmer zwei Henri und Henrik; das dritte Zimmer bekommen Tina und Birgitt; Zimmer vier beziehen Jenny und Betty; das fünfte Zimmer ist für Jasper und Edward; und in Zimmer sechs wohnen Jake und Chris. Jones und ich werden im Zimmer sieben schlafen, also wenn etwas ist...“
„Nochmal bitte.“ Ich sah die beiden Lehrer ungläubig an. „Jake und ich sollen uns ein Zimmer teilen?“
„Ja.“ Die beiden sahen mich nur schief an, als gäbe es da kein großes Problem.
„Ich weigere mich!“, sagte ich und konnte nur schwer mein Entsetzen darüber verbergen.
„Wieso?“
„Wieso?“, wiederholte ich ungläubig, „Ein Junge und ein Mädchen wohnen nicht im selben Zimmer!“
„Wir haben aber keine weiteren Zimmer“, erwiderte Edson, „Und die anderen sind zu klein, um für drei Personen auszureichen.“
„Nur über meine Leiche verbringe ich die nächsten fünf Tage mit diesem Tollpatsch in einem Zimmer!“, fuhr ich wütend auf. Das konnte doch nicht wahr sein! Außerdem konnte ich die anderen schon tuscheln hören.
„Dann hast du aber keine große Ausweichmöglichkeit.“ Jones kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. „Ich könnte dir höchstens anbieten hier draußen zu zelten.“
„Nicht mal wenn mein Leben davon abhängen würde“, erwiderte ich und rieb mir die Arme. Nein, nicht daran denken. Nicht an diese drei Tage campen mit Tantchen Rose denken. Sonst würde ich heute Nacht mit Sicherheit nicht schlafen können.
„Und was schlägst du dann vor?“, fragte Jones stirnrunzelnd.
Ich biss die Zähne zusammen, doch mir wollte einfach nichts einfallen.
„Was hast du denn?“, fragte Thomas nur gehässig, „Bist du dir zu fein mit unserem Taugenichts in einem Zimmer zu schlafen?“
Jake sah ihn nur vielsagend an.
„Oder hast du Angst, dass er dir heimlich beim Umziehen zugucken oder während du schläfst etwas Unanständiges machen könnte?“, fragte Kai grinsend. Am liebsten hätte ich ihm auf der Stelle eine reingehauen.
„Als ob ich so etwas machen würde“, murmelte Jake nur wenig begeistert.
Ich knirschte vor Wut mit den Zähnen und ballte die Hände zu Fäusten, während die anderen bis auf die zwei Spatzenhirne und Jake schon mal lieber rein gingen.
„Na schön“, brachte ich schließlich mit all meiner Beherrschung hervor, packte den Tollpatsch am Kragen und zog ihn hinter mir her ins Haus. Thomas und Kai brüllten indessen vor Lachen und Jones und Edson sahen sich ein wenig beklommen an. Sie behielten lieber für sich, dass auch das eine Anordnung von Mr Dalton war.
„Wenn du auch nur eine winzige Unanständigkeit wagst oder ich dich dabei erwischen sollte mir nachzuspionieren, verwandle ich dich auf der Stelle in einen Maulwurf, ist das klar?!“, fragte ich stocksauer.
„Jawohl.“ Jake schluckte nur und schien sich innerlich schon mal auf einiges gefasst zu machen. Auch wenn er meiner Meinung nach trotz seiner eindeutigen Unsicherheit noch erstaunlich gefasst wirkte.
Das Zimmer war tatsächlich klein, man hatte aber ein Doppelhochbett, einen Schrank und einen kleinen Schreibtisch samt Stuhl reingequetscht. Im Prinzip war es recht gemütlich, wenn ich nur nicht daran denken müsste, dass ich es mir mit einem Jungen teilen musste. Ich hätte immer noch vor Wut knurren können, stellte aber die Tasche ab und zog erstmal die Vorhänge zur Seite, damit ich das Fenster öffnen und ein bisschen frische Luft hereinlassen konnte.
„Ähm.. willst du oben oder unten schlafen?“ Jake fühlte sich eindeutig nicht ganz wohl, was bestimmt auch an meiner Laune lag.
„Oben“, knurrte ich nur und erklomm währenddessen schon die Leiter. Doch kaum blickte ich über den Rand, sprang ich schon mit einem erschrockenen Schrei wieder runter und stand mit einem Satz in der hintersten Ecke des Raumes. Nur schwer konnte ich meine Glieder davon abhalten zu zittern, allerdings war mir dafür mein Gesichtsausdruck etwas entglitten.
Jake sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an und konnte sich eindeutig keinen Reim darauf machen.
„Mach das Vieh sofort weg“, zischte ich nur.
Nun runzelte er endgültig die Stirn und kletterte die Leiter hoch. „Eine Spinne“, war seine schlichte Feststellung und blickte über seine Schulter zu mir, „Du hast Angst vor so einem kleinen Tier?“
„Mach sie weg“, wiederholte ich lediglich.
Jake blinzelte zwar, streckte aber dann die Hand nach dem Tier mit den viel zu langen Beinen aus und schien sie – zu meinem großen Entsetzen – auf die Hand zu nehmen. Dabei lächelte er auch noch leicht. Als er jedoch gerade die Leiter wieder runtersteigen wollte, rutschte er ab und purzelte zu Boden. Das löste bei mir einen weiteren Schrei aus und mit einem Sprung hockte ich auf dem Schreibtisch und sah mich hektisch um. Wo war dieses Vieh gelandet?
„Hupsala.“ Jake setzte sich auf und öffnete seine Hände, die er bei seinem Sturz anscheinend wie eine Hülle um die Spinne gelegt hatte.
Ich rückte bei dem Anblick des Tieres so weit wie möglich an die Wand. „Nun mach sie endlich tot oder schaff sie hier raus!“ Ich konnte Insekten, allen voran Spinnen, absolut nicht ausstehen. Besser gesagt hatte ich seit dem Campen mit Rosebad eine höllische Angst vor diesen kleinen Biestern.
Aus irgendeinem Grund lächelte der Junge schon wieder und kam auf die Füße. Für einen kurzen Moment befürchtete ich, er würde mit der Spinne zu mir kommen, doch er ging zum Fenster und setzte sie anscheinend irgendwo weiter unten auf die Hauswand.
„So, sie ist wieder draußen“, sagte Jake dann und sah mich an. Daraufhin kicherte er kurz leise, bis er meinen vernichtenden Blick zu bemerken schien und schnell wieder aufhörte. Auch wenn es ihn eindeutig einiges an Beherrschung kostete. „Du kannst ruhig wieder vom Tisch runterkommen.“
„Was glaubst du hatte ich gerade vor?“, fragte ich bissig, „Und wenn du gegenüber der anderen auch nur ein Wort hierrüber verlierst, endest du als Tintenfisch.“
„Tintenfisch?“ Sein etwas schiefer Gesichtsausdruck sah gut aus. „Deine Ideen werden ja immer ausgefallener.“
Mein Blick schien auszureichen.
„Besser wir packen unsere Sachen aus“, sagte er schnell und nahm seine Tasche. Er schien jedoch zu stolpern, warf die Tasche versehentlich hoch in die Luft und landete auf dem Boden. Lediglich meine Augenbrauen wanderten nach oben, als seine Tasche mit Schwung auf ihm landete und er ein ersticktes Geräusch von sich gab und das Gesicht verzog.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich annehmen, dass du das mit Absicht machst“, bemerkte ich leicht resigniert und begann meine Sachen auf die eine Seite in den Schrank zu räumen.
„Heh, wäre schön, wenn es so wäre“, murmelte Jake und schob die Tasche wieder von sich runter, ehe er sich den schmerzenden Schädel rieb.
„Würde zu gerne mal wissen, was dieser Dalton sich dabei denkt“, sagte ich nachdenklich. Im nächsten Moment hörte ich ein leicht hohles Geräusch und als ich mich umdrehte, sah ich Jake auf dem unteren Bett sitzen und sich wieder den Kopf halten.
„Au au au“, stöhnte er, ehe er meinen Blick bemerkte, „Kümmer dich nicht drum, war bestimmt nicht das letzte Mal für heute.“
„Sofern du es schaffst in der Nacht ruhig zu sein, ist es mir relativ egal“, erwiderte ich und packte zuletzt noch meine zweite dreiviertellange Jeans in den Schrank.
„Ich werd´s versuchen.“
Ich wollte noch kurz in die unterste Schublade auf meiner Seite gucken, aber als ich sie öffnete, krabbelte mir plötzlich ein ziemlich großer Ohrenkneifer entgegen. Doch anstatt wieder mit einem Schrei zu flüchten – das war mir viel zu peinlich um es noch ein zweites Mal zu tun – hatte ich meinen Zauberstab in der Hand und verbrutzelte das Mistvieh mit einem kurzen Spruch zu Asche. Allerdings keuchte ich noch von dem Schreck.
„Du magst wohl wirklich keine Insekten“, stellte Jake fest. Er saß im Schneidersitz auf seiner Matratze.
„Hast du ein Problem damit?“, fragte ich drohend und drehte mich wieder zu ihm um.
„Nein, natürlich nicht“, wehrte er schnell mit einem leicht schiefen Lächeln ab, „Aber es ist irgendwie.. unerwartet, nachdem du es selbst mit Davidson aufgenommen hast.“
„Pff.“
Eine Viertelstunde später trafen wir uns mit den anderen, um zu besprechen, wie die nächsten vier Tage ablaufen würden. Anschließend aßen wir draußen an den Tischen zusammen zu spätem Mittag und ich hörte den anderen bei ihren teils ganz schön aufgeregten und gespannten Gesprächen zu. Wie es aussah, hatten sie vergessen, dass ich auch noch da war. Oder sie hatten beschlossen mich vorerst zu ignorieren, wie sie es anscheinend auch mit Jake taten.
Als die beiden Lehrer jedoch kurz wieder ins Haus gingen, wurde mir unerwartet doch die volle Aufmerksamkeit geschenkt.
„Na, bist du zufrieden, nachdem du jetzt die Beste bist?“, fragte Thomas abfällig.
Ich hob eine Augenbraue. „Was soll denn die Frage?“
„Uns würde mal interessieren, wie du es in so kurzer Zeit schaffen konntest gleich die Beste zu werden“, sagte Betty mit einem verächtlichen Grinsen.
„Hast du einfach nur verdammtes Glück?“, fügte Jenny hinzu, „Oder bestichst du vielleicht die Lehrer?“
„Das ist die einzige Möglichkeit“, bemerkte Henri und rückte die Brille auf seiner Nase zurecht, „Ansonsten kann kein normaler Mensch so schnell den Stoff von mehreren Jahren nachholen.“
„Ihr scheint zu vergessen, dass ich keine Anfängerin bin.“ Das gefiel mir gar nicht. „Mein Training verlief nur die meiste Zeit praktisch, weshalb ich ein bisschen Wissen aufholen musste. Das ist alles.“
„Selbst das dürfte bei einer so kurzen Zeitspanne unmöglich sein“, warf Kai unwirsch ein, „Und wie kann man dieses verdammte Buch innerhalb von fünf Tagen auf die Zeile genau auswendig lernen? Du hast Davidson doch bestochen und dir sagen lassen, welche Teile in der Abfrage dran kommen, damit du sie auswendig lernen und toll dastehen kannst!“
„Und bei den anderen Lehrern hast du es wahrscheinlich genauso gemacht, stimmt´s?“ Betty hatte die Arme vor der Brust verschränkt und grinste überheblich.
„Natürlich“, sagte ich nur, „Für unsere Lehrerin für Zaubertränke gehe ich jeden Dienstag einkaufen; mit Davidson habe ich vereinbart, dass ich ihm für gute Noten die Haare schneide; Edson und Jones mähe ich jeden Sonntag die Rasen ihrer Gärten; für den alten Herrn für Beschwörungszauber gehe ich morgens und abends mit seinem Hund spazieren und Mrs Lacy helfe ich beim Versorgen ihrer süßen Pflänzchen für unseren Unterricht.“ Mein zuvor freundliches Lächeln wurde auf einen Schlag finster. „Hört auf mich zu verarschen. Wenn ihr die Besten sein wollt, strengt euch gefälligst mehr an. Bestechen? Als wenn ich so was nötig hätte.“
Jo, so verdattert wie die mich anstarrten, hatte ich voll ins Schwarze getroffen. War vielleicht nicht gerade die Methode, um sich mit ihnen zu vertragen, doch so etwas konnte ich auch nicht auf mir sitzen lassen. Der Typ war ich nun mal nicht.
„Da der Unterricht eh erst ab Morgen wieder losgeht und es bis zum Abendessen noch einige Stunden hin ist, entschuldigt mich.“ Damit stand ich auf und verließ die anderen Anwesenden, ehe es irgendjemandem einfallen konnte mich aufhalten zu wollen. Es gab wesentlich bessere Möglichkeiten seine Freizeit zu verplempern als sich den Schwachsinn anzuhören.
„Die ist doch irre“, sagte Jenny nach einer Weile auf einmal, „Dem Himmel sieht man doch an, dass er sich bald übergibt.“
Daraufhin blickten auch die anderen nach oben und entdeckten die hohe Wolkenwand, die sich von Westen her verdammt schnell der Anhöhe näherte. Die Sonne war bereits hinter den Wolken verschwunden und der Wind frischte auf.
„Kommt lieber rein.“ Jones und Edson waren wieder aus dem Haus getreten. „Bei dem Wetter, das da hinten kommt, sollten wir es uns lieber drinnen gemütlich machen.“
„Aber Chris ist gerade irgendwo in den Wald gegangen!“, warf Tina erschrocken ein.
„Wie bitte?“ Die beiden Lehrer sahen die Versammlung ungläubig an. „Das Mädchen ist doch nicht blöd, wieso sollte sie das tun?“
„Woher sollen wir das wissen?“, fragte Kai nur.
„Na schön, bis es losgeht, sollten wir noch etwa eine halbe Stunde haben“, sagte Edson hektisch, „Ihr werdet in euren Teams nach ihr suchen, aber entfernt euch nicht zu weit von hier. Und vergesst eure Zauberstäbe nicht.“
„Ihr Zauberstab ist noch hier“, bemerkte Jake auf einmal, „Sie hat ihn auf dem Tisch liegen lassen.“
„Und ich hatte sie eigentlich für ein sehr umsichtiges Mädchen gehalten“, brummte Jones, „Nun seht schon zu, dass wir sie finden, bevor das Wetter uns einen Strich durch die Rechnung macht!“
Es tat gut ein wenig zwischen den Bäumen längs zu wandern und an nichts zu denken. Dazu war es sehr interessant dem Unwetter dabei zuzusehen, wie es aufzog. Auf dem Felsvorsprung zu einem bestimmt fünfzig Meter tiefen Abhang hatte ich auch eine fabelhafte Aussicht ins Tal. Das Wasser des kleinen Flusses reflektierte das Bild des Himmels und ich sah in der Ferne die ersten Blitze aufzucken.
Ich mochte es solche Gewitter zu beobachten und wenn es mir zu ungemütlich werden sollte, würde ich einfach via Teleport zu unserem Haus zurückkehren. Zwar würde es wahrscheinlich Ärger geben, weil ich einfach gegangen war ohne mich abzumelden, aber damit konnte ich leben.
„Na Tantchen, wie geht es dir jetzt wohl?“, fragte ich leise und lauschte dem immer stärker werdendem Wind, „Ist es schön bei Mum und Dad? Ich hoffe es.“
Als ich gerade darüber nachdachte noch ein bisschen zu klettern, segelte auf einmal Noel durch die Luft und flatterte aufgeregt vor mir. Anscheinend hatte er irgendetwas entdeckt und ich kam augenblicklich auf meine Füße. Wenn der kleine Seidenschwanz mich so zur Eile antrieb, dann war irgendetwas wirklich nicht in Ordnung.
Ich lief geradewegs hinter dem Vogel her am Hang entlang. Kurz bevor ich ihn sah, spürte ich bereits die dunkle Magie, und legte noch einmal einen Zahn zu.
„Wo ist Robert Dante?“
Thomas sah sich verzweifelt um, doch sein Zauberstab war außer Reichweite, Kai war bewusstlos und er selbst war ebenfalls am Arm verletzt. „Ich weiß es nicht“, antwortete er mit bebender Stimme.
„Bedauerlich“, sagte der Mann mit der tiefen Stimme nur. Da er komplett in seinen schwarzen Umhang gehüllt war, konnte Thomas ihn nicht erkennen. Nur den pechschwarzen Zauberstab konnte er viel zu deutlich sehen.
„Dann werde ich dich wohl noch ein wenig weiter quälen müssen, bis du es preisgibst“, drohte er, „Igniculus!“
„Clypeum ante eum!“ Mit einem Sprung stand ich ebenfalls auf der kleinen Lichtung und konnte den Schild gerade noch rechtzeitig vor Thomas und Kai erscheinen lassen, die der heiße und übergroße Funke sonst wahrscheinlich gut durchgeröstet hätte.
„Ho? Nicht schlecht, Kleine“, sagte der Schwarze Magier nur und lächelte, was ich unter der langen Kapuze gerade noch so sehen konnte, „Sogar ohne Stab.. oder wahrscheinlich hast du ihn nur versteckt, keiner in deinem Alter kann ohne Zauberstab Magie einsetzen.“
„Ob ich einen Stab habe oder nicht ist hier doch völlig irrelevant“, erwiderte ich scheinbar völlig gelassen und stellte mich vor den verletzten Thomas, „Was wollen Sie von den beiden?“
„Hm.. da sie es nicht zu wissen scheinen, vielleicht kannst du mir weiterhelfen“, überlegte der Mann laut, „Wo befindet sich Robert Dante?“
„Noch nie gehört“, erwiderte ich, „Verschwinden Sie, bei uns ist niemand, der so heißt.“ Zu gerne hätte ich diesen Schwarzen Magier auch noch über so einiges ausgequetscht, aber dazu bräuchte ich Magie und ich musste schließlich irgendwie vertuschen, dass ich auch gut ohne Stab klarkam.
„Das ist leider nicht die Antwort, die ich hören wollte“, grinste der Magier daraufhin mit düsterer Stimme und hob seinen Stab, „Und auch wenn ich ungern gegen unbewaffnete vorgehe, ich kann leider keine Zeugen zurücklassen.“
„Hilfe...“, hauchte Thomas und rutschte immer weiter nach hinten, „Hilf uns doch einer.“
„Halt die Klappe, das reizt ihn doch nur noch mehr“, schnauzte ich. Verdammt, wie es aussah, blieb mir doch keine andere Wahl. Ich hatte den Zauberstab nicht vorher präpariert, um ihn nur mit einem Wort erscheinen zu lassen, und ehe ich mit der Formel fertig war, waren wir wahrscheinlich schon tot.
„Vielleicht willst du nochmal nur der Form halber um Gnade winseln“, bot der liebe Schwarze Magier mit einem triumphierenden Grinsen an.
„Danke, aber ich verzichte.“ Das hätte der Typ wohl gerne. Außerdem hielt ich Angriff immer noch für die beste Verteidigung. „Jet ignis!“
Ein gebündelter Feuerstrahl schoss aus dem Nichts heraus auf den Schwarzen Magier zu, der sich mit einem überraschten Laut gerade noch aus der Schusslinie retten konnte.
„Wow, das war knapp.“ Er landete auf dem untersten Ast eines Baumes weiter hinten. „Das scheint ja doch noch interessant zu werden, die Herausforderung nehme ich gerne an, Kleine. Vestibulum!“
„Clypeum!“ Vor meiner ausgestreckten Hand erschien wieder ein Schild, der dem heftigen Blitzschlag aus Richtung Himmel zum Glück gut standhielt. Ich wollte nicht wissen, wie viel Volt das waren und was er mit mir anstellen würde, wenn ich doch getroffen werden sollte. „Revolare!“
Mit dem Trick, mit dem ich auch Davidson beinahe erwischt hatte, bekam ich den Schwarzen Magier zu fassen. Er hatte eindeutig nicht damit gerechnet, dass ich in der Lage sein würde den Angriff einfach zurückzuwerfen. Ein schöner Trick, für den ich Tantchen Rosebad wohl dankbar sein musste. Dank ihm schaffte ich es den Magier an der Seite zu streifen, da es ihm dieses Mal nicht gelang rechtzeitig zur Seite zu springen, und er landete unsanft auf dem Boden.
„Verdammt“, knurrte er.
Ich ging auf ihn zu und knackte mit den Fingerknöcheln. „So mein Freund, jetzt habe ich noch ein paar schöne Fragen an dich.“ Die Gelegenheit konnte ich mir nicht entgehen lassen.
„Wie kann ein Kind wie du Magie auf diesem Level verwenden?“, fragte er verbissen und zog seine Kapuze weiter ins Gesicht. Scheinbar wollte er nicht, dass man sein Gesicht erkannte, wie es bei diesen Bastarden wohl die Regel war.
„Betriebsgeheimnis“, lautete meine schlichte Erwiderung, „Also, ich freue mich schon auf ein paar ehrliche Auskünfte. Und gnade dir Gott, Lucifer oder wen auch immer ihr anbetet, wenn du mich belügen solltest.“
„Thomas!!“
„Kai!“
„Chris!“
Ich blickte leicht überrascht nach hinten, doch dummerweise nutzte dieser verdammte Mann die Chance, rappelte sich trotz der Verletzung auf und flüchtete zwischen die dicht stehenden Bäume. Damit war er auch schon verschwunden.
„So ein Mist“, fluchte ich nur.
„Chris.. Thomas! Kai! Was zum Teufel ist passiert?“ Jones und die anderen kamen auf die Lichtung gelaufen und sahen die beiden Jungen erschrocken an.
„Ein Schwarzer Magier war hier“, erzählte ich nüchtern, während ich ebenfalls wieder zu ihnen herüber kam, „Scheinbar hat er nach irgendwem gesucht. Er hat er die beiden hier wohl so zugerichtet, bevor ich aufgetaucht bin.“
Die starrten mich an als wäre ich ein Gespenst.
„Und wo ist er jetzt?“, fragte Jones ungläubig.
Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Als ich ihm gerade ein paar Fragen stellen wollte, seid ihr dazwischengekommen und er konnte flüchten.“
„Fragen stellen? Bist du noch bei Sinnen?“, fragte Edson entgeistert, „Du hättest draufgehen können, wenn er dich angegriffen hätte!“
„Hat er“, erwiderte ich wesentlich gelassener als die beiden Erwachsenen, „Aber er hat den Kürzeren gezogen. Na ja, er schien auch noch kein sehr erfahrener Magier zu sein...“
„Moment mal.“ Die beiden Lehrer schienen ihren Ohren nicht zu trauen. „Du hast einen Schwarzen Magier besiegt?“
„Ja, habe ich.“
„Sie hat ohne Stab Magie angewendet“, brachte der anscheinend immer noch unter Schock stehende Thomas hervor, wofür ich ihm zu gerne eine geknallt hätte.
Daraufhin sahen mich wieder alle an als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen und ich stöhnte lediglich resigniert.
„Da das Unwetter jeden Moment losgehen dürfte, würde ich vorschlagen, dass wir erstmal zum Haus zurückkehren.“ Ich hatte nämlich keine Lust nass zu werden.
„Mit einem Verletzten und einem Bewusstlosen wird das schwer werden...“
„Wenn man Teleport benutzt, ist es ganz einfach“, bemerkte ich und Noel landete auf meiner Schulter. Der Vogel schien auch keine Lust zu haben bei dem anstehenden Unwetter draußen zu bleiben.
Wie es aussah irritierte der Anblick eines Seidenschwanzes auf meiner Schulter die anderen nochmal für einige Sekunden.
„Gut, das ist überhaupt die Idee“, räumte Jones dann ein, „Stellt euch alle zusammen auf und fasst einander an den Händen. Lasst nicht los bis wir es sagen.“
Kurz sah Edson uns alle an, dann gab er das Kommando: „Whiz!“
Nachdem wir alle wieder sicher im Haus und die beiden Verletzten versorgt waren, durfte ich den beiden Lehrern schildern, was genau passiert war. Zudem musste ich irgendwie erklären, warum ich einfach so gegangen war, obwohl ich den aufkommenden Sturm gesehen hatte. Zwar wurde mir nicht die Schuld für den Vorfall gegeben, aber begeistert waren die beiden auch nicht. Einzig die Tatsache, dass ich ohne Zauberstab Magie anwenden konnte, schien die Lehrer von ihrem eigentlichen Zorn über meine Aktion abzulenken. Besser gesagt schienen sie sich ziemlich für diese höchst seltene Fähigkeit zu interessieren und ich durfte sogar einige kleine Kostproben geben. Was das anging kamen mir die beiden fast wie kleine Kinder vor, die zu Weihnachten ein neues Spielzeug bekommen hatten und sofort herausfinden wollten, wie es funktionierte.
Schließlich wurde ich aber entlassen und konnte in mein Zimmer gehen. Als ich eintrat, war ich ein wenig erstaunt. Jake saß auf seinem Bett und auf seinem Zeigefinger saß Noel und ließ sich von ihm kraulen.
„Okay, das ist auch selten“, stellte ich fest.
Der Junge schien mich erst jetzt zu bemerken. „Was meinst du?“
„Noel ist sonst nicht so zutraulich zu anderen“, sagte ich, „Und ich hätte auch erwartet, dass ihr mich jetzt mit Fragen überschüttet.“
„Das haben die anderen wohl auch vor“, bemerkte Jake und sah dem Vogel nach, wie er zu mir rüber flog und auf meiner Schulter landete.
„Und was ist mit dir?“ Ich setzte mich auf die Tischkante und sah ihn nachdenklich an.
„Wir sind immerhin ein Team, wenn auch ein Ungleiches“, sagte Jake lächelnd, „Ich denke, wenn du willst, wirst du schon irgendwann von selbst darüber reden.“
„Hm.. du scheinst mehr Hirn zu besitzen, als ich angenommen hatte.“
„Danke.“ Ihn schien mein etwas rüder Kommentar eher zu amüsieren als zu ärgern.
Später beim Abendessen stürmten die anderen dann tatsächlich mit lauter Fragen auf mich ein, die ich jedoch mit „geht euch nichts an“ oder „darüber gebe ich keine Auskunft“ stehen ließ. Nur Thomas war ein wenig stiller und schien mich die ganze Zeit über skeptisch anzusehen, während der Rest unter den mitleidigen Blicken von Edson und Jones versuchten mich in die Mangel zu nehmen, woran sie jedoch kläglich scheiterten. Allerdings fiel mir irgendwie auf, dass die Feindseligkeit aus ihren Stimmen verschwunden war. Gänzlich freundlich waren besonders die Zicken und Kai noch nicht, aber es machte immerhin nicht mehr den Eindruck, dass sie mich am liebsten loswerden wollten. Viel mehr schien der Vorfall ihr Interesse an mir geweckt zu haben, was ich mit geteilter Meinung registrierte.
Am nächsten Morgen wurden wir früh geweckt und zwei Teams mussten sich um das Frühstück kümmern. Heute würden wir eine Wanderung über einen der niedrigen Berge in der Nähe vornehmen, wobei Zaubern strikt verboten war und daher nur die Lehrer für Notfälle ihre Zauberstäbe mitnehmen würden. Einige stöhnten darüber, aber die meisten freuten sich eigentlich auf das kleine Abenteuer und hofften, dass etwas Spannendes passieren würde.
Beim Frühstück wurde ich allerdings auch noch schön überrascht, denn statt wie sonst immer eher entfernt von den anderen zu sitzen, holten mich Tina und Birgitt, die zwei wesentlich netteren Mädchen, in ihre Mitte und auch Jasper wollte sich gerne mit mir unterhalten. Sogar der leicht arrogante Schönling, wie ich ihn im Stillen nannte, Edward zeigte Gefallen an einer Konversation mit mir. Ich war zwar etwas irritiert, freute mich jedoch auch irgendwo. Vielleicht hatte der Vorfall auch sein Gutes, wobei ich noch ein wenig vorsichtig war.
Dann mussten wir unsere mitgebrachten Rucksäcke mit Proviant, einer Landkarte, Kompass und einigen Sachen für Erste Hilfe packen und trafen uns vorm Haus. Nachdem die beiden Lehrer durchgezählt hatten, marschierten wir in recht strammem Tempo los und genossen nebenbei die Aussicht. Der Ausflug sollte uns an den Stellen, an denen wir keine Magie einsetzen durften, wohl daran erinnern, wie man auch ohne magische Kräfte auskam. Denn es konnte auch vorkommen, dass man aus den verschiedensten Gründen keine Magie einsetzen konnte, und in solchen Situationen musste man sich ja schließlich auch zu helfen wissen. Der Kurs schien das aber trotzdem mehr wie einen netten Ausflug anzusehen und eigentlich alle schwatzten fröhlich.
„Wie lange lernst du eigentlich schon Magie?“, fragte Tina neugierig. Sie und Birgitt, die vorher immer still gewesen waren, schienen jegliche Scheu mir gegenüber verloren zu haben und waren schon seit einer Weile dabei mich auszufragen.
„Seit ich sechs bin etwa.. schätze ich mal“, antwortete ich nachdenklich.
„Und wie lange hast du gebraucht, bis du ohne Zauberstab zaubern konntest?“, fragte Birgitt. So langsam erinnerten die beiden mich an Clare mit ihren ganzen Fragen.
„Etwas mehr als ein Jahr.“
„Wow.“
„Ganz schön lange.“
Die Jungs ein Stück hinter uns schienen uns ebenfalls zuzuhören, jedenfalls hatte ich noch nicht mitbekommen, dass sie sich auch mal unterhielten. Vermutlich waren sie genauso neugierig wie die beiden Mädchen neben mir, trauten sich nur nicht richtig mit ins Gespräch einzusteigen.
„Wer hat dich eigentlich unterrichtet?“ Oh, scheinbar war da doch ein mutiger Junge. Edward hatte zu uns aufgeholt und strich sich einige seiner glänzenden hellbraunen Haare aus dem Gesicht. Er schien diese Geste absichtlich so elegant wie möglich zu vollführen, meine Güte war der von sich eingenommen.
„Meine Tante“, erwiderte ich schlicht.
„Sie war bestimmt eine verdammt gute Magierin“, vermutete Jasper. Da war ja schon der Nächste.
„Ja.“
„Konnte sie auch ohne Zauberstab Magie benutzen?“, fragte Birgitt.
„Nein, sie hatte ihre magischen Kräfte zu wenig unter Kontrolle“, antwortete ich und seufzte leise, „Das funktioniert nur mit einer wahnsinnigen Selbstkontrolle, also versucht bitte nicht das nachzumachen. Was glaubt ihr, wie oft ich bei meinen ersten Versuchen in Ohnmacht gefallen bin? Nicht selten hätten dabei meine Gehirnfunktionen beeinträchtigt werden können. Tut mir also bitte den Gefallen und benutzt weiterhin eure Zauberstäbe, ich habe keine Lust dafür verantwortlich zu sein, dass ihr mit solchem Schwachsinn anfangt.“
„Jawohl“, seufzte Tina, „Was das angeht sollten wir wohl besser auf dich hören.“
„Das würde ich euch raten.“
„Spiel dich bloß nicht so auf.“
Ich blickte über meine Schulter und sah Thomas vielsagend an. „Wenn du ein Problem hast, komm her und wir regeln das. Ich habe keine Lust die ganze Zeit über so von hinten angestarrt zu werden.“
„Pff.“ Da war aber jemand beleidigt. Dabei hatte ich ihn sogar gerettet, von Dankbarkeit schien der Kerl noch nie was gehört zu haben.
Mittlerweile waren wir auf einem großen Vorsprung angekommen, der dem ähnelte, von dem aus ich gestern das Unwetter beobachtet hatte. Nur waren wir hier ein ganzes Stück weiter oben und ich konnte ganz weit hinten hinter den Wäldern eine kleine Stadt ausmachen. Wir waren hier wirklich ganz schön abgelegen.
„Hier legen wir eine Rast ein“, sagte Edson und stellte seinen Rucksack neben einem Baumstamm ab. Sein Kollege Jones tat es ihm gleich und streckte sich erstmal, dass man die Muskeln unter seinem T-shirt deutlich sehen konnte.
Wir Schüler stellten unsere Sachen ebenfalls ab und waren froh, dass wir sie für mindestens eine halbe Stunde nicht mehr auf dem Rücken mit uns schleppen mussten. Die anderen suchten gleich nach ihrem Essen und Trinken und machten es sich auf einigen abgeholzten Baumstämmen bequem. Ich schlenderte erstmal bis zum Felsvorsprung und blickte interessiert nach unten. Die Felswand war relativ uneben und nicht über neunzig Grad steil. Hier konnte man gut klettern, doch ich sollte mir meine Kräfte wohl besser für den weiteren Marsch aufsparen.
„Ganz schön hoch“, stellte Jake fest, der neben mich getreten war und über den Rand spähte.
„Pass auf, dass du bei deinem Talent nicht nach unten fliegst“, warnte ich ihn.
„Ja.. guter Einwand“, gestand er mit einem schiefen Lächeln und wandte sich wieder zum Gehen.
Im selben Moment spürte ich jedoch ein plötzliches Aufwallen magischer Kräfte und als ich nach oben blickte, entdeckte ich am Himmel direkt über uns eine einzelne, finstere Gewitterwolke. Die anderen schienen ebenfalls erschrocken zu sein, jedenfalls hörte ich ihre Rufe. Doch kaum hatte ich das schwarze Ungeheuer entdeckt, zuckte auch schon ein Blitz herab und ich hörte das Knirschen und Bersten von Gestein. Bevor ich aber realisierte, was überhaupt geschah, fiel ich bereits in die Tiefe. Ich war so verdattert, dass ich noch nicht mal in der Lage war zu schreien. Sogar mein sonst so einsatzfreudiges Hirn schien in ausgerechnet diesem Moment komplett einfallslos zu sein.
Doch als mir gerade bewusst wurde, wie sehr ich in der Klemme steckte, sah ich über mir plötzlich einen Schatten. Die Hand, die ich aus Reflex heraus nach oben gestreckt hatte, wurde mit einem Mal gepackt und ich spürte, wie ich zu dieser Person herangezogen wurde, die wie aus dem Nichts heraus über mir aufgetaucht war. Ein starker Arm legte sich um meine Taille und obwohl wir noch immer fielen, hatte ich das Gefühl in Sicherheit zu sein.
„O pedes invenit in ipsum aere translucent et discit ambulare eam.“
Mit einem Mal hatte der Fall ein Ende und ich hielt mich etwas überrascht an meinem Retter fest. Der Blick runter in die Tiefe ließ mich ziemlich erleichtert darüber sein, dass mir dieser Höllentrip erspart blieb. Wenn ich richtig gehört hatte, war das ein Spruch, der es einem erlaubte auch in der Luft Halt zu finden. Es war jedoch ein sehr schwerer Zauber, da es höchste Konzentration erforderte an einer bestimmten Stelle in der Luft zu stehen. Nichts, was ein Anfänger zustande bringen würde. Dennoch fiel mir gerade auf, dass mein Retter die Schuluniform der Dalton Academy trug.
„Alles in Ordnung?“
Seine Stimme war so anders, dass ich ihn bald nicht erkannt hätte. Sie klang viel ernster und erwachsener als sonst und auch der Blick aus diesen himmelblauen Augen mit einigen dunklen Sprenkeln schien irgendwie anders.
„Jake...“ Ich konnte es kaum glauben. Dieser sonst so tollpatschige Blondschopf hatte mich gerade gerettet.
„Ups.“ Ihm schien auch gerade aufzufallen, was er tat. „Scheint als wäre die Situation ernst genug, um mich so weit zu bringen“, stellte er ein wenig verwundert fest und sah sich um, „Aber eine nette Aussicht von hier.“
„Ähm.. schöne Aussicht hin oder her, eine kleine Erklärung wäre sehr hilfreich“, bemerkte ich ungläubig. Außerdem fand ich es auf halber Höhe der Felswand nicht sehr gemütlich, obwohl ich mich komischerweise nach wie vor sicher fühlte. Anders als sonst in seiner Gegenwart. Als wäre er eine ganz andere Person, mit dieser ganz leicht tieferen, samtenen Stimme und den irgendwie weiseren Augen. Seine ganze Haltung und Ausstrahlung war viel erwachsener und selbst seine hellblonden Haare schienen ein wenig anders zu sein, obwohl sie ähnlich zerzaust waren wie sonst auch.
„Findest du?“ Die Besorgnis verschwand langsam aus seinem Blick und seine Stimme schien nun schon beinahe einen selbstgefälligen Klang anzunehmen. „Und wenn ich sie dir verweigere?“
„Dann kriegst du was auf die Glocke!“, erwiderte ich. Im Stillen lobte ich meinen Hirnkasten dafür, dass er trotz Jakes unglaublicher Veränderungen noch passende Kommentare ausspuckte.
„Das wäre keine so gute Idee“, warf er schmunzelnd ein, „Dann machst du nämlich einen Abgang nach unten und die Landung könnte schmerzhaft werden.“
Es war jedoch ganz schön schwer so zu tun als wäre ich nicht völlig verblüfft von dieser mir unbekannten Seite von Jake. „Wo wir gerade schon dabei sind, würde es dir etwas ausmachen wieder nach oben zu springen? Es wird hier langsam etwas windig.“
„Stimmt.“ Plötzlich nahm er mich wie eine Prinzessin auf die Arme und ließ sich jedoch ruckartig ein Stück absenken, sodass ich mich abermals überrascht an ihm festhalten musste. Im nächsten Augenblick landete er auf einem etwas größeren Felsvorsprung an der Wand und ich wurde wieder auf meine eigenen Füße gestellt.
„So besser?“ Er hatte immer noch dieses ganz leicht arrogante Lächeln im Gesicht.
„Werd bloß nicht übermütig“, warnte ich.
„Hatte ich nicht vor.“
„Und wozu sind wir jetzt hier gelandet, wenn wir nach da oben müssen?“, fragte ich ein wenig verärgert.
Sein Lächeln war ein wenig schief. „Tut mir leid, aber ich hab auch so meine Gründe.“
Ich sah ihn lediglich vielsagend an.
„Sie werden uns bestimmt gleich wieder hoch holen“, bemerkte er und ein Lächeln wurde noch ein Stück schiefer. Er trat einen Schritt zur Seite, schien jedoch plötzlich wieder in seine übliche Tollpatschigkeit zu verfallen und rutschte weg. Ich bekam ihn nur gerade noch am Oberarm zu fassen und konnte somit verhindern, dass nun er nach unten stürzte.
„Also ehrlich“, stöhnte ich und zog ihn wieder hoch, „Wie kann jemand, der vor einer Sekunde noch einen Zauber von mindestens Level C ausgesprochen und ohne Zauberstab fehlerfrei angewendet hat, im nächsten Augenblick wieder so übermenschlich tollpatschig sein? Mal davon abgesehen, wie du bei deinem Fähigkeitenstand überhaupt in der Lage sein kannst einen solchen Zauber zu benutzen.“ Und diese äußeren Veränderungen würden mich ja auch mal sehr interessieren.
Seine Antwort bestand wie so häufig aus einem schrägen Lächeln, das nicht gerade sehr glücklich wirkte.
„Hey! Alles in Ordnung bei euch?!“
Scheinbar hatten die anderen uns von oben aus entdeckt und ich blickte hinauf, um zu winken.
„Wir lassen ein Seil herunter! Klettert daran wieder hoch!“, rief nun Edson und schon sah ich das Tau. Es reichte gerade eben bis auf unsere Höhe herunter, gut das wir nicht noch weiter unten gelandet waren.
„Schaffst du es in diesem Zustand heil nach oben?“, fragte ich, während ich kurz das Seil testete. Es würde aber einiges an Gewicht halten können, die anderen hatten es anscheinend an einem nahe stehenden Baum festgebunden.
„Wird schon schief gehen“, seufzte er und begann das untere Ende des Seils an seinem Gürtel festzubinden, „Kletter du am besten zuerst nach oben.“
„Meinetwegen.“ Er hatte wahrscheinlich gemeint, dass ich mich als erstes am Seil hochhangeln sollte, während er zur Sicherheit unten wartete. Nur brauchte ich dank meines Trainings kein Seil. Schon gar nicht bei dieser unebenen Felswand mit jeder Menge kleiner Vorsprünge, Ecken, Kanten und dem rauen Gestein. Flink wie ein Äffchen kletterte ich ein Stück neben dem Seil nach oben und blickte nach einigen Sekunden runter zu Jake.
„Wolltest du da unten übernachten?“, fragte ich lediglich.
Der noch leicht verblüffte Junge machte sich daraufhin ebenfalls daran die Felswand zu erklimmen und eine Viertelstunde später – ich hätte es alleine auch in der Hälfte der Zeit schaffen können, hatte aber sicherheitshalber immer wieder auf den Tollpatsch gewartet – waren wir endlich wieder oben.
„Oh Mann, du scheinst es ja wirklich zu mögen anderen Probleme zu bereiten“, vermutete Thomas und stöhnte.
„Als ob ich das absichtlich machen würde“, erwiderte ich, „Und gestern war dein eigener Fehler nicht aufgepasst zu haben.“
„DU!“
„Aber woher kam dieser Blitz so plötzlich?“, fragte Jasper beunruhigt.
„Stimmt.“ Tina runzelte die Stirn. „Ich hab auch noch nie davon gehört, dass eine einzelne Gewitterwolke so plötzlich irgendwo auftaucht.“
Mir war bereits aufgefallen, dass die anderen Schüler es nicht bemerkt hatten und die Lehrer absichtlich darüber schwiegen, dass die Wolke keineswegs natürlich gewesen war.
„Ich hab so was schon mal erlebt“, log ich schlicht, „Eine Art Blitzgewitter, die Dinger kommen nur selten vor, aber wenn in solch bergigen Regionen wie hier. Macht euch keine Sorgen, ich glaube nicht, dass wir nochmal so etwas zu sehen bekommen.“
Ich sah die dankbaren Blicke von Edson und Jones aus den Augenwinkeln und seufzte lediglich lautlos. Es gefiel mir auch nicht darüber nachzudenken, dass wir eventuell verfolgt wurden. Aber wenn ich mich recht erinnerte, hatte dieser Schwarze Magier „Robert Dante“ gesagt, und unter uns war keiner mit diesem Namen. Einen falschen Namen zu benutzen, wenn sie jemanden suchten, ergab keinen Sinn, insofern konnte ich davon ausgehen, dass das der Richtige war. Nur zu wem gehörte er? Und wenn diese Bastarde noch nicht mal wussten, wie dieser Junge oder Mann aussah, warum hatten sie es dann auf diese Gruppe hier abgesehen? Ich knurrte leise und erntete dafür einige verständnislose Blicke.
Nach dem ‚Unfall‘ schlugen die Lehrer vor, dass wir lieber zurückgehen sollten, da es eh bereits Mittag war und Jake und ich uns von dem Schreck erholen mussten, plötzlich von der Klippe gestürzt zu sein. Fast war ich versucht gewesen zu sagen, dass ich mich keineswegs von irgendetwas erholen musste, aber das wäre unfair gewesen. Außerdem war es, sollten wir wirklich von jemandem beobachtet und gezielt angegriffen werden, wesentlich sicherer, wenn wir uns nicht hier draußen in unbekanntem Gelände befanden. Zudem fiel mir ein, dass es da auch noch eine Kleinigkeit gab, die mich interessierte.
„Also, was genau ist da bei unserem Absturz mit dir passiert?“, fragte ich den Tollpatsch als wir alle wieder auf unseren Zimmern waren. So eingehend ich ihn auch unter die Lupe genommen hatte, er war wieder völlig normal wie ich ihn kannte. Aber diese Veränderungen konnte ich mir nicht alle auf einmal eingebildet haben, also steckte irgendetwas dahinter, was ich zu gerne herausfinden würde. Wahrscheinlich sprach mein unnachgiebiger Gesichtsausdruck das auch aus.
„Ich hab´s geahnt“, murmelte er unsicher und rückte weiter in die Ecke seines Bettes.
„Normalerweise wäre mir so etwas ja egal, aber das war einfach zu schräg“, bemerkte ich und verschränkte die Arme vor der Brust, während ich mich wieder auf die Kante des Schreibtisches setzte, „Es war als wärst du eine komplett andere Person und das ist selbst für meinen Geschmack ein wenig zufiel. Könntest du das daher bitte erklären?“
Er wich meinem Blick aus. „Das ist nichts, worüber ich reden möchte. Wirklich. Du willst doch über einige Sachen auch nicht reden und ich lasse dich damit in Ruhe.“
„Und wenn ich dir im Gegenzug etwas von mir erzähle?“ Das ging mir jetzt ehrlich auf die Nerven.
Jake schüttelte nur den Kopf. Er zog die Beine an und vergrub dann auf einmal seinen Kopf in ihnen als wäre er ein kleines Kind, das am liebsten weinen wollte. Dieser Anblick irritierte mich noch mehr und ich fasste mir mit einer Hand an die Stirn.
„Und ich dachte, ich wäre kompliziert“, murmelte ich und ging zur Tür, „Tu und lass was du willst. Wenn es dir so unangenehm ist darüber zu reden, werde ich nicht mehr fragen.“
Wenn ich mich recht erinnerte, war das vor knapp neun Jahren passiert, kurz nachdem ich acht Jahre alt geworden war:
„So Christarose, wir sind das jetzt oft genug durchgegangen“, hatte Tantchen Rosebad gesagt, „Du wirst einen der Elementargeister beschwören und ihn bitten, einen Vertrag mit dir einzugehen. Die Geister können manchmal ein wenig hochnäsig sein, aber lass dir keinen unverschämten Preis für den Pakt aufdrücken. Hast du verstanden?“
„Ja-wohl.“ Da sie mich schon so früh geweckt – es war gerade mal kurz nach sechs – und nach draußen in den großen Garten geschleppt hatte, war ich nicht bei bester Laune gewesen. „Und nenn mich nicht Christarose! Nur Chris!“
Meine Tante seufzte. „Ich weiß, dass du deinen Namen nicht magst, aber denk daran, dass deine Mutter ihn für dich ausgesucht hat. Halte ihn wenigstens ein bisschen in Ehren.“
„Jaaaa.“ Ich mochte ihn einfach nicht. „Und jetzt geh. Wenn du mir dabei zuschaust, kann ich mich wieder nicht richtig konzentrieren.“
„Also wirklich, du bist anstrengend“, stöhnte Rosebad und wandte sich zum Gehen, „Aber na schön. Ruf mich, sobald du den Pakt geschlossen hast und stell mich deinem Geist dann ordentlich vor.“
„Jetzt geh schon!“
„Heute Abend gibt es keine Klöße, wenn du so weitermachst.“
Da hielt ich doch lieber schnell meinen Mund und wartete, bis Tantchen wieder im Haus verschwunden war. Dann atmete ich tief ein und konzentrierte mich. „Eorum maligno spiritu inter terram et caelum, audite vocem meam! Et venit in vestri mundum, iubet audire precem. Obsecro vos sanctos entia, pulchriores pueri cerasus et aestas sicut tempestas valida. Da mihi manum tuam, angelicae creatura te, et permitto facie tua cerni.“
Noch während ich die Formel sprach, hatte ich das Gefühl, irgendwo einen Fehler gemacht zu haben. Doch der mit Kreide auf den Stein gezeichnete Schutzkreis leuchtete ganz normal auf und daher nahm ich an, dass doch alles gestimmt hatte. Die Luft innerhalb des Kreises flimmerte und für einen Moment wurde alles völlig undeutlich, bis ich eine Gestalt ausmachen konnte und der Nebel verschwand. Es sah aus wie ein hochgewachsener, junger Mann Anfang bis Mitte zwanzig, doch Menschen konnte man nicht beschwören, daher nahm ich an, dass der Geist einfach diese Form angenommen hatte.
In dem Moment hatte er sich stirnrunzelnd umgesehen und daher auch das kleine Mädchen hinter ihm entdeckt, das ihn ein wenig verwundert musterte.
„Wo bin ich?“ Seine Stimme klang irgendwie ziemlich unfreundlich. Auch sein schönes Gesicht machte den Eindruck, dass er verärgert war.
„In der Menschenwelt“, antwortete ich und erinnerte mich wieder daran, was der Zweck dieser Beschwörung war, „Ich soll einen Vertrag mit dir schließen.“
„Mit mir?“ Er hob eine Augenbraue und sah mich resigniert an, bevor er mich mit einem Finger an die Stirn pickte. „Das glaube ich eher weniger, kleine Magierin. Du würdest gut daran tun vor mir wegzulaufen. Deine Sinne scheinen Gefahren gegenüber ja noch nicht sehr ausgeprägt zu sein.“
„Sie sind voll in Ordnung“, erwiderte ich beleidigt, „Und wenn ich keinen Vertrag schließe, wird Tante Rosebad wieder sauer. Also was ist dein Preis?“
„Du bist echt unglaublich“, stöhnte er und gab mir dieses Mal einen kräftigeren Stoß gegen die Stirn, sodass ich nach hinten stolperte und auf dem Hintern landete. Damals war mir entfallen, dass sich die Geister normalerweise nicht aus dem Kreis rausbewegen konnten, bis ich ihn wieder unterbrach, was ich bisher nicht getan hatte. „Und ich habe keine gute Laune, Kleine, du solltest mir besser nicht noch weiter in die Quere kommen, sonst könnte das schmerzhaft für dich enden.“
Ich knurrte wütend. „Reliqua!“ Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich das nicht als normales Wort sondern als magischen Befehl ausgesprochen hatte.
Der Mann, der eigentlich hatte gehen wollen, blieb stockend stehen und machte eindeutig Versuche sich zu bewegen. „Was soll das denn?“ Nur egal wie sehr er es mit normalen Bewegungen versuchte, es wollte nicht funktionieren.
Ich kam währenddessen wieder auf die noch recht kurzen Beine und klopfte schmollend meine Hose ab.
„Hey! Kleine! Heb sofort den Zauber wieder auf!“, befahl er fluchend. Wie konnte ein so kleines Menschenmädchen genügend Macht haben ihn mit einem so einfachen Zauber festzuhalten? Es war ihm unbegreiflich und nur unter großem Aufwand schaffte er es über seine Schulter zu blicken.
„Dann bleib hier und mach den Vertrag“, erwiderte ich trotzig.
„Also ehrlich“, stöhnte er und schien am liebsten den Kopf schütteln zu wollen, „Heb erstmal den Zauber auf, es ist reichlich unbequem so zu stehen.“
Ich überlegte kurz, sagte dann aber: „Solvere.“
Daraufhin konnte er sich wieder bewegen und schien kurz seinen Kopf wieder einzurenken, bevor er mich von oben herab skeptisch musterte. Einige Sekunden lang sah er mich so an, dann ging er vor mir in die Hocke und inspizierte mich wieder einige Sekunden lang argwöhnisch. Als er dann nach meinem Kopf griff, um diesen anscheinend auch noch von allen Seiten anzusehen, weiteten sich seine Augen auf einmal.
„Hooo...“ Seine Augenbrauen wanderten nach oben. „Für eine junge Magierin besitzt du wirklich außergewöhnlich viel Macht. Du bist ein Reinblut, habe ich recht?“
Ich war ein wenig unsicher geworden, denn von den Geistern, die ich bisher beschworen hatte, war kein einziger auch nur annähernd so wie er gewesen, doch womöglich war er ein außergewöhnliches Exemplar. „Vielleicht.“
Seine Lippen verzogen sich zu einem triumphierenden Lächeln. „Was bietest du mir denn als Preis an?“
„Legt ihr Geister das nicht eigentlich selber fest?“, fragte ich mit schief gelegtem Kopf.
„Pfff...“ Jetzt begann dieser komische Mann auch noch zu kichern. „Oh Kleine, du hast wirklich noch eine ganze Menge zu lernen. Aber wenn du mir die Wahl überlässt, will ich einen Teil deiner Kraft.“
„Und was ist die Gegenleistung?“ Mir war gerade eingefallen, dass so ein Vertrag immer darauf beruhte, dass beide Seiten davon profitierten. Und von bloß einem Vertrag hatte ich nichts, also musste da noch schnell etwas her. Ich hatte damals völlig vergessen, dass die Geister normalerweise für einen Vertrag über kurze Zeit meistens nur etwas Glitzerndes oder Funkelndes wie bunten Schmuck oder so verlangten. Sie mochten das Zeug irgendwie.
„Hm...“ Er fasste mir auf einmal unter das Kinn und hob meinen Kopf an, sodass ich seinem Gesicht relativ nahe kam. „Aus dir wird mal eine schöne junge Frau werden.. und da du deines Blutes wegen wohl früher oder später noch in so mancher Klemme stecken wirst.. wie wäre es, wenn ich dir in einem solchen Fall meinen Schutz anbiete. Einen Teil von deiner Kraft für meinen Schutz.“
„Äh.. ich glaube, das geht“, sagte ich zögerlich. So weit war ich mit dem Unterricht bei Rose noch nicht gekommen, aber das sollte wohl klargehen. Zumindest schien es ein guter Handel zu sein.
„Gut, wie ist dein Name, Kleine?“ Seine goldgelben Augen funkelten wie die Sterne am dunklen Nachthimmel.
„Chris.. na ja, Christarose MacAlister“, antwortete ich, da es für einen Vertrag den vollen Namen brauchte, „Und du?“
„Julien Van Black“, erwiderte er mit seiner geheimnisvollen Stimme und beugte sich auf einmal vor. Er hauchte einen Kuss auf meinen Halsansatz und murmelte: „Hiermit bitte ich um einen Vertrag unter den genannten Bedingungen. Ich, Julien Van Black, erkenne Christarose MacAlister als meine rechtmäßige Vertragspartnerin an.“
„Hiermit akzeptiere ich den Vertrag“, sagte ich leise, die geküsste Stelle an meinem Halsansatz kribbelte ein wenig seltsam, „Ich, Christarose MacAlister, erkenne Julien Van Black als meinen rechtmäßigen Vertragspartner an.“ Damit hauchte ich einen Kuss auf dieselbe Stelle an seinem Halsansatz und für einen Augenblick begannen die beiden Stellen zu schimmern, während sich das Symbol des Vertrages herausbildete.
„Das wird interessant werden“, murmelte Julien und lächelte, als sich das Kribbeln in unser beider Hälse wieder einstellte, sobald das Symbol vollständig erschienen war. Da er immer noch vor mir hockte, konnte ich die kleine Rosenblüte erkennen, die nun wie ein Tattoo in seinem Hals eingraviert war und auch bei mir sein dürfte. Dann richtete er sich auf und zerzauste mir auf einmal mein schönes, dunkelbraunes Haar. „Ich kann Menschen nicht ausstehen, aber du gefällst mir, Kleine.“
„Chris“, sagte ich beleidigt, „Benutz wenigstens meinen Namen.“
„Sorry, sorry, mein Fehler“, schmunzelte er und sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an, „Und du hast wirklich keine Angst vor mir? Eigentlich solltest du bei deinem Potenzial in der Lage sein meine Kräfte zu spüren.“
„Nö.“ Ich schüttelte den Kopf.
In dem Augenblick hörten wir das Zerspringen von Porzellan auf Stein und ich sah mich zusammen mit Julien um. Tante Rosebad stand in der Terassentür und starrte den jungen Mann hinter mir fassungslos an.
„Geh sofort weg von ihm, Chris!“, rief sie erschrocken und eilte nach draußen, „Lass sie ja in Ruhe, Dämon!“
„Dämon?“ Ich sah ihn schief an. „Du bist ein Dämon?“
„So sieht es aus, Kleine.“ Sein Grinsen deutete darauf hin, dass er erwartete, dass ich nun genauso reagierte wie meine Tante.
„Komisch, das war doch die Formel zur Beschwörung von Geistern“, dachte ich jedoch laut nach und grübelte, „Scheinbar hab ich doch irgendetwas falsch gemacht.“
Rose stand inzwischen hinter mir und zog mich schnell an sich. „Wage es nicht dieses Mädchen anzurühren!“, fauchte sie, dass ihre goldenen Locken flogen. Sie hatte jedoch auch Angst, wie deutlich zu spüren war.
Julien zuckte lediglich mit den Schultern. „Keine Sorge, Lady, ich werde meiner Vertragspartnerin schon nichts antun.“
„Vertrags...“ Sie sah mich fassungslos an.
„Hehe, sieht so aus als hätte ich aus Versehen einen Vertrag mit einem Dämon geschlossen“, stellte ich mit einem schiefen Lächeln fest, „Jetzt weiß ich wenigstens, warum er so anders aussieht als die anderen Geister.“
Daraufhin kippte die Frau hinten über und fiel vor lauter Fassungslosigkeit glatt in Ohnmacht. Ich versuchte noch meine Tante abzufangen, doch leider war sie etwas zu schwer für mich und ich wurde halb unter ihr begraben.
„Eeeeh, manno.“ Ich versuchte hervorzukriechen, aber ich hing fest.
Julien musterte die Szene nur mit wachsender Belustigung, bis er schließlich anfing zu kichern und ich resigniert das Gesicht verzog.
„Du hättest mir gerne sagen können, dass du ein Dämon bist“, bemerkte ich.
„Ich war der Meinung, meine Hinweise darauf, dass ich keiner dieser schwachen Geister bin, wären eindeutig gewesen“, erwiderte er amüsiert, „Auch wenn ich zugeben muss, dass es mich wirklich erstaunt, dass du in der Lage gewesen bist mich zu rufen.“
„Ja ja, hättest du denn jetzt auch die Freundlichkeit mir zu helfen?“
Nach dem Abendessen war ich noch ein wenig draußen gewesen, wobei ich Edson und Jones hatte versprechen müssen, nicht zu weit von der Hütte wegzugehen. Inzwischen dürfte es nach zehn sein und ich kehrte in mein Zimmer zurück. Ich hatte erwartet, dass Jake nach dem Theater heute bereits im Bett liegen würde, doch der Junge saß vor dem geöffneten Fenster auf der Fensterbank und blickte nach draußen.
„Sollten Kinder nicht allmählich im Bett sein?“, fragte ich und zog die dünne Strickjacke aus, die ich über dem T-shirt und der Jeans getragen hatte.
„Wo warst du so lange?“, erwiderte er und sah mich an.
„Draußen.“
„Ah...“
Ich hob eine Augenbraue. „Du klingst so, als wolltest du etwas sagen.“
„Du wolltest doch wissen, was das heute Mittag war, als du abgestürzt bist und ich hinterher gesprungen bin.“
„Du bist gar nicht gefallen?“ Das überraschte mich jetzt.
„Nein, der Blitz hat genau hinter dir in den Fels geschlagen und ihn zum Abbröckeln gebracht“, korrigierte Jake.
„Wow.. da fällt mir ein, ich habe mich noch gar nicht für die Rettung bedankt“, stellte ich fest, „Auch wenn es mir nicht gefällt: danke, dass du mich gerettet hast.“
„Äh.. ja.. ähm...“ Er blickte auf einmal wieder zur Seite.
„Ist was?“, fragte ich nun stirnrunzelnd.
„Nein.. du bist nur die erste, die mir jemals ehrlich gedankt hat.“
„Häh?“ Das kam mir jetzt spanisch vor und ich sah ihn verwirrt an. „Du bist doch im selben Alter wie ich.. wie kann es sein, dass dir da noch nie jemand danke gesagt hat?“
Jake blickte aus dem Fenster, aber ich konnte trotz der Dunkelheit seinen unglücklichen Gesichtsausdruck erahnen. „Ich bin ein uneheliches Kind“, sagte er leise, „Meine Mutter Elena war mit meinem Stiefvater Willam verheiratet, hat sich jedoch in einen anderen Mann verliebt und aus dieser Liebe bin ich entstanden. Mein Stiefvater war nur so wütend über den Betrug meiner Mutter, dass er meinen leiblichen Vater hat umbringen lassen, als dieser sie wohl aus Willams Haus holen wollte. Ihm war es aber nie genug nur meinen Vater umgebracht zu haben, denn meine Mutter hat trotz seinem Widerwillen das Kind ihres Geliebten ausgetragen, und er lässt seinen Ärger deswegen an mir aus.“
Ich hatte mich eigentlich gerade umziehen wollen, war jedoch in der Bewegung verharrt und starrte den Jungen ungläubig an.
„Ich konnte es meinem Stiefvater nie recht machen, egal was ich tat“, seufzte Jake und sah seine Handfläche nachdenklich an, „Vielleicht bin ich deshalb irgendwann so tollpatschig geworden, weil er mich schon immer so bezeichnet hat, obwohl ich früher wesentlich geschickter war als heute. Na ja, man könnte fast sagen, dass ich seit ich in der Lage war zu verstehen, dass das Tun dieses Mannes falsch ist, eine geteilte Persönlichkeit habe.“
Noel landete flatternd auf meiner Schulter und sah mich schief an.
„Das Ich, das in der Lage ist auch ohne Zauberstab schwierige Magie anzuwenden, kommt nur noch dann zu Tage, wenn die Situation ganz übel aussieht“, fuhr er fort, „Die meiste Zeit hat mein tollpatschiges Ich die Gewalt über diesen Körper und lässt mir so gut wie alles misslingen, was ich anpacke.. Ich bin echt erbärmlich, nicht?“
„Soll ich das jetzt mit einem Ja oder Nein beantworten?“, fragte ich mit einer hochgezogenen Augenbraue. Ich war immer noch geschockt von dieser Geschichte, doch das wollte ich mir nicht anmerken lassen.
„Was du für richtig hältst.“ Er klang niedergeschlagen, wie ein verprügeltes Kind, und das machte mir irgendwie zu schaffen. Es passte nicht zu ihm.
„So wie du dich jetzt benimmst, würde ich das glatt mit einem Ja beantworten“, antwortete ich ehrlich, „Aber wenn du dich jetzt mal wieder fängst und aufhörst derart pessimistisch zu sein, lautet meine Antwort nein.“
„Wie soll ich bitteschön positiv denken?“ Die Verzweiflung war ihm nun deutlich anzuhören. „Ich habe Angst vor meinem Stiefvater! Und mit dieser Tollpatschigkeit werde ich nie im Leben etwas zustande bringen, weshalb er mich wieder schlagen wird! Was...“
„Situlae et aqua.“ In meiner Hand erschien ein Eimer voll kaltem Wasser, den ich kurzerhand über Jake ausgoss. „Geht es dir jetzt wieder besser?“
Dieser völlig fassungslose Blick unter den triefend nassen, hellblonden Haaren sah gar nicht mal so schlecht aus.
„Finde dich damit ab, dass du bist wie du bist“, sagte ich und ließ den Eimer wieder verschwinden, „Mach einfach das Beste draus und trete vor allem deinem bescheuerten Stiefvater mal kräftig in den Arsch, wenn du wieder Zuhause bist.“
„Eh?“ Erst sah er mich einige Sekunden lang ziemlich irritiert an, dann fing er plötzlich an zu lachen und schüttelte den Kopf, dass mir beinahe einige der nassen Tropfen entgegenflogen.
„Ah ja, also geht es dir besser“, stellte ich leicht resigniert fest, „Invicem.“
Es war praktisch die Klamotten mit einem einfachen magischen Kommando wechseln zu können, gut dass ich das vorher schon vorbereit hatte. So musste ich mir wenigstens keinen Kopf darum machen, dass der Kerl heimlich zuschauen konnte. Da nun eh alle wussten, dass ich auch ohne Zauberstab Magie einsetzen konnte, machte das ja nichts mehr.
„Ja, dank dir“, sagte er und sah mich mit einem freundlichen und dieses Mal zweifellosem Lächeln an. Dann runzelte er die Stirn. „Du hast da irgendwas am Hals.“
Verdammt! Mir war gar nicht aufgefallen, dass der Mond direkt auf das Fenster stand. Schnell deckte ich mit meiner Hand das Vertragsmal ab, das man dank Rosebads Zauber wenigstens nur noch im Mondlicht sehen konnte. Gänzlich unsichtbar machen war leider unmöglich, aber so war es wenigstens tagsüber nicht zu sehen und nachts befand ich mich ja auch eigentlich nie unter dem Mond, der dank der ewigen Nacht in Reiga und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Kräfte der Dämonen das Mal sichtbar werden lassen konnte. Die Male von Geistern waren weiß und es machte nichts, wenn man diese sah, aber das an meinem Hals war leider schwarz – auch wenn es im Mondlicht silbern glitzerte – und wies damit eindeutig auf einen Dämon hin.
„Äääh, das ist nur eine alte Stelle, nichts Besonderes.“ Das klang ja so was von offensichtlich, ich hätte mich ohrfeigen können.
Jake lächelte jedoch nur wieder. „Okay, gute Nacht.“
„Du solltest auch schlafen gehen“, warf ich ein, während ich die Leiter erklomm, „Ich wette Jones und Edson wecken uns morgen wieder früh.“
„Ich leg mich gleich hin“, sagte er und blickte aus dem Fenster. Ein leichter Wind strich herein und spielte mit seinen komischerweise schon wieder trockenen und in dem silbernem Licht seltsam glänzenden, hellblonden Haaren. „Ich will nur noch ein wenig die Aussicht genießen.“
Wieder war da diese geheimnisvolle Aura um ihn herum. Besonders die Fähigkeiten, die er unerwarteter Weise hatte, bestätigten wieder das Bild, das ich bereits schon mal von ihm hatte, als ich noch nicht stundenlang hintereinander seiner Tollpatschigkeit ausgesetzt war. Er war kein gewöhnlicher Junge. So viel stand fest. Auch wenn man es sonst vielleicht nicht bemerkte, war er doch fast genauso schön wie ein Tenebrae und übertraf damit sogar Edward. Aber irgendwie fiel mir das nur sehr selten auf, normalerweise hatte man nicht diesen Eindruck von ihm. Es war komisch, aber auch interessant.
Wie ich es erwartet hatte, holten uns die netten Lehrer auch heute Morgen früh aus den Federn. Ich vermutete, dass Jake doch noch etwas länger wach gewesen, denn seine Müdigkeit führte dazu, dass er noch öfter stolperte, gegen die Möbel rannte und sich die Gräten stieß. Dazu ließ er auch beinahe das Tablett mit seinem Frühstück fallen, das ich gerade noch vor dem Sturz bewahren konnte.
Heute nahm ich Tina und Birgitt während des Frühstücks mit persönlichen Fragen ähnlich in die Mangel, wie sie es gestern mit mir gemacht hatten. Die beiden waren jedoch sehr erzählfreudig und berichteten fröhlich von der glücklichen Kindheit in der Obhut ihrer Eltern, bis man festgestellt hatte, dass sie magische Kräfte besaßen, und sie dann halbtags immer auf eine Grundschule für Magier geschickt hatte. Die beiden klangen relativ glücklich, daher nahm ich an, dass sie Spaß gehabt hatten. Meine Kindheit war zwar zum Teil auch lustig gewesen, hatte aber hauptsächlich aus dem Training bei Tante Rose bestanden, weshalb ich eher selten dazu gekommen war mich wie ein normales Kind zu benehmen.
Anschließend erklärten Edson und Jones die heutige Tour anhand einer Landkarte. Wir sollten etwa einen halben Tag brauchen, bis wir in der Kleinstadt waren, die wir gestern schon vom Berg aus gesehen hatten. Dort würden wir ein paar Besorgungen machen und dann wieder hier her zurückkehren, das würde so gegen Abend sein. Magie war wieder verboten, das praktische Training mit Zauber würde ab morgen kommen. Heute war wieder da um unsere körperliche Kondition zu testen.
So marschierten wir zeitig los und nahmen dieses Mal den Weg durch das Tal. Die Natur war hier genauso schön und es war wesentlich bequemer als bergauf steigen zu müssen. Wir machten auch kurz Rast am Ufer des kleinen Flusses und staunten darüber, wie herrlich klar und kalt das Bergwasser war. Die Sonne stand hoch am Himmel und es war ziemlich warm, doch unter den Bäumen im Schatten ließ es sich aushalten.
„Ach, solche Ausflüge sind doch was Schönes“, schwärmte Tina und streckte sich.
Ich hatte schon seit geraumer Zeit das Gefühl, dass wir etwas vergessen hatten, und ich sah den beiden Lehrern an, dass sie meine Befürchtung teilten. Nur was konnte das sein? Ich sah mich um. Da waren Thomas und Kai, die mich scheinbar nach wie vor nicht leiden konnten; unsere Bücherwürmer Henri und Henrik, die beschlossen hatten mich weiterhin zu ignorieren; Tina und Birgitt, die mich bereits zu ihrer Freundin erklärt hatten; Jasper und Edward, die mittlerweile nichts mehr gegen mich zu haben schienen; und zu Letzt noch Jake und mich. Das waren volle zehn Personen.
„Moment mal...“ Ich blieb stehen und fasste mir an den Kopf, als ich angestrengt nachdachte, „Hier stimmt was nicht.. Mr Edson, wie viele sind wir in diesem Kurs?“
„Äh...“ Komischerweise schien er erstmal nachdenken zu müssen. „Zehn.. oder?“
„Mein Kopf sagt auch, dass es zehn sind, aber mein Gefühl ist da anderer Meinung“, murmelte ich und zwang meinen Kopf mit aller Macht sich an letzte Nacht zu erinnern. Nach der Sache mit Jake war ich relativ schnell eingeschlafen und da war auch meines Erachtens nichts mehr passiert, aber mir fiel auf einmal ein, dass ich vorletzte Nacht zwischenzeitig im Halbschlaf ein seltsames Gemurmel gehört hatte.
„Alles klar?“, fragte Birgitt besorgt.
„Verdammt!“ Jetzt war es mir endlich eingefallen. „Jemand hat einen Vergessenszauber auf uns allen angewendet!“
„Wie bitte?“ Edson sah mich ungläubig an. „Das ist unmöglich. Keiner kann mir oder Jones einen Zauber aufbürgen, ohne dass wir etwas davon merken. Selbst wenn wir schlafen...“
„In nomine meo, hoc iubere quisque ornare risus quis oblivionis alica“, sagte ich ernst und spürte prompt, wie sich der Zauber über meinen Erinnerungen aufhob.
Den etwas verwirrten Gesichtern nach zu urteilen spürten es auch die anderen. Jones und Edson wirkten nun beinahe entsetzt.
„Wir haben Betty und Jenny vergessen“, sprach ich das aus, was allmählich allen klar werden dürfte, „Schon gestern waren die beiden nicht mehr bei uns, obwohl wir alle zusammen hier angekommen sind. Sie sind verschwunden.“
Es herrschte eine Weile lang Schweigen, in der sich alle unsicher ansahen.
„Was geht hier vor?“, fragte Jasper dann und sah die Lehrer an, „Erst der Schwarze Magier gleich am ersten Tag, gestern der Absturz von Chris und Jake und jetzt sind auch noch zwei von uns verschwunden.. das geht doch nicht mit rechten Dingen zu.“
„Das sind wirklich etwas zu viele Zufälle auf einmal“, gestand Edson und sah seinen Kollegen an. Scheinbar überlegten sie dem Kurs die Wahrheit zu sagen, die sich mit dem Verschwinden von Betty und Jenny nur noch mehr bestätigte.
„Die Frage ist doch jetzt, ob wir weitergehen oder besser umkehren und unsere Sachen packen sollten“, bemerkte ich, „Und was wir wegen unserer beiden Vermissten machen sollen.“
Während die Lehrer nachdachten, setzten wir uns auf der kleinen Lichtung auf das Gras und sahen einander betrübt an. Zwar waren die beiden Mädchen anstrengend gewesen, aber dass sie entführt wurden, war ihnen auch nicht zu gönnen.
Ich versuchte mit einem leise gemurmelten Spruch das umliegende Gelände in Augenschein zu nehmen. Vielleicht gab es ja irgendwo noch eine Hütte, wo die beiden womöglich gefangengehalten wurden. Was ich jedoch statt einem möglichen Ort des Versteckens entdeckte, jagte mir einen furchtbaren Schreck ein.
„Heilige Scheiße.“ Ich taumelte kurz, nachdem ich versuchte hatte für einen Augenblick das gesamte Tal zu überblicken. „Wir sind von Dämonen umzingelt!“
„Was?!“ Alle sahen mich verwirrt an.
„Im gesamten Tal sind überall Dämonen und kommen auf uns zu!“, rief ich gehetzt, „Das ist eine verdammte Falle! Die wollten uns vor der Stadt abfangen!“
Kurz schienen Jones und Edson denselben Zauber wie ich anzuwenden, um die Gegend zu sichten. „Verflucht, du hast Recht“, entfuhr es Jones, „Und bis auf unsere haben wir alle Zauberstäbe im Haus gelassen.“
„Rennt!“, rief Edson, „Mit einer solchen Anzahl können selbst wir es nur schwer aufnehmen, wenn wir euch auch noch beschützen müssen!“
Thomas, Kai, Tina, Birgitt, Jasper, die Bücherwürmer und Edward, die mich zuvor nur ungläubig angesehen hatten, war das Entsetzen nun ins Gesicht geschrieben. Die Rucksäcke ließen sie einfach liegen und rannten wie befohlen los. Ich gab Jake, der sich noch erschrocken umgesehen hatte, einen Stoß und lief mit ihm zusammen den anderen hinterher und die Lehrer direkt hinter uns. Besser gesagt blieb Jones hinter uns, während Edson die Spitze übernahm, um die panische Gruppe in die richtige Richtung zu lenken.
„Was soll dieser Schwachsinn?“, fragte Jones verbissen und blickte immer wieder über seine Schulter. Auch ich spürte, dass unsere Verfolger näher kamen. Außerdem hatte ich unter ihnen auch drei Schwarze Magier entdeckt. Die Aussichten wurden wirklich immer besser.
„Sie scheinen irgendjemanden zu suchen“, erwiderte ich nur und griff Jake unter den Arm, da er schon wieder fast auf der Nase gelandet wäre.
„Tut mir leid“, sagte er leise.
„Lauf lieber statt dich zu entschuldigen.“ Die Lage konnte wirklich kaum schlechter sein. Da ich Jake lieber nicht zu unserer Kampfkraft zählte, waren wir nur drei von zwölf Leuten, die uns gegen die duzenden niederen bis mittelstarken Dämonen verteidigen konnten. An die Schwarzen Magier wollte ich lieber gar nicht erst denken.
„Verfluchter, verdammter Mist!“ Jones biss die Zähne zusammen. „Ed! Sie holen immer weiter auf!“
„Und sie sind bereits bei unserem Haus.“ Ich hatte einen Weitblick nach vorne geworfen und verzog das Gesicht. „Sie haben uns von allen Seiten eingekreist.“
Der Lehrer sah mich entsetzt an und auch Jake zuckte erschrocken. Scheinbar hatten auch die anderen mich gehört, jetzt verfielen sie auch noch in panische Schreie und wurden immer langsamer. Ich hörte an Tinas und Birgitts verzweifelten Rufen, dass sie vor Angst angefangen hatten zu weinen. Kein Wunder, unsere Verteidigung war dank der fehlenden Zauberstäbe nicht gerade gut, wobei das auch bei voller Besetzung wahrscheinlich nicht sehr viel besser ausgesehen hätte.
Dann bremste die ganze Gruppe und sah sich schockiert um, als die Geräusche von knackenden Ästen immer lauter wurden. Wir standen mitten auf einer größeren Lichtung und die Lehrer behielten uns in ihrer Mitte. Ich sah an ihren Gesichtern jedoch, dass sie nicht sehr zuversichtlich waren. Mich selber verwirrte das Ganze aber auch. Es kam nur höchst selten vor, dass die Dämonen in ganzen Rudeln Jagd auf jemanden machten und auch die Schwarzen Magier waren dafür bekannt, dass sie im Gegensatz zu den meisten weißen Magiern immer einzeln arbeiteten. Diese waren jedoch zu dritt und mit ziemlicher Sicherheit für diese kleine Armee Dämonen verantwortlich.
Auf einmal wurde es einen Moment lang völlig still und einzig Noel kreiste über uns. Meine Mitschüler zitterten wie Espenlaub und die schwarze Magie um uns herum war so deutlich zu spüren, dass sich selbst auf meinen Armen eine Gänsehaut bildete. Noch hielten sie sich im Schatten der Bäume versteckt, doch uns allen war klar, dass sie jeden Moment hervorkommen und uns angreifen würden.
Plötzlich war ein lautes Fauchen zu hören und ein kleinerer Meles, ein Dämon in Gestalt eines Marders, versuchte Noel in der Luft zu erwischen, doch mein Vogel war zum Glück so schlau schnell ein ganzes Stück weiter nach oben zu fliegen und somit außer Reichweite des Angriffs zu sein. Als wäre das das Stichwort gewesen, sprangen nun auch die anderen Dämonen verschiedenster, mir teils sogar unbekannter Formen aus dem Dickicht und kamen auf uns zu gesprungen. Andere rannten einfach auf uns zu, wie die Guhle, die ich locker daran erkennen konnte, dass die bösen Geister tote Körper besetzt hatten und ihnen der Geruch der Verwesung und das halb verfaulte Aussehen bereits vorauseilten. Kein schöner Anblick.
Tina und Birgitt schrien hysterisch vor Angst auf und selbst einigen der Jungen entrangen sich erschrockene Schreie. Die Lehrer starrten die Dämonen nur fassungslos an und waren eindeutig nicht in der Lage auf die Schnelle einen Zauber zu finden, der stark genug war sie alle abzuwehren.
Auch mein Schild würde einer solchen Übermacht nicht standhalten, wie ich befürchtete, und mir fiel nur noch eine einzige Möglichkeit ein. Die Zeit war jedoch viel zu knapp, um die komplette Beschwörungsformel zu sprechen, und ich schrie nur aus vollem Halse: „JULIEN!!!“
Gerade als die Dämonen kaum mehr einen Meter von uns entfernt waren und bereits alle mit einem schmerzhaften Ende rechneten, ging von mir ein starkes Pochen aus. Wie eine Druckwelle schlug es sämtliche Dämonen an den Rand der Lichtung zurück und ich spürte das Mal an meinem Hals kribbeln.
„Du hat mich gerufen?“
Ein wenig überrascht fand ich mich halb in Juliens Armen wieder. Wie immer lag ein leicht arrogantes Lächeln auf seinen Lippen und sein kurzes und leicht zerzaustes, schwarzes Haar glänzte in der Sonne.
Die anderen starrten ihn nur völlig schockiert an. Na ja, meiner Meinung nach aber hatte er auch eine für Männer eigentlich unwiderstehliche Figur – schlank, sportlich, mit nett anzusehenden Muskeln – und mit seinen ein Meter neunzig auch die perfekte Größe. Seine Klamotten betonten seine Figur sogar noch: das blütenweiße Oberhemd – er hatte die oberen drei Knöpfe allerdings wie immer offen gelassen, wodurch man zum Teil seine schön männliche Brust sehen konnte – und die enge, schwarze Hose standen ihm wirklich ausgezeichnet und betonten seine breiten Schultern und die schlanke Taille. Dazu trug er auch noch eine Kette mit einem silbernen Kreuz als Anhänger und einen goldenen Ohrring mit einem blutroten Edelstein. Absolut perfekt und wäre er kein Dämon gewesen, hätte ich mich vielleicht sogar glatt in ihn verknallt. Dabei fiel mir ein, dass das für diese Situation eindeutig die falschen Gedanken waren.
Thomas schien als Erster zu begreifen, was da gerade unmittelbar hinter mir stand. „E-e-ei-ein Dämon! Ein Tenebrae!!!“
Die anderen wirkten genauso verdattert und erschrocken zugleich und auch Jones und Edson schien es vor lauter Fassungslosigkeit glatt die Sprache verschlagen zu haben.
„Was ist das denn für ein Haufen?“, fragte Julien nur belustigt, als er die völlig konsternierte Gruppe neben uns gesehen hatte.
„Mein Kurs“, antwortete ich ein wenig resigniert. Das konnte später ja lustig werden, doch erstmal kam da gerade die unmittelbare Gefahr langsam wieder auf ihre Beine. „Aber tu mir bitte vor weiteren Erklärungen den Gefallen und halt uns die Dämonen vom Hals.“
„Hoh? Wie hast du es denn geschafft so viele gleichzeitig auf dich zu hetzen?“ Er sah sich um und ließ mich dabei endlich wieder los.
„Die sind nicht hinter mir her“, stöhnte ich, „Schick sie einfach nach Reiga zurück, sonst enden wir hier als Dämonenfutter.“
„Vergiss nicht, dass ich auch ein Dämon bin.“ Seine Fingernägel wurden ein Stück länger und liefen nun spitz zu. Es sah fast ein wenig furchteinflößend aus, wie er seine Hand betrachtete und seine Finger ein wenig bog, als würde er sie schon mal aufwärmen. „Aber mit Vergnügen, mir wurde sowieso gerade langweilig.“
„Kein Massaker“, ermahnte ich ihn und verschränkte die Arme vor der Brust, „Hier sind einige, die einen solchen Anblick nicht so gut vertragen wie ich, also halt dich zurück.“
Er seufzte beinahe schon enttäuscht. „Wie du willst.“
In dem Moment machte ein Dämon auf der anderen Seite unserer Gruppe einen Hechtsprung auf Jake zu, der am Rand stand und den Tenebrae neben mir ungläubig angestarrt hatte. Doch von einer zur nächsten Sekunde stand Julien vor ihm und packte den Dämon mitten in der Luft an der Gurgel. Dank seiner Klauen hatte der Meles auch keine Chance sich gegen Julien zur Wehr zu setzen.
„Ich konnte die kleinen Viecher sowieso noch nie ausstehen“, stellte er gelangweilt fest und schloss seine Faust abrupt, dass der Dämon sich zu rot glitzerndem Staub auflöste – wie immer wenn sie gänzlich vernichtet wurden.
„Sei vorsichtiger, Junge“, sagte er über die Schulter zu Jake. Als er ihn jedoch ansah, runzelte Julien auf einmal die Stirn und wirkte ein wenig irritiert.
„Clypeum!“ Einige weitere Dämonen hatten auf meiner Seite einen erneuten Angriff gestartet, doch um die abzuwehren reichte mein Schild aus. „Julien!“
Dieser sah den nach wie vor verblüfften Jake noch kurz an, dann schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen und er ging an dem immer noch sprachlosen Edson und Jones, die er sogar noch ein Stück überragte, vorbei wieder zu mir.
„Kannst du sie alle auf einmal nach Reiga zurückschicken?“, fragte ich und versuchte die gesamte Lichtung im Auge zu behalten. Da ich nicht diejenige war, die die Mistviecher gerufen hatte, konnte ich selbst das leider nicht so einfach tun ohne sie vorher auf mich zu prägen, doch das würde bei der Masse viel zu lange dauern. Und die alle umzubringen war mir zu ätzend.
„Für wen hältst du mich?“, fragte Julien lediglich mit einem selbstgefälligen Lächeln. Da er selbst ein Dämon war, galten für ihn natürlich andere Regeln.
„Gut, dann sieh zu, bevor die nochmal zu so einem Großangriff ansetzen.“
„Wie du wünscht.“ Für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen und schien alle anwesenden Dämonen zu erfassen. „Cerifico suas tenebras, luna in nomine rubra sum mitto vos tergum Reiga!“
Die Dämonen kreischten wütend, doch innerhalb weniger Sekunden verschwanden sie alle und nichts blieb zurück.
Ich seufzte nur erleichtert.
„Das war viel zu einfach“, murmelte Julien, doch seine Augen wurden schmal, „Wollt ihr da hinten euch nicht auch mal zeigen?“
Stimmt, da waren noch die drei schwarzen Magier, die in dem Moment die Lichtung betraten. Mit ihren langen, schwarzen Umhängen und den bis ins Gesicht reichenden Kapuzen konnte ich noch nicht mal feststellen, ob sie nun männlich oder weiblich waren. Fest stand nur, dass sie eine Gefahr für uns darstellten.
„Übergebt uns Robert Dante und ihr habt nichts mehr zu befürchten“, sagte einer der drei in Schwarz, es war ein Mann.
Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie einer der Jungen hinter uns zuckte. Nur war ich mir nicht sicher, ob es jetzt Thomas, Edward oder Jake gewesen war.
„Abgesehen davon, dass ich niemanden kenne, der so heißt“, sagte ich und meine Augen wurden schmal, „Verzieht euch. Wir werden euch keinen von uns aushändigen und wenn ihr nicht freiwillig geht, werden wir Gewalt anwenden.“
„Du willst uns drohen, Kleine?“, fragte der Mann und sein Mund verzog sich zu einem hämischen Grinsen, „Mach dich nicht lächerlich. Ohne den Tenebrae wärt ihr schon längst alle erledigt. Mal davon abgesehen, macht dich das Beschwören eines so hohen Dämons nicht eigentlich zu einer von uns?“
Ich sah ihn verdattert an.
„Stimmt, wir mussten ja als erstes auch höhere Dämonen beschwören, bevor wir eintreten durften“, stellte auf einmal eine Frauenstimme fest, die mir irgendwie bekannt vorkam.
„Vielleicht sollten wir dich auch gleich mit zu uns nehmen...“
„Wagt es nicht, mich mit euch zu vergleichen“, grollte ich mit finsterer Stimme und meine Haare begannen von alleine zu schweben. Der Wind frischte auf und dunkle Wolken waren am Horizont zu sehen. Ich wusste, dass es nicht gut war so viel Magie auf einmal freizusetzen, doch meine Wut war gerade mit einen Schlag auf ihrem Höhepunkt angekommen und erstmal so weit oben musste ich mich irgendwie abregen. Und was bot sich da mehr an als mit ein paar schwachen – mir war aufgefallen, dass der Mann der von vorgestern war und die Frauen ebenfalls nicht sehr stark waren – Schwarzen Magiern Ping Pong zu spielen?
„Ich könnte sie auch erledigen“, bot Julien an, der wie ein Bodyguard neben mir stand und die Szene mit einem fast gleichgültigen Gesichtsausdruck beobachtete.
„Nein, die gehören mir“, zischte ich und grub in meinem Gedächtnis nach einem schönen Zauber, den ich den drein entgegenschleudern konnte.
„Tja.. hey Kinder, ihr solltet lieber in Deckung gehen“, sagte Julien über seine Schulter, auch wenn er bereits lauter sprechen musste, da der Wind langsam zu einem Sturm heranwuchs, „Bei ihrer Laune gibt es hier gleich ein ziemliches Donnerwetter, also gebt lieber Acht.“
Ich vermutete mal, dass sie den Tenebrae schon wieder angeguckt hatten wie ein Gespenst in Unterhosen, jedenfalls kicherte er nach dem Kommentar leicht und blickte wieder nach vorne. Er selbst schien nicht vorzuhaben von meiner Seite zu weichen. Aber bei ihm störte es mich nicht, ich hatte mich an die Anwesenheit des Dämons gewöhnt. Im Gegenteil, wenn er anwesend war, hatte ich nichts zu befürchten und fühlte mich sicher.
„Hoho, die Göre besitzt Kraft, das muss man ihr wohl lassen“, bemerkte eine der beiden jungen Frauen, „Aber viel mehr dürfte wohl nicht...“
„Coniuro altitudines caelo“, murmelte ich konzentriert den Anfang der Formel, „Tempestas ferocissimas mitte me tendere, fulmina et tonitru. Descende ad terrena nostra regno arere imperio et meo.“
Der Sturm war nun vollständig aufgezogen und der Wind riss an Haaren und Klamotten. Die dunklen Gewitterwolken hingen tief, Blitze zuckten und Donner grollte.
„Verdammt.“ Der Mann hatte scheinbar erkannt, was ich vorhatte, und zückte einen Zauberstab, während er gleichzeitig seine Kapuze festhalten musste. „Igniculus!“
„Nichts da.“ Julien fing den großen Funken mit seiner bloßen Hand ab und zerquetschte die Magie einfach. Sein Gesichtsausdruck war sehr vielversprechend. „Vergesst nicht, dass ich das Mädchen hier beschütze.“
„Tonitruum Thor, deum appello potentiam tuam, auferas me de mandato.“
Nun zuckten die Blitze auch vom Himmel herab und schlugen nicht weit entfernt in einige Bäume. Die drei Schwarzen Magier sahen sich erschrocken um, sie hatten eindeutig nicht mit so etwas gerechnet. Ich ehrlich gesagt auch nicht, nur wenn man mich derart aufregte, endete das gelegentlich schon mal so. Und mich mit Schwarzen Magiern zu vergleichen oder gar zu behaupten, dass ich selbst eine sein könnte, war so ziemlich das Dümmste, was man zu mir sagen konnte.
„Sancto tuo voces, fulmina ut mittas me in lanceam et tonitru in signum!“, sprach ich den letzten Teil des Spruches und streckte eine Hand zur Seite. Mit gut fünf Metern Abstand erschien vor mir und Julien ein durchsichtiger Schild, dessen elektrische Entladungen man jedoch an allen möglichen Stellen sehen konnte. In meiner Hand leuchtete ein langer Schaft mit schlanker und verdammt scharfer Klinge am oberen Ende auf, eine Lanze gänzlich aus geballter Elektrizität. Ein durchaus gruseliges Lächeln stahl sich auf meine Lippen, als ich meine Waffe anhob und auf unsere Gegner zuging, der Schild wanderte ebenfalls mit mir und Julien blieb schräg hinter mir, wobei er nur die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatte.
„Will sie sie umbringen?“, fragte Thomas flüsternd und noch völlig fassungslos.
„Keine Ahnung“, erwiderte Jake nur. Er sah mich lediglich erstaunt an.
Ich stand mittlerweile nicht mehr weit entfernt von den etwas verschreckten Schwarzen Magiern und wog die gelblich leuchtende Lanze in meiner Hand. Als ich sie anhob, erschienen automatisch noch duzende Weitere in der Luft und Julien musste den Kopf einziehen, da er ansonsten wahrscheinlich von einem dieser Teile geröstet worden wäre. Im nächsten Augenblick schleuderte ich die Geschosse in die Richtung unserer drei Widersacher und es gab einigen gewaltigen Knall, als die Lanzen alle irgendwo auf Höhe der drei in den Boden einschlugen, und eine Menge Rauch versperrte kurzzeitig die Sicht.
Ich stöhnte leise. „So, jetzt habe ich mich abgeregt.“
Die dunklen Wolken zogen so schnell ab wie sie gekommen waren und auch der Wind flaute wieder zu einem angenehmen Lüftchen ab. Die Sonne kam hervor und ich marschierte geradewegs durch die letzten Reste des Rauchs zu den drei Personen, die ein Stück entfernt am Boden lagen.
„Wow, obwohl ich sie noch nicht mal richtig getroffen habe, haben sie das Bewusstsein verloren“, stellte ich mit einer hochgezogenen Augenbraue fest.
„Du hast ihnen mit deiner Darbietung ja auch den Schreck ihres Lebens verpasst“, bemerkte Julien und warf einen Blick über die Schulter, „Und denen da hinten anscheinend auch.“
Ich blickte nach hinten und sah die nach wie vor sprachlose Gruppe mittlerweile auf dem Boden sitzen. „Ups.. die hatte ich ganz vergessen.“
„Das sieht dir ähnlich“, seufzte Julien und schob die Kapuzen unserer drei Schwarzen Magier zur Seite, sodass wir ihre Gesichter sehen konnten.
„Das sind doch...“ Für einen kurzen Moment entgleisten meine Gesichtszüge, ehe der Schaltkasten in meinem Kopf die Information richtig verarbeitete und auswertete. „Sie sind also Spione gewesen, wer hätte das erwartet?“
„Kennst du sie?“
„Jenny und Betty, die beiden Mädchen gehörten ursprünglich auch zu unserem Kurs“, erklärte ich kurz und richtete mich wieder auf. In der Hand hatte ich ihre drei Zauberstäbe, die ich kurzerhand in zwei Teile zerbrach und dann wieder fallen ließ. Damit sollten sie uns vorerst nichts mehr antun können.
„Wolltest du dich nicht an den Schwarzen Magiern rächen?“, fragte Julien nebenbei, als wir zu den anderen zurückgingen.
„Ich bin doch nicht so unmenschlich mich dafür an den Schwachen zu vergreifen“, erwiderte ich ein wenig empört, „Ich schnapp mir die Leute von ganz oben und lasse sie für ihre Taten büßen. Die kleinen Fische reichen für meine Rache nicht aus.“
Der Dämon lächelte lediglich leicht.
„So, seid ihr alle unverletzt?“, fragte ich. Nur konnte ich mir schon ziemlich genau ausrechnen, dass das heute ein langer Nachmittag werden würde.
„Wie...“ Jones schüttelte den Kopf. „Um Himmels willen! Wie viel magische Kraft besitzt du, Chris?! Die Energie hätte ausgereicht ganz New York über einen Monat mit Strom zu versorgen!“
„Und wieso.. ist ein Tenebrae auf unserer Seite?“, fragte Edson, wobei er deutlichen Respekt vor dem Dämon und seiner Macht hatte.
„Ich bin nicht auf eurer Seite“, erwiderte Julien, „Ich gehorche lediglich meiner...“
Ich boxte ihn in die Seite, sodass er stockte. „Rede nicht über belanglose Dinge“, sagte ich und blickte rüber zu den drei bewusstlosen Schwarzen Magiern, „Wir sollten uns besser auf den Weg zurück zur Akademie machen. Jenny und Betty brauchen wir nicht mehr zu suchen, mit großer Wahrscheinlichkeit sind sie selbst für den Zauber über unseren Erinnerungen verantwortlich. Sie hatten ihr Aussehen ein wenig verändert und einen Verjüngerungszauber angewendet, um sich in die Akademie einzuschleusen. Sie gehören zu den Schwarzen Magiern und wenn ihr sie nochmal sehen wollt, da hinten liegen sie bewusstlos.“
„Bewusstlos?“ Thomas sah mich ungläubig an. „Nach dem Angriff müssten sie TOT sein!“
„Ja, wenn ich sie wirklich getroffen hätte schon“, bemerkte ich, „Aber meine Taktik ist aufgegangen, die Angriffe gingen alle daneben und sie haben nur vor lauter Schreck die Besinnung verloren. Sie sollten recht bald wieder zu sich kommen, aber da ich ihre Zauberstäbe zerbrochen habe, dürften sie erstmal keine Gefahr mehr für uns sein.“
„Sag mal, bist du wirklich erst siebzehn?“, fragte Jones und kam mit seinem Kollegen wieder auf die Füße, „Sogar wir beide waren völlig machtlos und du hast so eben mal drei Schwarze Magier außer Gefecht gesetzt und gehandelt, wie man es eigentlich von uns erwartet.“
„Ich sagte doch, mein Training hat mehr praktisch stattgefunden.“ So langsam wurde das echt lästig. „Aber wie auch immer, wenn sie schon drei Schwarze Magier auf einmal hier her geschickt haben, werden sie bestimmt auch noch Weitere schicken, daher sollten wir zur Akademie zurückkehren.“
„Das wäre wirklich besser“, gestand Edson.
„Und du kannst nach Reiga zurückgehen“, fügte ich noch an den Dämon gerichtet hinzu.
„Schon? Dabei war ich so glücklich, dass du mich nach der langen Zeit endlich mal wieder gerufen hast.“ Julien legte schon wieder einen Arm um meine Taille und zog mich an sich, nur um mir mit seinem Gesicht schon wieder so nahe zu kommen. „Ich hatte gehofft, dass wir noch ein wenig länger zusammen bleiben können.“ Jetzt hatte er wieder dieses charmante Lächeln aufgesetzt, mit dem er bestimmt schon duzenden Frauen den Kopf verdreht hatte. Verdammter Tenebrae!
„Tch.“ Ich verzog ein wenig das Gesicht und versuchte mich von ihm wegzudrücken. „Ich hab dir schon zigmal gesagt, dass du das lassen sollst“, zischte ich, „Erspar mir deine Verführungskünste und lass mich los.“
„Tut mir leid, aber meine Arme wollen sich nicht mehr bewegen.“ Und jetzt kam wieder dieses freundlich unschuldige Schmunzeln.
„Ich glaub´s echt nicht, nimm deine Griffel von mir!“ Ich drückte mit einer Hand sein Gesicht weg und versuchte gleichzeitig ihm kräftig auf den Fuß zu treten, was sich nur leider als schwerer erwies als gedacht.
Die anderen schienen das Schauspiel nur mit etwas entgleisten Gesichtern zu beobachten und wussten damit wohl nichts anzufangen. Lediglich Jones und Edson vielleicht, deren Gesichtszüge drauf und dran waren völlig zu entgleiten. Der Tenebrae war allem Anschein nach ein ganzes Stück anders als sie sich diese Dämonenart vorgestellt hatten.
„Hmmm, ich passe...“, erwiderte Julien nur und drückte mir erstaunlich sanft einen Kuss aufs linke Auge, nachdem er vorher meine Versuche ihn von mir wegzuschieben einfach in die Schranken gewiesen hatte. Verflucht, wieso war er nur so übermenschlich stark?
„Hey! Lass sie in Ruhe, wenn sie nicht will!“
Julien und ich sahen uns beide etwas überrascht zu den anderen um. Von Jake hätte ich jetzt am wenigsten erwartet, dass er etwas sagt.
Julien hob eine Augenbraue. „Was sonst? Kleiner?“
Die Antwort gab ich selber, indem ich dem Dämon mit der geballten Faust einen schönen Kinnschieber verpasste. „Das war für den Kuss“, murmelte ich mit einem verärgerten Lächeln und drückte mich endlich von ihm weg. Dank der Ablenkung war das dieses Mal kein großes Problem.
„Dann kriegst du was auf die Glocke“, gab ich anschließend noch zurück, „Und jetzt verzieh dich endlich, die Abrechnung machen wir später.“
Seinem Grinsen nach zu urteilen hatte er mich mal wieder durchschaut, auch wenn er sich wegen meinem Hieb noch kurz das Kinn rieb. „Das ist dir vor dem ganzen Publikum wohl peinlich.“
Langsam wurde ich wütend, wobei ich gleichzeitig irgendwie verhindern musste, dass mir das Blut in den Kopf stieg. „Ich bekomme Lust mit dir das Gleiche zu machen, wie mit den drein da hinten. Nur werde ich bei dir nicht daneben zielen.“
Julien kicherte amüsiert. „Ich verzichte.“ Damit hob er kurz die Hand und war im nächsten Moment bereits verschwunden. Allerdings war mir aufgefallen, dass er schon wieder kurz zu Jake geblickt hatte. Das sah ihm jedoch gar nicht ähnlich, beim nächsten Mal sollte ich ihn mal nach dem Grund dafür fragen.
„Oh Mann, bei Kämpfen ist er ja eine große Hilfe“, stöhnte ich, „Aber außerhalb ist er eine echte Plage.“
Die anderen nickten nur mit etwas schrägen Gesichtsausdrücken.