Kurzgeschichte
Fahrt ins Blaue

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"Fahrt ins Blaue"
Veröffentlicht am 28. Februar 2012, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Fahrt ins Blaue

Fahrt ins Blaue

Fahrt ins Blaue

Die aufgehende Sonne liess mit ihren ersten wärmenden Strahlen die gewaltigen, sich über den Wohnbauten der Vorstadt auftürmenden Kumuluswolken rötlich erscheinen, als nur wenige Schritte vor uns ein in Selbstgespräche verwickelter hemdsärmliger Nachtschwärmer in leichtem Zickzack quer über die Strasse wankte auf der hoffnungslosen Suche nach einem noch immer geöffneten Etablissement. Obwohl meine Frau und ich fest davon überzeugt waren, die ersten zu sein, stand bereits ein kleineres munteres Grüpplein sommerlich gekleideter Pensionisten auf dem Trottoir beim Bahnhofskiosk und unterhielt sich angeregt, mit den Händen wild gestikulierend. Man hörte die dumpfen Stimmen bereits aus der geringen Entfernung, dazwischen immer wieder Gelächter. Einige kecke Vögel versuchten noch lauter zu sein und zeterten ihren Unmut von Büschen und Baumkronen herab auf die noch leblose Strasse, verharrten, den Kopf leicht zur Seite geneigt, für einen Moment, um auf ein Echo eines gefiederten Artgenossen zu warten.
Neugierig fragte uns die auf uns aufmerksam gewordene Gruppe, als wir - mit Handtasche und Schirmen bewaffnet - langsam auf sie zugingen, ob wir auch an der Fahrt ins Blaue teilnehmen wollten, und sie stellten sich uns der Reihe nach vor. Kaum hatten wir unsere Hände durch die Runde geschüttelt, fuhr bereits der doppelstöckige Reisebus mit den langen, schwarz verschalten Rückspiegeln, die sich wie Schlappohren über die Karosserie des Daches fortsetzten, um das Bahnhofsgebäude auf uns zu. Wir erkannten seine markanten Farben mit dem geschwungenen Schriftzug zwischen den Scheinwerfern schon von weitem, denn jedes Jahr nehmen wir an einem dieser Tagesausflüge teil, wo das Geheimnis um das Ziel der Reise erst später, während der Fahrt, gelüftet wird. Auf der glänzenden Lackierung des sichtlich modernen Busses blitzten die letzten durch den lauen Fahrtwind abtrocknenden Wasserperlen. Vermutlich wurde das Monstrum noch in der Nacht durch die firmeneigene Waschstrasse geschleust, um die Spuren der letzten Fahrt abzuwaschen, um die unzähligen zerklatschten Insektenreste von der überdimensionalen Frontscheibe und den schwarzen Scheibenwischblättern, die wie abgeknickte Fühler auf dem gerundeten Glas lagen, zu entfernen. Der Bus hielt direkt neben uns, die riesigen eingeschlagenen Räder berührten den aus Granit geschlagenen Randstein ganz leicht, beinahe zärtlich. Im gleichen Moment öffnete sich die Vordertüre, zischend und quietschend. Ein jüngerer, uns unbekannter, aber vermutlich mit allen Wassern gewaschener Chauffeur hüpfte in einem Satz auf die Strasse. Er hatte sich in Schale geworfen, war frisch geduscht und verströmte einen leisen Hauch eines sich stetig verflüchtigenden Aftershaves. Nur seine mit dunklen Ringen unterlaufenen tiefliegenden Augen verrieten das Schlafmanko. Es sah aus, als wäre er erst in der Nacht von einer anderen, vermutlich längeren Reise zurückgekehrt. Mit gekünstelt maskenhaft aufgesetzter Fröhlichkeit begrüsste er mit gelangweilter Routine die anwesenden Fahrgäste, wünschte einen guten Morgen und wechselte mit seinen Stammgästen die eine oder andere Anekdote. Wir stiegen ein und nahmen unsere Plätze im hintersten Teil des Busses ein. Dann warteten wir – wie jedesmal – auf die gehetzt und verschlafen aussehenden, in letzter Minute erscheinenden Teilnehmer, die nun der Reihe nach eintrudelten. Einige erschienen erst gar nicht, und so löschte der Chauffeur mit einem hörbaren Seufzer die Innenbeleuchtung, startete seinen Diesel und fuhr los. Eine schwarze Russwolke stob aus dem dicken Auspuffrohr und kroch langsam über die Heckscheibe zum Dach. Die rechte Hand hielt er am Steuerrad, mit der linken wühlte er - den Blick glücklicherweise immer wieder auf die Strasse gerichtet - in der von einer ramponierten, mit allerlei bunten Klebern verunzierten Kartonschachtel gehorteten Kassettensammlung herum. Dann kam, was kommen musste: Der Fahrer schob ein Band mit provinzieller Volksmusik ins Gerät, die nun in bester Hi-Fi-Qualität aus den unzähligen kleinen Membranen der geschickt verteilten Lautsprechern auf die mehr oder minder begeisterten Gäste herabrieselte; es war immer dasselbe.
Einige der Fahrgäste tauschten Erinnerungen aus, andere packten bereits ihre gutbelegten Brote aus der Tasche und blickten mit vollen Backen kauend aus dem Fenster als wir wenige hundert Meter vor dem ersten Autobahnrastplatz von einer Patrouille der Polizei herausgewunken wurden. Sämtliche Fahrgäste starrten mit gereckten Hälsen und teilweise offenen Mündern durch den schmalen Mittelgang nach vorne, um ja nichts zu verpassen. Einige standen sogar auf, verharrten in denkbar unbequemer, geduckt gekrümmter Haltung, mit wippenden Köpfen, um sich den freien Blick zwischen frisch bezogenen Kopfstützen hindurch zu sichern. Der freundlich grüssende Polizist verlangte das Fahrtenbuch und den Fahrtenschreiber, welchen der Chauffeur mit zittrigen Fingern aus dem schwarzen Aufzeichnungsgerät unter dem Armaturenbrett zog. Das Blut war ihm ins Gesicht geschossen, die Hitze trieb ihm Schweissperlen auf die Stirn, als er die runde Scheibe betrachtete. Völlig ernüchtert stellte er fest, dass er heute morgen vor der Abfahrt vergessen hatte, die Scheibe auszuwechseln, auf der die nicht eingehaltene Ruhezeit und die während der Fahrt aufgezeichnete Geschwindigkeit zu ersehen waren. Der Polizist klemmte die Scheibe in ein speziell zu diesem Zweck ausgelegtes Prüfgerät, blickte stirnrunzelnd auf den konsternierten Chauffeur und liess sich mit suspekten Erklärungen erläutern, wie die gezackten Kurven, die sich ihm wie ein langgezogenes spitzes Gebirge präsentierten, zustande kamen.
Die Patrouille verweigerte dem Chauffeur die Weiterfahrt, und da trotz intensiver Bemühungen um diese Zeit kein Ersatz hatte aufgetrieben werden können, eskortierte uns die Polizei zum nächsten Bahnhof, wo die enttäuschte Gruppe - einige machten schon wieder deftige Witze - geschlossen den Regionalzug bestieg und zurück nach Hause fuhr.

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Pirf9000

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GerLINDE Dein Buch, "Fahrt ins Blaue", hat mich auch an so manche schöne Reisebus-Fahrt erinnert.

Schade, dass der Busfahrer in Deiner Geschichte die Fahrt nicht fortsetzen durfte wegen nicht eingehaltener Ruhezeit. Vielleicht sogar Glück!!!

Schön geschrieben. 5 Sterne!

Lieben Gruß
GerLinde
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