Lieber Bruder
Gerade war ich bei Dir. Mit mir war eine unterschwellige Hoffnung, dass Du mein Bruder, auch wirklich mein Bruder bist. Wir haben die gleiche Mutter und den gleichen Vater.
Doch wie ich wieder einmal feststellen musste, ist dies alles was uns verbindet.
So sehr ich mich auch bemühe, Deine Persönlichkeit zu verstehen, es gelingt mir nicht Dir nahe zu kommen. Die Kluft zwischen Deiner und meiner Sichtweise des Lebens ist sehr tief. Nein, über diese Kluft möchte ich nicht springen, denn ich fühle mich mit mir und da wo ich bin wohl. Es ist kein Vorwurf den ich Dir mache, das was ich fühle ist Enttäuschung. Enttäuschung darüber, dass Du rein genetisch gesehen, mein Bruder bist, doch nicht darüber hinaus. Gerne wäre ich Dir näher, oder würde Dir gerne näher kommen, doch der Preis wäre die Aufgabe all dessen was mir Freiheit bedeutet. Freiheit ist mir wertvoller als ein durch Aufgabe der Freiheit erworbener Bruder.
Es sind viel zu viele Missverständnisse als Hürden aufgebaut. Vielleicht brauchen wir beide mehr Lebenserfahrung um sie überwinden zu können.
So bleibe ich bei mir lieber Bruder und lasse Dich bei Dir sein. Wünsche Dir sehr, dass Du ganz bei Dir sein kannst. Es gibt nichts, das mich veranlassen könnte mich wegen Dir zu verlassen.
Die Schnittmenge unserer Kreise ist ein winziges Etwas. Eine Aussicht darauf, dass sie sich vergrößern könnte habe ich nicht. Hoffnung hatte ich, dass es einen Ort gibt, an den wir uns beide wohl fühlen könnten und so Gemeinsamkeit erleben könnten. Ernüchternd erkenne ich, dass dies ein Wunschbild ist