Kurzgeschichte
Der Gemäldewanderer

0
"Der Gemäldewanderer"
Veröffentlicht am 27. Februar 2012, 16 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de
Der Gemäldewanderer

Der Gemäldewanderer

Der Gemäldewanderer

Michael tauchte seinen schweren tiefgewölbten Löffel in den pampig schleimigen Haferbrei, den die Mutter wie angerührten Mörtel mit einer Kelle in den Teller klatschen liess und der nun, langsam zur Ruhe kommend, seinen Tellerrand leicht quellend hochkroch. Mit der geschlossenen Faust hielt er den Löffel fest und schob ihn mehr mechanisch als mit Appetit, wie jeden Morgen halbgefüllt in den Mund, kaute ein-, zweimal darauf herum, obwohl es darin nichts zu kauen oder zu schmecken gab und schluckte den Brei hinunter. Es waren seine dunklen tiefliegenden und stechenden Augen, die ständig in Bewegung waren, die das grosse mit einem einfachen Holzrahmen versehenen Bild, welches er letztes Jahr von seinem Nachbarn - einem Kunst- und Landschaftsmaler - geschenkt bekam, über dem offenen Kamin fixierten und sein Blick jedes auch noch so kleine Detail abtastete. Immer wieder entdeckte er Neues auf dem Gemälde, obwohl er es schon tausendmal betrachtet hatte, ja geradezu in sich hineingesaugt und leergesehen hatte. Das Licht und Schatten einfangende Gemälde zeigte die Skellig-Inseln im Südwesten Irlands von Finnians Bay aus gesehen, die wie eine Kathedrale steil aus dem Meer gewachsenen spitzen Felskegel mit der hintersten Insel, Skellig Michael, deren Name er ihr verdankte. Über die messerscharfen Klippen führten über sechshundert von Hand in den Fels geschlagene Stufen zu der aus dem sechsten Jahrhundert gebauten Mönchssiedlung, deren mühsam aufeinandergeschichteten Steine von Tausenden von Tölpeln, Möwen und Sturmtauchern wie Totenwächter einer längst vergangenen Kultur umschwärmt wurden. Michael rümpfte seine stumpfe, sommersprossenübersäte, nach oben gerichtete Nase, als rieche er das tosende Meer, die weisse Gischt, die wie Kronen auf den haushohen Wellen tanzten und an den Felsen zerschellten, und er hörte die Vögel, wie sie kreischend im Sturzflug nach Beute jagten.
„Michael, träumst du schon wieder; iss doch endlich deinen Teller leer, dein Vater wird gleich aufstehen, und die Schafe stehen noch immer im Stall“, holte ihn die Stimme seiner Mutter zurück in die Realität; dabei hätte er sich fast an der zähen Grütze verschluckt und ergab sich zwangsläufig einem würgenden Hustenreiz, der den schmächtigen Körper schüttelte. Seine vier Jahre jüngere Schwester Moya kicherte amüsiert vor sich hin, während sie scheinbar genussvoll den Brei hastig in sich hineinschaufelte und ihrem Bruder foppend unter dem Tisch gegen das Schienbein trat. Die ersten morgendlichen Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die Fenster bahnten, beschienen ihren dunkelroten Haarschopf, der wie mit einem Hauch Kupfer bedampft zu glühen schien. Nur dem strengen Blick der Mutter konnte Moya nicht standhalten, und so kratzte sie mit dem Löffel seufzend die letzten Reste der Grütze aus ihrem Teller.
„Mutter, gibt es heute keinen Käse? Ein ganz kleines Stück?“ fragte Moya, sich mit der Zungenspitze über die feuchten Lippen gleitend und blickte ihre Mutter erwartungsvoll an.
„Du weisst doch, wie teuer der Käse ist. Zum Abendessen bekommst du ein Stück; aber sicher nicht am Morgen - also wirklich. Hier hast du einige Rosinen, aber sei nicht so gierig. Zu viele von diesen süssen Rosinen verderben dir die Zähne“, antwortete die Mutter streng und blickte dabei in Moyas enttäuschtes Gesicht, nahm die alte offene Bisquitdose vom Küchenregal, griff hinein und holte eine Handvoll Rosinen heraus, die sie Moya nicht einfach in den Haferbrei gab, sondern die kleinen, fast schwarzen schrumpligen Rosinen korrekt abzählte und sie auf den Tisch legte, welche ein Geräusch verursachten, als hätte sie einige Kieselsteine hingelegt.
„Bei uns gab es früher auch nie süssen Porridge“, untermalte die Mutter und wollte damit die Grosszügigkeit ihrer Geste unterstreichen.
„Danke“, murrte Moya kurz aufblickend, kramte die vertrockneten Trauben zusammen, legte sie dekorativ auf den Haferbrei und begann kräftig zu rühren; sie hoffte, dass die Beeren noch etwas von ihrer Süsse an den Brei abgaben und kaute lange darauf herum.
„Moya, räumst du bitte den Tisch ab, wenn du fertig bist“, herrschte die Mutter mit resolutem Ton. Nur widerwillig stand Moya auf und begann die schweren Teller mit ihren viel zu kurzen rundlichen Fingern ineinander zu stappeln. Das Geklirre und Geschäpper, das sie dabei verursachte, liess ihren Unmut erkennen, denn wozu musste immer nur sie, die Jüngste, die Drecksarbeit machen, wie sie danach immer vorwurfsvoll zu verstehen gab.
Jetzt rumorte es oben im Schlafzimmer, der Vater war endlich wach geworden. Dumpfe Schläge dröhnten von oben durch die Decke, vermutlich hatte er bei dem kläglichen Versuch, sich auf einem Bein stehend die Hose anzuziehen noch immer Gleichgewichtsprobleme, die ihn herumwanken liessen, als stünde er auf einem schaukelnden, in Seenot geratenen Schiff. Er hatte gestern abend bei seinen fast täglich stattfindenden exzessiven Streifzügen durch die Pubs des Dorfes wieder fast das ganze Arbeitslosengeld von achtzehn Pfund versoffen, hatte grosszügig Whiskey spendiert, um sich bei seinen Kumpanen Gehör und Anerkennung zu verschaffen, wenn er seine Hasstiraden über die Ungerechtigkeiten des Lebens verkündete. Im Zickzack war er grölend und fluchend weit nach Mitternacht nach Hause gekommen, knallte seine Stiefel gegen alles, was sich ihm in den Weg stellte, und fiel wie ein Sack Mehl ins Bett, die nach Rauch, Schweiss und Stall stinkende Hose in eine Ecke des Zimmers schleudernd. Nach einer Weile erst hörte man ihn schnarchen.
Endlich erschien nun auch der Vater in der Küche, er sah schlimm aus, unrasiert, die Haare wild aufgerichtet, die schwarzen gekrausten Brusthaare stachen durch das offene Hemd. Sein Atem roch noch Knoblauch, Alkohol und Marderpisse. So setzte er sich an den Tisch, wünschte brummig einen guten Morgen, ohne auch nur einen der Anwesenden mit einem Blick zu würdigen, schloss für einen Augenblick die Augen, plazierte beide Ellbogen auf der Tischkante und stützte seinen bleiernen Kopf mit den Händen, wobei er einfach weiter vor sich hin döste. Als Moya ihrem Vater den Teller mit einem lauten Scheppern hinstellte, riss er erschreckt und irritiert die Augen auf, blickte ängstlich nach links und rechts und wusste im Moment nicht, wie ihm geschah; erst jetzt kam er allmählich zu sich, begann den Haferbrei mit gespitzten Lippen zu löffeln; dabei wurde er zunehmend gesprächig.
„Es ist doch eine Unverschämtheit von diesem eingebildeten Pfaffen, uns vor all den Leuten derart blosszustellen; was glaubt der denn eigentlich?“ begann er erbost und übermütig über den Pater herzuziehen.
Am gestrigen Sonntag waren die O’Malleys etwas zu spät zum Gottesdienst erschienen, da die alte rostige Karre ihren Dienst verweigerte und Paddy O’Malley zuerst seine ganze Mechanikerkunst aufwenden musste, um das störrische Vehikel gefügig zu machen - im Sonntagsanzug und den ungeduldigen Blicken und besserwisserischen Ratschlägen der Familie ausgesetzt. Als man dann endlich vor der Kirche vorfuhr und leise durch das Portal schritt, um ja niemanden zu stören, unterbrach der provinzielle Pater die Predigt mitten im Satz, wetterte mit hochrotem Kopf und seiner sonoren, singenden, bis zum Kippen erregten Stimme von der Kanzel herab auf seine Gemeinde, wobei er mit unsäglicher Arroganz und Hochmut noch mit dem gestreckten wulstigen Finger auf die O’Malleys zeigte und lautstark zu verstehen gab, dass er künftig das Portal nach Beginn der Messe schliessen lassen werde und er es nicht mehr dulden könne, dass während seiner Ausführungen irgend jemand herein- oder hinauslaufe wie auf einem Basar oder beim Bingospiel am Sonntagnachmittag. Erst jetzt unterbrach er seine gewaltige Tirade, die sich über die Gemeinde ergoss, machte eine abschätzig wischende Handbewegung zu den Holzbänken und liess die geschulmeisterten O’Malleys Platz nehmen; danach setzte er seine Predigt fort - und zwar genau an der Stelle, an der er sie unterbrochen hatte -, als sei nichts geschehen. Am schlimmsten waren die Leute, die mit gefalteten Händen und einem frommen Unschuldsblick hinauf zum Pater sahen, sich dann in einem unbeobachteten Moment heimlich grinsend und schadenfroh zu den O’Malleys umdrehten und dem diktatorischen Pater recht gaben, im Innersten aber recht froh waren, nicht selber kompromittiert zu werden.
Michael schlich auf Zehenspitzen aus der Küche, um dem unvorhersehbaren Zorn des Vaters keine Stirn bieten zu müssen, denn wie oft war es schon vorgekommen, dass der Vater nach einer durchzechten Nacht aggressiv wurde und meistens ohne jeglichen Grund zu schlagen begann. Jeder der Familie konnte davon ein Klagelied singen. Schnell zog er seine Gummistiefel an und öffnete die alte verzogene Holztüre, durch dessen Ritzen und Spalten der Wind pfiff. Es war ein herrlicher, eigentlich recht friedlicher Morgen; der draussen an einer langen Laufkette gehaltene schwarze Mischlingsrüde begrüsste Michael, indem er schwänzelnd, die Ohren nach hinten gelegt, um ihn herumtänzelte und auf einen zärtlichen Klaps wartete. Die nahe am Haus wachsenden wilden Brombeerstauden und die tiefroten glockenartigen Blüten der Fuchsienhecken strahlten ihre betörende Farbe aus; der Wind fuhr wie ein Kamm durch die borstigen Grasbüschel und liess den gesamten grünen Teppich erzittern. Vorsichtig zum Haus blickend öffnete er die Stalltüre, damit die ungeduldig murrenden Schafe endlich ins Freie gelangen konnten, um sich an der sattgrünen Wiese gütlich zu tun. Was hatten diese Viecher doch für ein sorgenfreies schönes Leben, dachte Michael fast neidisch.
Er sah hinüber zu dem Haus seines Freundes und Nachbarn Daniel O’Liath, dem Kunstmaler, der für einige Tage in einer dringenden Familienangelegenheit nach Dublin gefahren war und Michael gebeten hatte, doch in dieser Zeit nach dem Haus zu sehen. Das kleine Haus direkt am Meer auf einer leichten Anhöhe war lilafarben, über dem Eingang prangte der Schriftzug ‘Art Galery’ mit verschnörkelten roten Buchstaben, die auf dem lila Untergrund kaum richtig zur Geltung kamen. Daniel war fast fünfzig Jahre alt, hatte dreissig davon als einfacher Angestellter in Dublin verbracht und erst vor wenigen Jahren seine Liebe und seine Begabung zur Malerei entdeckt. Dann hatte er nach reiflicher Überlegung das Grossstadtleben, seinen Job, das schäbige Zimmer in einem alten baufälligen Haus am rechten Ufer des Liffey mit Sicht auf die alten Gemäuer der legendären Guinnessbrauerei aufgegeben, sein in all den Jahren mühsam zur Seite gelegtes Erspartes zusammengekratzt und hier im Südwesten der Insel, wo der milde Golfstrom die Küste streift und subtropische Vegetation zulässt, dieses kleine schmucke Häuschen mit den wenigen Quadratmetern Umschwung gekauft. Nun galt seine Leidenschaft dem Malen; er sass stundenlang draussen in der Natur und versuchte das Gesehene auf der vor ihm auf einer selbstgemachten Staffelei stehenden Leinwand wiederzugeben. Oben im ersten Stock seines Häuschens hatte er im grössten zur Verfügung stehenden Raum eine kleine Galerie, die durch eine schmale steile Treppe zu erreichen war, eingerichtet. Mit seinen Bildern behängte er sämtliche Wände, klebte darunter einen kleinen roten Punkt und numerierte diesen. Auf einem kleinen Tischchen hatte er seine Preisliste aufgelegt, wo jeder Besucher anhand der Nummer den Preis eines Gemäldes ersehen konnte. In den Sommermonaten gab es Tage, wo Einsamkeit suchende Touristen sich in diese Gegend verirrten, wo das lila Haus am Meer die Leute anzuziehen schien. Durch die Beschriftung an der Fassade interessierten sich einige Vorbeiziehende für Bilder aus der Gegend, parkierten ihr Fahrzeug nahe am Haus und machten durch Hupen auf sich aufmerksam, und so hatte er schon das eine oder andere Bild verkauft; davon konnte er einigermassen leben. Wenn er unterwegs war und Landschaften einfing, war auch schon mal Michael zur Stelle und führte die Leute hinauf, um sie für die Kunstwerke zu interessieren. Für Michael hatte der Raum mit den Bildern etwas Magisches. Er konnte sich jeweils stundenlang auf einen Stuhl setzen und die vor ihm hängenden Bilder betrachten, ja sich richtig hineinfühlen. Die beiden verstanden sich grossartig, obwohl Daniel fast dreissig Jahre älter als Michael war. Daniel kannte alle grösseren Städte Irlands, hatte in der einen oder anderen bereits für einige Zeit gelebt, war sogar schon einmal auf dem Festland und wusste immer viel darüber zu erzählen. Michael konnte nie genug erfahren, interessierte sich auch brennend für Malerei und begleitete Daniel ab und zu, wenn er an schönen Tagen in die weitere Umgebung fuhr, um zu malen. Dabei mussten schöne Tage nicht unbedingt von brennendem Sonnenschein dominiert sein; auch der fast täglich unvorhersehbar niedergehende Regen hatte seine besonderen Reize; die dabei über regenbogenfarbige Felsen ziehenden Nebelschwaden mit dem wolkenverhangenen Himmel gaben Stimmungen wieder, die wohl schwierig zu malen, aber kaum zu beschreiben waren.
Michael öffnete die Haustüre mit dem in einer Hecke versteckten Schlüssel und stieg die Treppe zur Galerie hinauf. Die Sonne stach durch das kleine Fenster und liess die Bilder im Raum noch heller leuchten.
Schnell setzte er sich in die Mitte des Raumes, legte seinen Kopf in die Hände und betrachtete ein grosses rahmenloses Gemälde in einer gut beleuchteten Ecke, welches das imposante Gebirge des Slieve Leage im County Mayo darstellte. Michael hatte die Augen weit geöffnet, sein Atem ging nach einer kurzen Weile immer schneller, Kopfschmerzen überfielen ihn, es war, als suche jemand den Zugang zu seinem Unterbewusstsein. Er konnte den Blick nicht mehr vom Bild lösen, seine Augen schmerzten, er fühlte sich hinein, hörte die kreischenden Sturmtaucher, die auf Beutefang über die langgezogenen Klippen hinunter zum Meer segelten. Sein Herz begann zu rasen, er fühlte plötzlich den rauschenden eisigen Wind unter sich, sah wie er im Sturzflug mit weit ausgebreiteten Schwingen den steinigen Gebirgshang entlangflog und ungebremst mit einem Schlag in das tosende Meer eintauchte. Dann wurde es dunkel und ruhig um ihn.
Als Daniel am Nachmittag aus Dublin zurückkehrte, wunderte er sich über sein unverschlossenes Haus. Schnell ging er hinauf zur Galerie und fand zu seinem Entsetzen Michael, der zusammengekrümmt mit ausgestreckten Armen neben dem Stuhl lag und aufgehört hatte zu atmen.

Copyright

(c) by Pirf 2012

Gemälde: Wanderer im Morgengrauen von Ludwig Munthe

http://www.mscdn.de/ms/karten/v_641313.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_641314.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_641315.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_641316.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_641317.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_641318.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_641319.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_641320.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_641321.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_641322.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_641323.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_641324.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_641325.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_641326.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_641327.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_641742.png
0

Hörbuch

Über den Autor

Pirf9000

Leser-Statistik
55

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
EagleWriter Wirklich wieder eine super spannende Kurzgeschichte.
Vor langer Zeit - Antworten
Mitmensch "Morgenstimmung" von Grieg - Diese Musik fiel mir ein, als ich das Ende der Geschichte las.
Habe ich gerne gelesen, danke dafür!

Lieben Gruß
Johanna
Vor langer Zeit - Antworten
GerLINDE Wow, was für eine schöne Geschichte! Besonders überraschend gelungen fand ich den Schluss, dann damit hat niemand gerechnet. Prima!

Lieben Gruß
GerLinde
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
4
0
Senden

67613
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung