Vielleicht Morgen
Blut sickert über die blasse Haut. Es ist dunkelrot und fühlt sich angenehm warm auf ihr an, während es über die kleinen Kratzer und die größeren Narben am Unterarm gleitet. Dort wo es auf den Boden hinunter tropft, fangen die
Fliesen an zu verschwimmen, als wollten sie sich auftun und die verräterischen Spuren verschlingen.Tränen liegen auf den Wangen des Mädchens, aber das erstickte Schluchzen ist nur das Echo der Schreie in ihr, die von außen niemand hören oder sehen kann. Wie so vieles, auf dieser Welt, das von außen nur eine bröckelnde Fassade ist. Es ist bereits später Abend, als Mondsichel und einige dunkle Wolken zum Fenster herein in die kleine Wohnung schielen und diesen jungen Menschen beobachten, wie sie zusammengekauert auf dem Boden vor der Badewanne sitzt und jetzt zum dritten Mal die Rasierklinge ansetzt.
Die Mondsichel fragt sich kopfschüttelnd, warum. Die Wolken grummeln, dass es ihnen egal sei. Das Mädchen schweigt schuldig unter ihren Blicken.Lange schon nimmt sie das Brennen der frischen Kratzer nicht mehr wahr, denn es ist nicht ansatzweises so schmerzhaft wie das Stechen in ihrer Brust, zwischen den oberen Rippen, ungefähr dort wo das Herz sitzen muss. Viel mehr sind die Kratzer wie ein Ventil und das Blut ist der Druck der
entweicht, weil ihr Verstand nicht mehr weiß wohin mit der ganzen Wut und der Trauer.
Als wäre das Logistiksystem ihrer Seele wegen Überlastung ausgefallen, hatte sie erst gestern noch schmunzelnd von ihrer eigenen Wortgewandtheit ins Tagebuch geschrieben.
Blut tropft stumm weiter.
Es mag Zufall sein, dass ein Vogel mit seinem dürren Schnabel aufgeregt gegen die Fensterscheibe, schräg über ihr, klopft, gerade als sich wieder schneiden will, aber das
Mädchen muss davon mild Lächeln. Wenn niemand sonst sie verstehen kann, dann vielleicht das fremde Tierchen.
Eigentlich versteht sie sich ja selbst kaum, gesteht sie sich seufzend ein. Von außen betrachtet scheint alles so perfekt, so ist es eben mit Fassaden. Ein Leben wie im Märchenbuch der kleinen Schwester. Ein Leben, genau wie sie es sich gewünscht hatte und doch sieht man von außen eben nicht die vielen Narben. Wenn nachts eine unbestimmte Panik ihr Herz überrennt und sie schweißgebadet aufwacht, und wenn sie sich Tag für Tag durch jede einzelne Minute schleppt und sich wünscht einfach einzuschlafen, weil sie dann nicht mehr Kämpfen müsste. Weil diese Angst in ihr drin viel zu groß wird. Die Angst vor der Zukunft. Die Angst bei jedem Schritt, unachtsam daneben zu treten und zu fallen. Die Angst davor, weiter zu leben. Am liebsten wäre sie für
immer ein kleines Kind geblieben, denkt das Mädchen und legt die Klinge dieses Mal direkt an die pochende Pulsader am linken Handgelenk. Die Augen sind fest verschlossen und haben mit ihrem Lidschlag auch die letzten Kraftreserven vertrieben. Wie so oft, wenn sie sich leer gefegt und unfähig fühlt. Auch die Wolken, als einzige Augenzeugen, wenden sich nun endlich geniert ab, und sie presst das Metall mit sanftem Nachdruck gegen die dünne Haut. Nur noch ein Stück zur ewigen Freiheit, und sie müsste sich nie wieder Gedanken machen über ihr kümmerliches Leben und die Fassade für den nächsten Tag.
Das plötzliche Klicken eines Schlüssels, der eifrig umgedreht wird und die gleich darauf, knarrend auf schwenkende Wohnungstür, schrecken das Mädchen nicht auf. Nur die Nacht kann sie sehen, und selbst diese kümmert sich nicht, wie es ihr geht. Jemand zieht Schuhe und Jacke aus.
Sie öffnet die Augen, „Ich bin im Bad.“ Die Worte drängen sich hell und fröhlich aus ihrer Kehle, als hätte ein anderes Ich die Zügel übernommen, dann legt sie die Rasierklinge behutsam beiseite und wirft die nackten Beine über den Badewannenrand. Tief durchatmend dreht sie das Wasser auf und lässt es durch den Brausekopf in einem kalten Schwall über den zerkratzten Arm laufen, bis nach etlichen Minuten kein Blut mehr nachfließt. Das Wasser auf ihrer Haut tut gut. Es beruhigt ein Wenig das Hämmern ihres Herzens und betäubt die Feigheit. Ihr Blick verliert sich derweil im abendlichen Himmel irgendwo zwischen zwei Baumkronen und einem Dachgiebel. Sie wischt die letzte getrocknete Träne von der Wange, ein heißes Bad soll es richten und ihre Gedanken sortieren.
Vielleicht wird sie Morgenabend ungestört bleiben. Oder vielleicht findet sich ja Morgen
doch irgendein Grund noch ein paar Tage weiterzuleben. Vielleicht auch für immer, denkt sie und lässt die Wanne mit Wasser vollaufen.
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© Fiona Wicka, 2012