Waschung
Creed spielten im Schlaf-/Jonaszimmer Lieder über Hoffnung und Glaube, alles was Stephan nach all den Jahren - Eigentlich waren es nur fünf, aber gefühlte zwanzig! - geblieben war. Sein Laptop war voll von Musik, die er früher auf CDs besessen hatte. Sein alter Laptop, Lieder über Hoffnung und Glaube, und natürlich die Liebe zu seinem Sohn. Jonas.
Sonst hatte Sabine ihm alles genommen. Alles was ihn in den letzten drei Jahren am Leben hielt waren die vierzehntägigen Besuche seines Sohnes. Der Kleine war vier und hatte sich während der Scheidungsschlacht, die schon in seinem ersten Lebensjahr begann, komplett in sich zurück gezogen. Autistisch, oder frühkindlich zurückgeblieben, Stephan konnte sich aus diesen Prognosen eine aussuchen, genaues wussten die Ärzte noch nicht. Würde sich erst in den nächsten vier Jahren entscheiden. Was Stephan wusste war: Jonas funktionierte nicht so, wie andere Kinder in seinem Alter. Er lief erst seit eineinhalb Jahren und sprach, wenn überhaupt zu anderen, in zwei Wortsätzen, sonst rief er je nach Laune die Namen seiner Kinderstars. Laura Stern, Biene Maja, Micky Maus – Zauberhaus, Thomas und all die Anderen, die auf KIKA oder TOGO herum wuselten. Sabine dachte Fernsehen könnte ihrem Spross nun auch nicht mehr schaden und irgendwie ging der Kleine vor der Glotze richtig auf.
Mit Stephan auf dem Spielplatz stand er meistens nur herum, schaute den Kindern zu, blickte in den Himmel, brabbelte zu irgendeinem imaginären Gott, oder kreischte, wenn eins der anderen Kinder mit ihm spielen wollte. Jonas ist ein besonderes Kind. , sagte die Frau von der Kinder- und Jugendhilfe bei ETUKURA, die Sabine vom Jugendamt aufs Auge gedrückt bekam. Weil sie waren jetzt eine Problemfamilie, der nicht einmal mehr die Supernanny helfen konnte.
Und Jonas war wirklich besonders. So verloren, wie er auf dem Spielplatz wirkte, so strahlte er doch, sobald er in den Armen seines Vaters spielte und hin und wieder von sich gab: „Papa lieb!“
Dann glühte Stephans Herz förmlich vor Glück und die zweieinhalb Tage hinderten ihn daran, sich an einem Spielplatz aufzuhängen. Und Jonas liebte vor allem Wasser. Baden mochte er noch lieber wie Pommes Frites, oder Schokoladeneis. Baden musste sein, gehörte zu ihren zweiwöchigen Ritualen. Und jedes Mal dachte Stephan, dafür, dass der Junge angeblich jeden dritten Tag bei Muttern badete, war das Wasser in der schäbigen Plastikwanne, die er auf einem Sperrmüll gerettet hatte – Genau wie sein englisches Sofa, das neu mehrere Tausend Euro gekostet haben musste und ihm einen Hauch von Leben in seiner Wohnung vorgaukelte. - immer sehr schwarz, ja fast schlammig schwarz. Nun, sie gab ihm wohl genug zu essen und seine Ausbildung übernahm ein HPZ-Kindergarten außerhalb der Stadt. Also gingen sie wohl gerade noch als Rabeneltern durch, deren Kind nicht ins Heim gesteckt wurde. Aber so war das halt, wenn man eine Familie war, der nicht einmal die Supernanny helfen konnte. Sondern nur eine Firma, die vom Staat bezahlt wurde. Eine Firma, die mit dem Elend der Menschen auch noch Geld machten. So wie die Jobcentren, und Bildungszentrums. Stephan fühlte sich manchmal, wie der traurige Held aus La Mancha, der gegen Windmühlen an rann.
Doch das Waschen seines Kindes machte ihn immer Glücklich.
Sabine hatte sehr schnell gemerkt, dass sie ihren besonderen Sohn nicht wirklich alleine groß ziehen konnte und hatte Stephans Liebe geschickt auszunutzen verstanden. Ihr Exmann machte alle Arzt- , Psychologen-, und Führsorgebesuche, wo sie nicht unbedingt anwesend sein musste und war auch sonst immer bereit den Jungen zu hüten, für ein zwei Stunden, wenn er nicht bei seinem Job war und so sah auch Stephan seinen geliebten Hosenscheißer öfter als nur zu den Wochenenden. Sabine wusste immer noch welche Saiten sie auf ihrem Ex zu spielen hatte, damit dieser Sprang. So wie auch in ihrer Ehe. Er wehrte sich zwar, aber am Ende stand er doch als der Vollpfosten da, der er in ihren Augen immer war. Und das Schlimmste war, Stephan wusste es.
Aber da die Zeit mit seinem Sohn alles war, was ihm am Leben hielt, nahm er es hin, wie das schlammige Wasser in der Plastikwanne.
„Jonas baden!“ Der Junge kreischte, wenn sein Vater ihm einen Becher warmen Wassers über sein Haar goss. „Jonas baden!“
Stephan hatte seine Frau geschlagen. Durch das ganze Haus! Sie getreten und geboxt. Ins Gesicht, den Rücken, den Hintern. Und Oh Wunder, sie hatte nicht einmal einen blauen Fleck, geschweige denn blutete sie. Nach stundenlangen Prügeln ging sie noch mit erhobenem Haupt in ein Frauenhaus, rief sich einen Anwalt und verschwand aus Stephans Leben. Ihren Sohn nahm sie mit.
Stephan hatte seine Frau geschlagen. Es war Zeit für Stephan, er musste zur Arbeit. Er war Vorarbeiter in einem Lebensmittellager bei einem Großmarkt. Einsortieren, aussortieren, Wahre bestellen und für den Kunden in die firmeneigenen LKW verladen. Acht Stunden am Tag, außerhalb der Stadt. Eine Stunde hin, eine Stunde zurück. Und wie jeden Morgen lachte ihn der Kleine aus seinem Bettchen an. Mama gab ihm ein Flächen, holte ihn aber nicht heraus, das machte sie nur selten wenn ...
Jonas sah seinen Vater, lachte spuckte Milch auf sein Winnie the Pooh – Kissen und funkelte seinen Vater lieblich an.
„Jo!“ zischte seine Mama und gab ihm einen Klaps auf die linke Wange, der Junge begann zu schreien. Stephan ließ seine Tasche fallen. Sabine schaute grinsend zu ihm auf.
Die Nachbarn hatten ihm schon einige Male darauf hingewiesen, dass sie bemerkt hätten, dass der Junge Tagsüber viel in seinem Bett lag und schrie und Sabine ihn hier und da ohrfeigte, wenn es sie nervte. Nicht schlimm versicherten sie ihm, aber doch für ein kleines Baby nicht unbedingt Zweckmäßig. Nun sah er es selbst und Wut machte sich breit.
„Mach das nie wieder! Willst du, dass unsere Nachbarn zum Jugendamt gehen?“
Sabine grinste nur blöde und versuchte die Nuckelflache in den Mund des Kleinkinds zustopfen.
Jonas spuckte erneut, Sabine gab eine härtere Backpfeife, der Junge schrie.
Stephan ging auf sie los. Er wollte sie so gerne schlagen, seine Faust ballte sich, er zitterte sein Adrenalin stieg ihm ins Gesicht und er fauchte. „Schlag meinen Sohn nicht!“
Er griff sie bei der Hand, dabei flog das Flächen auf Jonas Kopf (Vielleicht war er da ja noch normal? Dachte Stephan seit diesem Tage immer.) und er stieß seine Frau gegen die Wand. Der Zeigefinger und sein Gesicht platzierte er so nah es ging an ihr rechtes Auge.
„Schlag nie wieder meinen Sohn!“ brüllte er.
Dann drehte er sich weg.
Nach all den Jahren der Trennung versuchte er sich immer einzubilden, dass alles nur ein Versehen war, nichts davon Absicht, nichts davon geplant. Und so redete er sich lange Zeit ein, dass Sabine ihn bloß in den Hintern treten wollte um ihm zu zeigen, dass sie sich nicht von ihm bedrohen lasse. Doch der Fuß traf nicht seine Pobacken, nicht mal sein Arschloch, er traf mitten in seinen Eierbeutel. Schmerz und Wut kochten in Sekunden über, eine Drehung und eine schallende Ohrfeige.
Nicht mal Finger. Er sah nicht mal Fingerabdrücke in ihrem Gesicht. Die Wut in ihm hatte sich entladen, als er ihren Blick sah, war er verschüchtert wie ein Kleinkind.
„Du schlägst mich nicht!“ keifte seine Frau.
Stephan wollte stark bleiben. „Du hast Jonas geschlagen!“
Er drehte sich weg, streichelte seinen Sohn. „Ich liebe dich Kleiner!“
Dann verließ er ohne Tasche sein Haus und ging zur Arbeit.
Im Lager dachte er darüber nach, nach der Arbeit ein Hotel zunehmen. Er würde sie verlassen, nach Kanada gehen, nie wieder zurück kommen, sollte sie doch mit ihrem Sohn glücklich werden. Er würde verduften. Hasta Loego Señora!
Er fuhr mit einem Gabelstapler einige Paletten Zucker um, stellte Paletten mit Olivenöl ins Regal für Sonnenblumenöl und kommissionierte eine ganze Scharge einem falschen Kunden zu. Er ging in kein Hotel, nicht nach Kanada und am Abend stand er in seinem Haus, das leer und verwiesen war. Wahrscheinlich bei ihrer Mutter?
Er war stolz, rief nicht auf ihr Handy an, auch nicht bei der Mutter. Nach einer Woche würde sie sich beruhigen. Sie beruhigte sich nicht.
Eine Woche später erhielt er einen Brief von einem Anwalt, der sagte, dass seine Frau in einem Frauenhaus zusammen mit seinem Sohn lebte. Er habe sie misshandelt und unterdrückt, solle sie nicht belästigen und nach dem Notfall, den seine Frau und sein Sohn darstellten, sollte er sich auf eine Strafverhandlung einstellen. Stephan konnte es nicht glauben. Was sollte das? Sie hatten einen Streit, na gut. Sie schlug das Kind, er maulte sie an, sie traf seine Eier, er ihr Gesicht, aber dafür gab man doch keine Ehe auf. Seine Eltern hatten sich nach zwei Jahren Hass scheiden lassen, da gab es richtige Prügeleien, aber das an diesem Morgen war nichts.
Stephan ging zur Polizei, machte eine Anzeige auf Falschaussage und übler Nachrede, wartete ab. Vom Gericht kam ein Brief. Vorverhandlung – Notfallverhandlung. Sie waren ein Notfall. Unbedingte Klärung. Was sollte das bitte?
Die Verhandlung war genauso schnell vorbei, wie sei angeraut wurde. Der Richter stellte fest, dass es eine Auseinandersetzung gegeben hatte, Stephan hatte zugeschlagen, ob er seine Frau durchs Haus geschlagen hatte, konnte ohne ärztliche Gutachten nicht nachgewiesen werden. Aussage gegen Aussage (Kramer gegen Kramer, dachte Stephan und blutete aus der Nase.), die Frau saß im Frauenhaus, der Mann durfte sich ihr und dem Kind nicht über 50 Meter nähern, vorläufig. Sorgerecht bleibt geteilt, Aufenthaltsbestimmungsrecht liegt bei der Mutter. Der Mann solle doch seine Anzeige zurück ziehen schlugen Richter und sein Anwalt vor. Verhandlung geschlossen. Bum! Ende! Aus! Geh alleine nachhaus!
Vorsprache beim Jugendamt ergab, solange die Frau im Frauenhaus sei, kein Besuchsrecht für das Kind. Warten, mehr könne er erst einmal nicht tun, der Fall kam auch der Mitarbeiterin des Jugendamtes seltsam vor, aber so waren die gottverdammten Vorschriften.
Stephan musste das Haus seines Vaters verlassen, seine Frau sollte das Frauenhaus nach drei Monaten verlassen, der Mann musste raus und ihr Platz machen. Stephan ging, mit hängenden Kopf, suchte sich eine Wohnung, leckte seine Wunden und erfuhr, dass Sabine nun mit dem Exfreund seiner Nachbarin in seinem Hause lebte. Nach vier Monaten war er ausgetauscht?
Er wollte sterben. Pillen, Strick? Er dachte an seinen Sohn, dachte an seine Frau und an Hans, den Exfreund, seiner Exnachbarin. Alles lag vor seinen Augen. Alles war geplant. Sabine wollte nur weg. Warum dann diese ganze Farce? Dies Posse? Warum war sie nicht einfach gegangen.
Weil es das Gesetz erlaubte. Opfer bekamen immer mehr.
Wut stieg in ihm hoch. Warum sah niemand ihr Lügengerüst? Warum durfte sie ihm das antun.
Weil es das Gesetz erlaubte.
Sein Gehalt wurde gepfändet, weil es das Gesetz so vorsah, sie behielt alle seine Sachen, weil es das Gesetz so erlaubte und er zu schwach und entsetzt war, sich zu wehren.
Dann ging er zum Jugendamt und forderte sein Besuchsrecht, weil es das Gesetz erlaubte und als er seinen Jungen nach fast einem halben Jahr in den Armen hielt, da wusste er, er wurde weiter leben. Er musste weiter leben. Weil so wie sie ihn ausgebremst hatte, so würde sie auch seinen Sohn ausbremsen. Sie arrangierten sich, weil es das Gesetz erlaubte, auch er hatte Rechte nicht nur Pflichten. So tat Stephan alles um seinen Sohn so häufig wie möglich zusehen. Seine Narben würden wohl nie richtig heilen, aber es würde gehen. An den Tagen wo sein Sohn bei ihm war, da lebte er, an den anderen Tagen lebte er für diese Tage.
Narben wurden ruhiger. Andere platzten auf, als er eines Abends in einem Sommer während seiner Scheidungsschlacht vor dem Fernseher saß und eine Reportage über ein Frauenhaus sah, indem einige Frauen gezeigt worden, deren Männer sie vergewaltigt, geprügelt und misshandelt hatten, sah er zu der Kommode neben dem Apparat, in der ein Schreiben schlummerte, wo ihm einige der Handlungen angekreidet wurden. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen und weinte bitterlich.
Wenn er für sein Recht kämpfen wurde, dann würden diese Frauen und Kinder, deren Jochbeine, Schlüsselbeine und Nasenbeine gebrochen waren, für seine Absolution leiden müssen. Wenn er den Mund hielt, dann war er für immer der Schläger, für den sie ihn darstellte. Eine Zwickmühle, die seine Seele zerreißen wollte. Für ihn gab es keine Gerechtigkeit, das war ihm klar.
Und doch, er mochte es göttliche Fügung nennen, oder einfach nur Schicksal. An diesem Karfreitag, ein Jahr nach seiner Scheidung, gab es Gerechtigkeit für ihn, wenn auch nur eine tief in ihm selbst. Das Jugendamt hatte sich einige Tage nach Ostern bei ihm gemeldet und ihm mitgeteilt, dass der neue Lebensgefährte seiner Exfrau, selbige während eines Alkoholgelage schlimm verprügelt hatte. Als erstes spürte er nur Angst um seinen Sohn, dann war da diese Wärme der Genugtuung. Endlich wurde Sabine bestraft. Endlich war ihm Gerechtigkeit widerfahren. Er ging zu seinem Anwalt und beantragte das alleinige Sorgerecht. Er hoffte noch in diesem Jahr eine Entscheidung zu erhalten. Solange musste er warten.
Er spülte Jonas die Seife aus den Haaren. Morgen würde er ihn wieder zu seiner Mutter bringen. Doch bald würde sie ihn zu ihm bringen müssen, weil so war das Gesetz. Es mahlte sehr langsam.
Stephan zog den kleinen Plastikstöpsel und sah das Dreckwasser abfließen. Alles floss davon.
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