Romane & Erzählungen
Blauer Regen

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"Blauer Regen"
Veröffentlicht am 21. Februar 2012, 218 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Blauer Regen

Blauer Regen

Kapitel 1

Nachdem der glatzköpfige Gemüsehändler die schwere Türe geöffnet und mit dem Schuh den Stapel druckfrischer Zeitungen umständlich auf die Seite bugsiert hatte, stoben brütende Vogelschwärme aus dem dichten, an der unteren Fassade rankenden Efeugewächs und schossen mit einem Höllenspektakel in alle Richtungen. Die lindgrün bemalte Türe war von dünnen Säulen flankiert. Aus jeder Ecke des Architravs blickte ein verwaschener Löwe traurig gegen die Strasse; es schien, als würde er schon immer dort sitzen, von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Unter beängstigendem Gefluche riss der schlechtgelaunte Händler einem barfüssigen Herumtreiber beinahe ein Ohr ab, da sich dieser in einem, wie er glaubte, unbeobachteten Moment an den Resten seines faulenden Obstes zu schaffen machte. Vor Wut schnaubend, zwang ihn der Händler, die vollgestopften Taschen zu leeren, und gab ihm unter einem neuerlichen Schwall unflätiger Beschimpfungen einen Tritt in den Hintern. Mit seiner verschmutzten Schürze wischte sich der aufgebrachte Händler den perlenden Schweiss von Stirn und Nacken, riet dem Ertappten eindringlich, das Weite zu suchen und ihm künftig besser aus dem Weg zu gehen. Ächzend zog er den von schwirrenden Insekten belagerten Karren, die breite Strasse überquerend, auf das von auf und ab hastenden Menschen gesäumte Trottoir, als die bleierne Decke unter dem weissgefärbten Himmel die ersten donneruntermalten, dicken Regentropfen durch die unerträgliche, zwischen den Häusern hängende Schwüle fallen liess. Der geschwollene Boden war völlig ausgetrocknet. Die auf den heissen, rissigen Asphalt aufprallenden Wassertropfen rollten sich ein, glitten wie Glasperlen über den aus allen Poren dampfenden Teer und verdunsteten sogleich wieder. Dann öffneten die immer dunkler werdenden, trächtigen Wolken ihre Schleusen. Der niederprasselnde Regen bildete kleine Pfützen, die stetig anschwollen, sich zu braunen, rauschenden Bächen vereinten, Staub, Dreck und Ungeziefer mit sich rissen und durch die gefluteten Rillen der gusseisernen Schachtdeckel stürzten.

Die Tristesse der Vororte von Cardiff mit ihren rotbraunen Gebäuden war geprägt von Entbehrungen und Gewalt. Die Kundschaft unten im Lebensmittelladen an der lärmenden und stinkenden Renfield Street kaufte kein frisches Obst und Gemüse, braunes Brot, Kaffeebohnen, frischen Fisch von einer Sondertheke, Wein und Spirituosen, sondern billiges Dosengemüse, gebackene Bohnen, Tütensuppen, weissen Zucker, Napfkuchen, Bier und Zigaretten. Rentner mit verbissenen Gesichtsausdrücken und zittrigen Fingern klaubten ihr letztes Kleingeld aus der Tasche, kauften Fleisch für ihre Haustiere und Zwieback für sich selbst. Junge Mütter, abgemagert vor Erschöpfung, die Lippen um Zigaretten gepresst, verloren an der Kasse manchmal die Nerven und verdroschen ihre nach Süssigkeiten quengelnden Kinder.

In einem dunklen, engen Hinterhof der Chapel Street, eingekesselt von monotonen, schnell errichteten Wohnbauten, auf deren winzigen Balkonen der Wind die an den Leinen zappelnden, bunten Wäschestücke tanzen liess, stand das alte, zweistöckige Fabrikgebäude, in dem früher, gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, Unmengen von grossen und kleinen Blechdeckeln für Kochtöpfe gestanzt und deren Griffe angenietet worden waren. Da die Nachfrage kontinuierlich zurückgegangen war, sah sich der alternde Patron zur

Aufgabe der immer stärker nachlassenden Produktion gezwungen, die letzten treuen Arbeiter waren entlassen und die Fabrik kurzerhand geschlossen worden. Viele Jahre hatte das Gebäude leergestanden, der Zahn der Zeit hatte sichtbar daran herumgenagt und seine Spuren hinterlassen. Dann, in den siebziger Jahren, kurz vor seinem zweiundvierzigsten Geburtstag, hatte Ulysses Makgill das Gelände mit der Fabrik zu einem Spottpreis erworben, um sich seinen Jugendtraum zu erfüllen und darin eine Druckerei einrichten zu können. Damals war er fest davon überzeugt, gerade in dieser Region eine Marktlücke schliessen zu können.

Unter den verschiedensten Aufträgen, die ihm teilweise zugetragen wurden, die er aber manchmal auch selber akquirieren musste - dabei kam er sich meistens wie ein schlechter Hausierer vor, waren Trauerzirkulare, Plakätchen für Billigangebote der umliegenden Geschäfte, Visitenkarten und ähnliches. Während dieser Zeit des Aufbaus, der Unsicherheit, begleitet von unzähligen Entbehrungen und Enttäuschungen kam es schon vor, dass anspruchsvollere Druckaufträge für bunte, vielleicht mehrseitige Prospekte oder Geschäftsberichte hereinkamen. Der ausgediente Maschinenpark - mit den drei schwarzen, uralten Tiegelpressen wagte er sich nur noch an magere Auflagen, der nicht mehr zeitgemässe Bleisatz (um eine Textseite zu setzen brauchte er fast einen halben Tag) beschränkten sein sonst ehrgeiziges Schaffen, zudem konnte er sich keinen Angestellten leisten, nicht einmal einen Lehrling, denn dazu fehlte Ulysses die Bewilligung. In letzter Zeit blieben die Auftragsbücher fast leer, da war weder an Expansion noch an Investition zu denken. Die Banken provozierten auf Plakaten mit ihren düpierenden, vielversprechenden und grossangelegten Werbekampagnen ‘Geldsorgen? Kein Problem’. Wenn Ulysses, durch soviel Geldnachwerfetaktik geblendet, allen Mut zusammennahm und am nächsten Tag bei der Kreditabteilung seiner Bank vorsprach, versuchte man ihn mit überschwenglicher Rhetorik davon zu überzeugen, dass der Zeitpunkt für einen Kredit im Moment nicht gerade günstig sei. Oder mit anderen Worten, man könne sich nicht auf eine solch gewagte, finanzielle Gratwanderung einlassen, obwohl ja diese Banken immer wieder Negativschlagzeilen mit hochriskanten Derivatetransaktionen machten, bei denen sie schon mal neunstellige Beträge in den Sand setzten und danach alles herunterzuspielen versuchten.

Ulysses Makgill litt unter anderem an einer chronischen Hyperazidität - einer starken Ãœbersäuerung des Magens —, weshalb er ständig ein griesgrämiges Bleichgesicht trug und dunkle Ringe unter den Augen hatte. Jeder bemerkte sofort, dass er mit seinem Magen, diesem doch so empfindlichen, mit Salzsäure angefüllten Beutel, dessen zarte Schleimhaut immer wieder schmerzhafte Entzündungsherde bildete, und überhaupt mit dem ganzen Verdauungsapparat auf Kriegsfuss stehen musste. Da war dieses penetrante Sodbrennen - beim Liegen war es besonders unangenehm -, wo überbordende, aggressiv ätzende Magensäure die Speiseröhre hinaufschwappte und ihm so wiederum das soeben Gegessene in einer leicht angedauten Form mit all seinen Gerüchen in die Mundhöhle schoss und seinen bittersauren, Ãœbelkeit erregenden Nachgeschmack hinterliess. Vermutlich eine der vielen unabsehbaren Reaktionen seines Körpers auf die unvernünftige Lebensweise und die wenigen Stunden Schlaf, die Ulysses sich gönnte. Wie viele Male hatte ihn der Arzt mit gestrecktem Zeigefinger ermahnend zu überzeugen versucht, er solle endlich zu einer vernünftigeren Ernährung wechseln, hatte animierend von makrobiotischer Kost zur Gesundung von Körper und Geist erzählt, was Ulysses aber nur kopfschüttelnd, mit leichtem Lächeln zur Kenntnis nahm, zu Hause bei jedem Essen mit viel Gestik darüber spöttelte und nicht im Traum daran dachte, auf seine Lieblingsspeisen zu verzichten.

So stand er, breitbeinig, untersetzt, seit Tagen unrasiert, stirnglatzig und rauchend, in seiner Druckerei, einen mit allerlei bunten Farbklecksen gespickten Holzgriff eines blitzblanken Spachtels in der rechten Hand haltend, die linke in der Hosentasche, und mischte eine herausfordernde Farbvariation für den vor wenigen Tagen erhaltenen Druckauftrag eines ihm bekannten Geschäftsmannes. Rund um den an der Oberfläche geschliffenen Marmorsteinblock, der wie ein Grabstein auf dem grossen Tisch lag, standen diverse

geöffnete, farbverschmierte Dosen, aus denen Ulysses Makgill von Zeit zu Zeit mit der Spachtelkante etwas von der zähen Farbe nahm und diese in gebeugter Haltung, die eine Hand das bandscheibengeschädigte Kreuz stützend, kraftvoll auf dem planen Stein verstrich. Es sah aus, als wollte er die Farbe zerquetschen und danach wieder liebevoll glattstreichen, mit der Zeit aber verschmolzen die neu dazugemischten Farbkleckse zu einem gleichmässigen und einheitlichen Farbbrei von bester Konsistenz, was für den Druckvorgang wichtig war. Dazwischen blickte er mit gesenktem Haupt, um über die Brillengläser hinwegzusehen, immer wieder in das offen daliegende Rezeptbuch, in dem er die verschiedensten Farbkompositionen mit der genauen Grammzahl notiert hatte, daneben klebte jeweils ein aus dem Original ausgeschnittenes Muster. Diese umfangreiche Rezeptsammlung, die er sich im Laufe der Jahre angelegt hatte, war sein ganzer Stolz. Wenn Kunden zu ihm kamen, die sich wenig oder keine Vorstellung von den unzähligen Möglichkeiten der verschiedensten Farbnuancen machen konnten, legte er ihnen das Musterbuch vor; schwärmerisch verlief er sich in Fachausdrücke, wusste jede entsprechende Komplementärfarbe auswendig und freute sich sichtlich über das erstaunte "Oh" und "Ach" des Betrachters.

In der abgestandenen Luft hing ein schwerer, scharfer Geruch aus Farbentferner, Maschinenöl und Druckfarbe. Dazwischen zogen immer wieder dicke Rauchschwaden von der in Ulyssess zusammengekniffenem Mundwinkel steckenden, glühenden Zigarre, die er sich nur hier unten gönnte, wie ein Unwetter durch den immer trüben Maschinensaal. An schönen Tagen versuchte die Sonne mit ihren morgendlichen Strahlen neugierig in den Raum vorzudringen und die durch den Raum schwebenden Staubpartikel beleuchtend zum Tanzen zu animieren. Meistens versiegten diese, bereits kraftlos geworden, kurz hinter den Scheiben, die von aussen wie Milchglas aussahen, in Wirklichkeit aber eine dicke Schicht abgelagerten, schmierigen Schmutz aufwiesen.

Als die gemischte Farbe mit der Vorlage übereinzustimmen schien, tauchte er die blutleere Kuppe des rechten Mittelfingers, den er mit dem Daumennagel abstützte, ganz leicht in den Farbbrei und betupfte damit ein weisses Blatt Papier, das gleiche, das er auch zum Drucken verwenden wollte. Mit der Zeit entstand ein Farbfleck, der, mit der Vorlage verglichen, ein erfahrungsgemäss gleiches Bild ergab wie nach dem Druckabzug. Da fehlte doch tatsächlich noch etwas Gelb. Nun, nicht irgendein Gelb, sondern ein rötliches Gelb, das er wiederum mit der blankgeputzten Spachtelkante einer numerierten Büchse entnahm und mit dem übrigen Brei mischte. Nach einem erneuten Abtupfen war er zufrieden. Mit einem aus der Tasche gezogenen Lappen wischte er sich die Fingerkuppe halbwegs sauber. Routiniert schaufelte er den gesamten Farbbrei auf den Spachtel, drehte diesen - die Zähne zur besseren Konzentration leicht auf die herausgestreckte Zunge beissend - geschickt mit drei Fingern, damit nichts auf den Boden tropfte, und strich ihn auf die oberste stählerne Walze eines Heidelberger Tiegels. Bei den kleinen Auflagen war es nicht unbedingt nötig, die Farbe in den dafür vorgesehenen Kasten mit den vielen, unter dem Farbmesser einzustellenden Regulierschrauben zu geben, zumal er danach fast eine Stunde länger putzen musste, um wieder alles blitzblank zu haben. Aber bereits schon die geringste Spur alter Farbresten auf den Walzen verfälschte das Ergebnis derart, dass vor dem Druck nochmals alles peinlichst genau gereinigt werden musste. Nachdem er den Motor mit einem Knopfdruck angelassen hatte, das Schwungrad sich kreischend zu drehen begann, bis es die erforderlichen Umdrehungen machte, die Kraft sich über den schlecht gespannten Keilriemen auf die Zahnräder übertrug und alle Gummi- und Stahlwalzen in der Maschine lärmend rotierten, verteilte sich die Farbe allmählich schön gleichmässig. Ulysses Makgill legte einen Stapel zurechtgeschnittenes Papier in die Halterung, kurbelte sie hoch und machte einen ersten Abzug, den er genauestens mit der Vorlage verglich. An seinem Gesichtsausdruck, seinem fachmännisch strengen Blick konnte man erkennen, dass er mit seiner Arbeit zufrieden war.

Gleich neben dem Hauseingang lag Beth Makgills Liebling Lord Byron, der albinotische und augenscheinlich hässliche Bullterrier, der als einziger Bewohner des Hauses Privilegen hatte und sich so ziemlich alles erlauben konnte. Alle Viere von sich gestreckt, den weissen,

eiförmigen Kopf auf der kokosfaserigen Türvorlage plaziert, schnarchte er in einer unverschämten Lautstärke; nur seine spitzen Ohren bewegten sich ab und zu.

Oben, im zweiten Stock der Fabrik, waren sie zu Hause, die Makgills. Im hinteren Teil hatten sie ein kleines Zimmer, das einen eigenen Zugang mit einer Art Feuertreppe hatte, ausgerüstet mit einer selbstkonstruierten, mit Schiebetüren versehenen Duschkabine und einer winzigen Kochnische, an einen zugewanderten und absolut trinkfesten Schotten aus Ullapool vermietet. Da sein Name nicht zu artikulieren, ja absolut unaussprechbar war, bezeichneten sie ihn der Einfachheit halber als den ‘Schotten’. Es war ein täglich wiederkehrendes Ärgernis, wenn eben dieser Schotte – ein langer, stets gutgelaunter Kerl mit kurzem, schwarzem Kraushaar — frühmorgens energiegeladen mit seinen hohen Holzpantinen durch sein angemietetes Reich steppte, mit den verbeulten Blechtöpfen hantierte, dazu schrille Lieder aus seiner Heimat durch die gespitzten Lippen pfiff und dabei das ganze Haus aufweckte.

Äusserst praktisch war es schon, wohnen, leben und arbeiten im gleichen Gebäude, im eigenen Geschäft. Aus den früheren, durch Glaswände abgetrennten Büroräumen hatte Ulysses, bis auf einige wenige Ausnahmen, mit viel Energie und Enthusiasmus alles selber zu ansehnlichen Wohnräumen umgebaut; er hatte über Monate an freien Wochenenden herumgewerkelt, tapeziert, gemauert, gemalt, gezimmert, Platten gelegt und so weiter. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen: ein grosses Wohnzimmer, eine kleine Bibliothek, drei Schlafzimmer, eine wirklich gut ausgerüstete Küche und das Gemeinschaftsbad. Unten in der Druckerei gab es ausserdem ein Büro und noch einige leere, meist als Lagerraum missbrauchte Zimmer und Räume.

Es war an einem Mittwochmittag gegen Ende des Altweibersommers. Draussen klebte die Schwüle, stark und alles in ihrem Bann festhaltend, dass sogar die sonst vorlauten und sinnlos geschwätzigen Vögel ihr munteres Gezeter für eine Weile unterbrachen, um im Schatten einer dicht beblätterten, sich bereits verfärbenden Baumkrone der Hitze zu entkommen. Ulysses’ Frau Beth hielt gerade ihren obligaten, narkoleptischen Mittagsschlaf. Sie meinte, nein, sie war davon überzeugt, dass sie das brauchte. Nun, bei diesen Temperaturen und nach vier bis fünf Glas schwerem, fast violettschwarzem Rotwein zum Mittagessen war es jeweils kaum verwunderlich, dass ihre Beine danach wie Blei waren, sie ihre Zungenbewegungen nicht mehr kontrollieren konnte und sie nur noch, sich leise an der Wand forttastend, den Gang ins Schlafzimmer wagte, wo sie, kaum dass sie sich mit einem erschöpften Seufzer auf den Rücken gelegt hatte, in einen traumgeladenen Tiefschlaf fiel. Ihr gutturales, von im Schlaf ausgeführten Drehungen des Körpers unterbrochenes Grunzen war bei genügend weit geöffneten Fenstern bis hinunter auf die Strasse zu hören. Sie schnarchte, dass es sich durch das offene Fenster wie das Zersägen von Balken und Brettern anhörte; der schiere Wahnsinn. Wenn Ulysses ausgerechnet in einem solchen Augenblick in der Nähe stand, bekam er zwangsläufig beim unbeabsichtigten Zuhören eine beklemmende Atemnot, denn Beths Atem setzte plötzlich aus, einen Moment Totenstille, sie lag da, als hätte sie das Zeitliche gesegnet. Dann aber, mit fast explosionsartigem Knall setzte ihr Atem wieder ein, der Augenblick, der die nächste Strophe ankündigte, danach schnarchte sie mit unverminderter Stärke weiter. Ulysses kam gerade wie jeden Mittag aus der Druckerei, kurz hinauf zum offenen Schlafzimmerfenster blickend, und dachte etwas beschämt, dass sie zumindest das Fenster hätte schliessen können. Einen tiefen Seufzer ausstossend, den Kopf leicht schüttelnd, ging er wie meistens um diese Zeit, die Hände salopp in den Taschen, gemütlich hinüber zum Marktplatz, um im Pub an der Ecke sein Caffrey’s zu trinken. Beim Vorbeigehen tätschelte Ulysses das gelangweilte und gähnende Haupt Lord Byrons, was dieser mit völligem Gleichmut hinnahm. Der Bullterrier, der durch die Störung aufgeschreckt, auf der anderen Strassenseite eine kokettierende Corgihündin entdeckt hatte, erhob sich schüttelnd, rannte sabbernd und keuchend über die Strasse, wo er desillusioniert feststellen musste, dass sich die Dame längst aus dem Staub gemacht hatte. Enttäuscht stellte er sich an eine Platane, schnüffelte einige Zeit daran und kackte mit bebenden Flanken und einem Ausdruck verträumter Erbauung auf das kleine armselige

Fleckchen Erde. Dann begann sich der Hund lustvoll schmatzend die Geschlechtsteile zu lecken, brummte dabei in einer hohen Tonlage und legte seine Schnauze schliesslich wieder auf den Boden und döste mit zuckenden Lidern weiter vor sich hin.

Als Ulysses weiterging, kam ihm, als er den gepflegten Promenadenweg am River Taff mit zügigen Schritten entlangging, ein etwa dreizehnjähriges Mädchen entgegen. Das dunkelhäutige Mädchen mit markanten Backenknochen und schwarzen Wollstrümpfen hielt eine verbeulte Blechdose in der Hand, die sie ohne Unterbruch auf und abschüttelte, dass die hörbar beachtliche Zahl an erbettelten Münzen gegen den Boden schepperte. Mit engelshaften Zügen und einem aufgesetzten Lächeln hielt sie ihm die Büchse entgegen, der wegen der akuten Bedrängnis grossherzig ein Pfundstück aus der Tasche kramte und es dem Mädchen entgegenstreckte.

„Alter Wichser“, murmelte das Kind, das immer wieder abwechselnd auf Ulysses Hosenschlitz, dann wieder in sein Gesicht starrte und überzeugt davon war, in ein Paar lüsterner Augen zu blicken.

„Was hast du gesagt? Wie kannst Du es wagen..“ empörte sich Ulysses, der wiederum sicher war, sich verhört zu haben. Um ein Haar hätte er das Mädchen an der Schulter festgehalten, um es zur Rede zu stellen, aber seine Vernunft hielt ihn davon ab. Wer weiss, ob das raffinierte Luder dann nicht noch zu schreien begann. Das konnte ihn in eine verfahrene Situation bringen.

„Vielen Dank Sir, Gott segne Sie und noch einen schönen Tag“, erwiderte das Mädchen mit lauter Stimme, warf zufrieden den Kopf zurück, lachte und hüpfte tanzend davon.

Erbost und verwirrt über die freche Göre ging Ulysses weiter, prallte gedankenverloren, nur ein paar belebte Strassen weiter, beinahe mit Mr. Haig dem Buchhändler, zusammmen. Mr. Haig, dessen rosafarbiger Seidenschal wegen der auffrischenden Bise immer wieder über seine Schulter rutschte, wirkte in seinem schwarzseidenen Jackett, den weiten Hosen und den modischen Schuhen geckenhaft, obwohl sein Hemdzipfel aus der Hose gerutscht war, seine Krawatte schief hing, und sein Taschentuch wie zerissenes Innenfutter aus seiner Hosentasche quoll. Die unverkennbare innere Einsamkeit hatte ihn mit der Zeit verbissen zu magischem Denken, ja zum Aberglauben gedrängt. Obwohl es ihm als anerkannten Philologen peinlich war, las er vermehrt esoterische Schriften und ertappte sich dabei, wie er morgens ungeduldig die Zeitungen nach dem Tageshoroskop durchforstete. Auch liess er sich in letzter Zeit dazu hinreissen, sich die linke Gesichtshälfte zuerst zu rasieren, die Zähne erst zu putzen, wenn die Kappe der Zahnpastatube wieder festgeschraubt war; zudem betätigte er die Toilettenspülung mit der linken Hand, obwohl dies alles andere als praktisch war. Selbst beim Aufstehen achtete er darauf, immer mit beiden Beinen gleichzeitig den Boden zu berühren.

„Guten Morgen Sir, welch herrlicher Tag. Ich hoffe, Sie haben einen Moment Zeit“, sagte Mr. Haig in seiner langsamen und sonoren Art, wobei er immer wieder seine Augenbrauen in die Höhe zog, die so dicht und buschig waren, dass sie an exotische Raupen erinnerten. Gleichzeitig deutete er auf seinen Laden und meinte: „Endlich ist es mir gelungen, die Originalfassung von Dylan Thomas, auf die Sie schon so lange warten, aufzutreiben“.

Ulysses suchte nach seiner Taschenuhr, warf einen flüchtigen Blick darauf und überlegte kurz: „Ah... Mr. Haig, also bis jetzt ist der Tag noch nicht so verlaufen wie ich ihn mir vorgestellt habe. Eigentlich wollte ich zum Stammtisch. Aber ich lasse ich mich gerne noch etwas ablenken.“

Er folgte Mr. Haig über die steilen Stufen hinunter in das staubige und beinahe verborgene Bücherparadieses. Während seiner zur Gewohnheit gewordenen Stöberjagden mit meist

behandschuhten Händen durch die vollgestopften und verwinkelten Katakomben des Antiquariats fand der wahrhaft Bibliophage Makgill in den vergessensten und unerreichbarsten Regalen voller Spinnweben schon seltene Beute zu lächerlichen Preisen. Der Laden war klein, schlicht, düster und dennoch gemütlich. Der unbeschreibliche Geruch, die Regale aus Edelholz, völlig verborgen und kaum sichtbar unter dem Gewicht und der unvorstellbaren Unordnung tausender von Büchern, die sie bis zur kleinsten Ritze ausfüllten und niederdrückten, strahlten etwas paradiesisches aus. Zwei Lampen mit Glasschirmen warfen ihr dumpfes Licht gegen die unzähligen Buchrücken. In einem noch engeren Nebenraum, vollgestopft mit alten Folianten mit morschem Rücken und Unmengen an unsortierten Neuzugängen, sass Mrs. Haig, die Kontoristin ihres Mannes, die mit einer sauberen Handschrift Karteikarten beschriftete und so ein Buch nach dem anderen katalogisierte, ihm mittels einer Nummernkombination eine buchhalterische Identität aufdrückte. Nur so konnte man es in diesem organisierten Chaos jemals wiederfinden; ein mühsames und nicht Enden wollendes Unterfangen. Mrs. Haig blickte kurz auf. Die Brillengläser, dick wie Aquariumwände, vergrösserten ihre Augen in geradezu dramatischer Weise. Während sie aufsah, löste sie ohne Absicht mit der Zunge ihr Gebiss vom Gaumen, dass es auf die untere Zahnreihe fiel und dann durch den halboffenen Mund mit einem dumpfen Geräusch auf die Tischplatte klatschte und die herumliegenden Papiere mit schäumendem Speichel besudelte. Sie wurde rot, nickte aber kurz mit dem Kopf in Ulysses Richtung. Ihr Gesicht mit dem zahnlosen Mund hatte plötzlich einen scheusslichen Ausdruck. Schnell umschloss sie das Gebiss mit der Hand und vertiefte sich sogleich wieder in ihre Arbeit. Der Buchhändler setzte sich an seinen überladenen Schreibtisch und rieb sich die Hände. Danach setzte er sich die Nickelbrille auf und widmete sich kurz einem geöffneten Buch, das vor ihm lag. Die Lektüre schien ihm solches Vergnügen zu bereiten, dass er für einen Augenblick gar die Haltung vergass, die Beine übereinanderschlug und aufgrund der viel zu kurzen Socken sein spärlich behaartes Schienbein entblösste, welches noch nie einem bräunenden Sonnenstrahl ausgesetzt war. Seine von blauschwarzen Krampfadern zerfurchte Wade lag dabei wie ein Kissen auf dem linken Knie. Selbst beim Lesen liessen seine erschlafften Gesichtsmuskeln keine Regung zu, nur die buschigen Augenbrauen bewegten sich ohne ersichtlichen Grund leicht nach oben. Dann öffnete er mit einiger Kraftanstrengung die störrische Schublade, kramte eine Weile geheimnisvoll darin herum und hielt Ulysses lächelnd und voller Erwartung das ergatterte Buch entgegen.

„Was sagen Sie zum Zustand des Buches?“ sagte Mr. Haig ungeduldig und mit einer rührenden Entzückung das ihm Tränen in die Augen trieb, während er mit dem Finger sanft über den matten Lederrücken strich.

„Thomas’ Gedichte sind sehr subtil und hängen meiner Meinung nach weitgehend von tiefgreifenden Gedankenverbindungen ab. Schade, dass er seinen letzten Atemzug im New Yorker Chelsea Hotel so früh tat, denn er hätte noch so viel zu sagen gehabt“, führte Mr. Haig, dessen Zähne weit auseinander standen, weiter aus, „aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu erläutern“.

Unbeeindruckt von Haigs Äusserungen griff er sich das Buch und begann ostentativ darin zu blättern, machte eine Eintragung in sein Notizbuch und fragte: „Haben Sie in dem Buch gelesen?“

„Nun, ich habe mir erlaubt, etwas darin zu schmöckern, aber ich glaube alle Gedichte von Thomas zu kennen“, meinte Mr. Haig nicht ohne einen Hauch Stolz in der Stimme und seine feucht gewordenen, aschfarbenen Augen, ein Pferdeauge und ein Adlerauge, blickten Ulysses voller Erwartung an. So griff Ulysses sich seine Neuanschaffung, legte die geforderten zwei Fünfpfundnoten auf den Tisch und verliess das Geschäft.

Als er dann nichts Böses ahnend weiter die Strasse entlang schlenderte, stand auf dem schmutzigen Treppenabsatz des Hauses an der Main Street Nummer 18 Penelope, ein

stadtbekanntes, nicht mehr ganz taufrisches, aufgetakeltes Hürchen aus Fankreich, das sich am hellichten Tag vor dem Eingang ihres Appartementes prostituierte und auf verirrte, anspruchslose Kundschaft wartete. Ganz oben auf der uringesprenkelten Treppe, wie auf einem Thron, sass ihr sorgfälltig gekämmtes, nicht einmal katzengrosses Hündchen, das wohl die Stelle eines durch und durch behüteten Teddybären einnahm, ein geranienrotes, weit über die spitzen Ohren ragendes Mäschchen ins Kopffell geflochten. Das Hündchen zerrte, wichtigtuerisch und augenscheinlich den Eingang bewachend, an der dünnen Leine. Die himbeerrote Zunge hing ihm seitlich über die Lefzen, und es quiekte mit weit aufgerissenem Maul wie ein Ferkel gegen die Strasse, da dem kleinen, zitternden Körper offensichtlich die Resonanz zum Bellen fehlte. Während Ulysses mit einem ausweichenden Bogen an ihr und dem kläffenden Winzling vorbeizugehen versuchte, kam ihm Penelope mit tänzelnden Bewegungen, ihre ausladenden Hüften synchron mit der kofferförmigen Lackhandtasche schwingend, entgegen und klammerte sich auf einem Bein stehend um seinen Hals. Mit dem angewinkelten Knie fuhr sie ihm hemmungslos drängend zwischen die Beine und flüsterte ihm mit gespitzten Lippen eine Tirade frivoler Sprüche ins Ohr, die selbst Ulysses die Röte ins Gesicht trieben. Alleine schon ihre dick aufgetragene Kriegsbemalung und ihr fletschendes, von rotem Lippenstift besudeltes Gebiss waren eine Provokation. Wie eine lästige Klette schüttelte Ulysses die Aufdringliche von sich, meinte beschämt, er hätte im Moment weiss Gott andere Sorgen, als sich bei einem, wenn auch billigen Schäferstündchen zu vergnügen, und war froh, endlich und einigermassen ungeschoren das Pub zu erreichen.

Unter der bis zum Trottoir reichenden Markise aus blau und weiss gestreiftem Segeltuch eines Strassencafés, das sich träge im Wind bewegte, sassen einige ältere Damen, eifrig schwatzend, das Gesicht von teuren Chiffonhüten bedeckt. Mit der Gabelkante gruben sie genussvoll durch schäumende Rahmtürme, stachen Stücke einer Tarte Tatin ab, nahmen hin und wieder ein Schlückchen aus zarten Porzellantäschen und beobachteten so ganz nebenbei die belebte Strasse. Einige Schritte daneben hatte sich eine interessierte Menschentraube gebildet, um einem älteren Paar zuzusehen, das inbrünstig Shakespeares Macbeth zum besten gab. Er, faltig, mit stechenden Augen, karierter Schirmmütze, fuchtelndem Spazierstock und weissem Pullover; sie mit breitem Hut, hohen Absätzen und weitem Wollkleid. Ihr Gesicht sah aus, als hätte sie sich offensichtlich während eines starken Erdbebens geschminkt oder ihren rosa Lippenstift am frühen Morgen in einem dunklen, spiegellosen Raum aufgetragen. Dann ging sie leicht in die Knie und sprach mit heller aber klarer Stimme:

"Mein König, ihr entzieht euch Euren Freunden." Darauf er:?"Ha! Ich vergass; -?Staunt über mich nicht, meine würd'gen Freunde; Ich hab ein seltsam Übel, das nichts ist

Für jene, die mich kennen.?Wohlan! Lieb' und Gesundheit trink ich allen,?Dann setz ich mich. Ha! Wein her! Voll den Becher!"

Während er das letzte Wort sprach, nahm er einen halbgefüllten Pappbecher, hob ihn zum Publikum, das begeistert applaudierte und trank ihn leer. Ulysses musste bei dem Schauspiel schmunzeln und rätselte darüber, was Macbeth da so genussvoll trank und ob

die Szene aus dem 3. oder 4. Aufzug war. Noch einmal blickte Ulysses auf das ältere Paar, das inzwischen voller Leidenschaft bei der nächsten Szene war, zog den Kopf etwas ein und ging schnell durch den offenen Nebeneingang des angrenzenden Pubs.

Vor der Theke standen die Zecher bereits in Dreierreihen. Er setzte sich an den übervollen Stammtisch, der von eifrig durcheinanderredenden Menschen belagert wurde. Ãœbermütig werdend begann er sich in die Diskussion zu mischen, die von den verhassten Politikern in der Whitehall verhängten Agrarreformen zu belächeln und über nicht anwesende Bekannte und Nachbarn herzuziehen, um diese ungerührt zu diffamieren. Dann, wenn der Angeschwärzte gerade zufällig das Pub betrat und zielstrebig auf den Stammtisch zusteuerte, prostete man ihm überschwenglich zu, wechselte das Thema und versicherte ihm — mit leicht gerötetem und peinlich berührtem Gesichtsausdruck - beiläufig, dass es sich beim Gehörten wegen des eindringenden dumpfen Strassenlärms sicherlich nur um einen Lapsus linguae handeln könne.

Kapitel 2

Loretta, Makgills missratene Tochter, Nachbarn hielten sie für durchtrieben, falsch und unhöflich, lag oben in ihrem unaufgeräumten Zimmer auf dem Bett und hörte Platten. Ihren kupferroten, mit blonden Strähnen durchzogenen Lockenkopf in das flache Kissen drückend, träumte sie, stumpf gegen die Decke starrend, von einem anderen, interessanteren Leben. Sie liebte das Chaos, und alles, was sie in die Finger nahm, war ihr hilflos ausgeliefert. Wo sie ging und stand, wurden Gläser und Teller zerbrochen, Türen geworfen, dass sie beinahe aus den Angeln flogen und künftig nicht mehr richtig schlossen. Ihre Eltern wussten schon lange nicht mehr, was ihre apodiktische Tochter so alles trieb, vermutlich interessierte es sie auch nicht mehr. Die Schule hatte Loretta längst geschmissen, oder besser gesagt, die Schule hatte sie hinausgeschmissen, und nun liess sie sich zu Hause aushalten. Seit ihrem unfreiwilligen Abgang von Eaton, einem renommierten Mädcheninternat in der Nähe von Windsor, hing sie nur noch den ganzen Tag herum, nahm, um ihren unverstandenen Weltschmerz besser ertragen zu können, bei jeder sich bietenden Gelegenheit alle Arten von Drogen, Tabletten und Alkohol, ging allen auf die Nerven und war ständig auf der Suche nach neuen Geldquellen, um ihre teure Sucht zu finanzieren. Ihr Freund, den sie während der Semesterferien kennengelernt hatte, verliess sie schon bald wieder wegen ihrer Sucht und ihren unerträglich werdenden schwankenden Launen, die manchmal in cholerischen Ausbrüchen endeten. Der krankhafte Egoismus zerfrass ihr Innerstes, sie war unfähig zur Sexualität, unfähig, Vertrauen auszustrahlen oder zu ernten. Lorettas Persönlichkeit veränderte sich rapide; getrieben von jugendlichem Leichtsinn, schwebte sie in einem Rausch der Schwerelosigkeit, sie war zeitweise aggressiv, nicht mehr sie selbst; ihr fehlte einfach das Weibliche, die Ausstrahlung.

Mit gekrümmtem Rücken setzte sie sich auf die Bettkante, kramte aus der Schublade ihres Nachttisches ein Beutelchen, das sie vorsichtig öffnete. Zitternd streute Loretta etwas von dem weissen, geruchlosen Pulver auf die glatte Oberfläche des Tisches. Mit einer Rasierklinge zerschnitt sie das Pulverhäufchen unzählige Male und schaufelte das Zeug so lange hin und her, bis sich einige schmale Linien gebildet hatte. Ein zu einem Röhrchen gerollter Fünfzigfrancsschein, den sie sich an die Nase hielt, war das Werkzeug, mit dem sie das Pulver den Linien entlangfahrend gierig in sich hineinsog. Die Augen geschlossen, hielt sie für einen Moment den Atem an. Wieder hauchte sie sich die seelenlose Kälte ein, sie spürte das befreiende Ziehen im Unterkiefer und empfand es als geradezu lustvoll, wenn die Zähne danach betäubt waren. Das Kokain hatte ihre Nasenschleimhäute bereits derart angegriffen, dass die ausgetrocknete Nase sie nicht mehr ausreichend vor Viren schützte und Loretta ständig an Erkältungen litt und heiser war. Beth meinte, dass ihre Tochter eben sehr zart und empfindlich sei. Mit ihren neunzehn Jahren sah sie manchmal aus wie eine

unter Wassermangel zu früh verwelkte Blume, mittelgross, hager, ungepflegt, mit schmalem, kantigem Gesicht, zusammengekniffenen Lippen und einer viel zu grossen Nase - ein Hässlein.

Am kommenden Wochenende wollte Loretta nach London, um eines ihrer heiss umschwärmten Idole, mit dessen posenhaften Bildern sie ihr ganzes Zimmer tapeziert hatte, an einem Rockkonzert erleben zu können. Die reisserischen Plakate hingen beinahe an jeder Strassenecke in Cardiff. Überall sah man sie: um knorrige Bäume gewickelt, an alten Mauern und hinter leeren schmutzigen Schaufenstern. Natürlich fehlte ihr das Geld für die Bahnfahrt, also beschloss sie, wie üblich zu trampen. Sie war bereits dabei, ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken, um sie in einem schwarzen, mit violetten Streifen versetzten Rucksack zu verstauen. Viel war da nicht einzupacken. Ihr wichtigstes unabdingbares Utensil, den Walkman, den sie letztes Jahr von ihrer gutmütigen Mutter erbettelt hatte, befestigte sie an ihrem breiten, kitschigen Plastikgürtel und stöpselte das zarte Steckerchen, an dem das dünne Kabel mit dem Kopfhörer hing, daran fest. Ständig, sei sie nun zu Hause oder sonst irgendwo unterwegs, liess sie sich von hirnzermarternden, unmusikalischen Rhythmen behämmern, bei denen sich die durchschlagenden Bässe wellenförmig im Körper bis zum Zwerchfell ausbreiteten und dieses in unkontrollierte Schwingungen versetzten. Die Membranen des Kopfhörers, flauschig und schaumstoffgefüttert, welche die ganze Ohrmuschel ausgossen, schienen mit dem im Rhythmus wippenden Kopf eine Symbiose einzugehen. Oben verschnürte sie ihren zusammengerollten, fleckigen und vergammelten Schlafsack, der alle möglichen Gerüche von sich gab und mit dem sie bereits viel unter freiem Himmel zugebracht hatte. Aus der Küche holte sie sich einige Lebensmittel, nichts Bestimmtes, einfach was ihr gerade zwischen die Finger kam, und packte diese in eine Plastiktüte, die sie aus einer Schublade holte. Selbst die blecherne Bierration ihres Vaters verschwand in der Tüte. Als sie hörte, wie ihre Mutter noch immer schnarchte, zog sie ihren Anorak an, schwang ihr Gepäck auf den Rücken und verliess die Wohnung, die Türe laut hinter sich zuschlagend, als wolle sie sich, unangenehm auf sich aufmerksam machend, auf diese Weise verabschieden.

Beth Makgill, von dem unverschämten Knall der Türe unsanft wach geworden, erhob sich endlich und leise vor sich hinstöhnend von ihrem Bett. Mit rotgeränderten Augen und einer zerfurchten Stirn stand sie da, mit der einen Hand ihre zerknitterte Schürze glattstreichend, die andere zur Decke gerichtet, und gähnte herzergreifend. Tränen schossen ihr dabei in die Augen, die sie schnell mit einem aus der Schürzentasche gezogenen Taschentuch abwischte und - gegen den hartnäckigen Frosch in ihrem Hals ankämpfend — sich immer wieder räuspernd, zur Küche schlenderte. Jetzt brauchte sie einen starken Kaffee, denn nach dem Mittagsschlaf fühlte sie sich keineswegs ausgeruht und war meistens noch erschlagener als zuvor. Das war auch der Grund, dass sie das schwarze Gebräu so stark machte, dass man nach dem ersten Schluck, den man fast kauen musste, das Pulsieren des Herzens in den Hirnarterien deutlich verspürte.

In diesem Moment ging draussen im Gang die Türe, laut und quietschend. Ulysses Makgill betrat die Küche, da sie fast jeden Nachmittag gemeinsam den Kaffee tranken. Wortlos, vom Treppensteigen noch immer schwer atmend, bewegte er sich auf den Küchentisch zu, rümpfte die Nase, da seine olfaktorischen Empfindungen aufs äusserste gereizt schienen. Der wie eine Glocke in der Küche hängende, ölige Geruch von erkaltetem Bratfett strapazierte seine sensiblen Magennerven und verursachte bei ihm eine leichte Malaise, die man ihm im gleichen Augenblick vom Gesicht ablesen konnte. Selbst der dominante Duft von frisch gemahlenen, dunkel gerösteten Kaffeebohnen, der langsam durch die Küche zog, konnte nichts daran ändern.

„Mein Gott, eine Penetration der Gerüche? Hast du nach dem Essen denn nicht gelüftet?“ bemerkte Ulysses aufgeregt und ungehalten, die Hand krampfhaft vor den Mund pressend, als müsse er sich jeden Moment übergeben. Demonstrativ eilte er zum Fenster, um den einen doppelverglasten Flügel hastig aufzureissen, rasch einige japsende Atemzüge zu

erhaschen, als hätte man ihm die Luft zum Atmen entzogen. Während er sich an den gewohnt liebevoll gedeckten Tisch setzte, prüfte er jeden einzelnen, darauf stehenden Gegenstand kritisch, um vielleicht das eine oder andere bemängeln zu können. Schnell öffnete er mit zwei Fingern die zum Platzen gespannte blaue Schürze über seinem Bauch, bevor sich die an einem dünnen Faden hängenden Knöpfe selbständig machen konnten. Ohne zu zögern, lästerte er in einem fort: „Und ausserdem hast du heute mittag wieder ungeniert geschnarcht und das bei weit geöffneten Fenstern. Also wirklich Beth ... das ist doch peinlich und geredet wird auch schon darüber. Ja, bist du vielleicht der Ansicht, dass unsere geschwätzigen und unvermeidlichen Nachbarn solch aufgezwungene Konzerte um die Mittagszeit schätzen?“

Es waren immer wieder diese kleinen, gezielten Sticheleien, die er zu brauchen schien, die ihm seine Frau aber nicht übelnahm, da sie ihn ja zur Genüge kannte und wusste, dass er es im Grunde nicht böse meinte, und sie es ihm ab und zu mit gleicher Münze zurückzahlte. Ein Schwall Magensäure, der im Begriff war, seine Speiseröhre hinaufzuschwappen, bescherte ihm wieder das unangenehm aufkommende Sodbrennen, das ihn jedesmal unausstehlich werden liess.

„Da kannst du mir erzählen, was du willst, aber so etwas ist doch nicht normal ... ich vermute stark ... Nein, ich weiss, dass in deiner Nase Polypen wuchern, und die, meine liebe Beth, gehörten eigentlich schon längst operiert. Warum liegst du auch immer auf dem Rücken? Oder findest du nicht auch, dass du in letzter Zeit wieder etwas zugenommen hast? Wann hast du dich denn das letzte Mal gewogen?“

„Gestern morgen.“?„ So ... Und wieviel hat das Ding angezeigt?“

„Keine Ahnung“, antwortete Beth nicht ohne ein Lächeln und nahm ihm sogleich den Wind aus den Segeln. „Ich habe mich einfach nicht getraut hinzugucken.“

„Typisch. Und wie steht es mit dieser neuen Diät, die du vor einer Woche begonnen hast und mindestens einen Monat eisern durchhalten wolltest?“

„Ich halte mich doch daran – eine Tausendkaloriendiät – tausend am Morgen, tausend am Mittag und tausend am Abend.“

Da konnte sich selbst Ulysses ein Grinsen nicht verkneifen und meinte nichtsdestotrotz: „Geh doch wieder einmal zu diesem Doc Laverty, den du ja immer so sympathisch fandest; ja geradezu geschwärmt hast du von ihm, weil er ein so guter Zuhörer ist. Glaub mir, Beth, – und davon bin ich überzeugt – der wird mir meine Theorie bestätigen.“

Unbeeindruckt von dieser Äusserung goss Beth, ihr Doppelkinn auf dem faltigen Hals abstützend, den dampfenden schwarzen Kaffee in die Tassen und stellte noch ein paar Stücke eines alternden Sandkuchens neben die auf dem Tisch stehende Armagnacflasche, deren jämmerlicher Rest an eine unter der sengenden Sonne verdunstende Pfütze erinnerte. Ulyssess Finger kreisten über dem Teller wie ein Adler über seinem Opfer, seine Augen fixierten berechnend die ungleich gross und klein geschnittenen Kuchenstücke, und schwups griff er sich gekonnt das grösste Stück, schloss geniesserisch die Augen und biss herzhaft hinein, obwohl er sich voll bewusst war, dass sein unloyaler Magen diesem schwächlichen Nachgeben seiner Genusssucht spätestens in einer halben Stunde mit starkem Sodbrennen antworten würde. Beth hatte bereits beim Zubereiten des Kaffees ein grosses Stück des trockenen Kuchens gierig verschlungen, an dem sie unter tränenden Hustenanfällen beinahe erstickt wäre, einfach um den provokativen Bemerkungen ihres Mannes keinen Boden zu bieten.

„Schmeckt's?“ fragte Beth, die Lippen zu einem künstlichen Lächeln gespitzt, und nahm vorsichtig einen Schluck der heissen Brühe aus der Tasse, immer noch Druckspuren ihres Kissens im Gesicht.

„Komm, nimm doch die Hälfte von meinem Stück - er ist wirklich köstlich, wenn auch etwas trocken!“ Er hielt ihr den Teller direkt vor die Nase.

„Nein, danke ... du weisst ja ... zu ungesund“, meinte Beth mit ironischem Unterton.

Jetzt musste Ulysses einsehen, dass seine besserwisserischen Ausführungen und pseudomedizinischen Erklärungen in einem Monolog endeten. Kurzerhand wechselte er das Thema, verplante gleich den nächsten Sonntag. Während er eifrig weitersprach, vergass er den Kaffee und spie bei zunehmender Trockenheit im Mund immer wieder kleine Kuchenkrümel auf den Tisch.

„Es wäre wirklich wieder an der Zeit, meine Mutter zu besuchen. Da sind nun schon mindestens drei Monate vergangen, seit wir das letzte Mal dort waren. Zudem haben wir dummerweise auch noch ihren Geburtstag in der letzten Woche vergessen. Nicht einmal eine Karte haben wir ihr geschickt. Am besten fahren wir am kommenden Sonntag gleich nach dem Frühstück los. Bis zum späteren Samstagnachmittag brauche ich voraussichtlich für die Fertigstellung der Couverts von Lord Migham ... Na, du weisst schon, der Anwalt mit seinem besänftigenden walisischen Singsang aus der Craddock Street, der sich einbildet, ungleich mehr von Typographie zu verstehen als ich, und sich dafür mit der Bezahlung immer so viel Zeit lässt. Ausserdem sitzt dieser Pragmatiker im Unterausschuss für Drogenbekämpfung in der Whitehall in London und beschert sich selber jeden Abend eine Flasche besten Weines, gerade so, als hätte Alkohol nicht das Geringste mit Drogen zu tun. Somit ist auch er einer dieser unglaubwürdigen Politiker mit unzähligen einträglichen Nebenämtchen, die bei wichtigen Entscheiden sich zuerst vergewissern, ob sie eventuell selber davon betroffen sein könnten. Aber abgesehen davon, was meinst du denn zu meinem Vorschlag?“

Da Ulysses überzeugt war, dass er in der Familie das uneingeschränkte Sagen hatte, duldete er bisweilen keinen Widerspruch, da die Frage, was sie dazu meine, sowieso nur eine Farce war.

„Hmm“ - war der einzige Laut, der über Beths Lippen kam, Ulysses mit keinem Blick würdigend. Aber Ulysses kannte ihre bisweilen kurzen Antworten und interpretierte den unverständlichen Laut als Zustimmung. Eine sorglose, kreuz und quer durchs Zimmer anbrausende, summende gemeine Stubenfliege umschwärmte nach längerer Suche seinen glänzenden Kopf und setzte sich schliesslich, die Vorderbeine zappelnd über die bräunlichen Facettenaugen fahrend, auf den Tisch, um die herumliegenden Krümel zu begutachten. Dabei hob sie immer wieder nervös ab, torkelte kreisend um Ulysses herum und brachte ihn beinahe in Rage. Mit der flachen Hand versuchte er mehrmals, das lästige Vieh bei einer ihrer unzähligen Zwischenlandungen auf dem Tisch zu erschlagen, vergeblich. Dabei donnerte seine Handwurzel mit lautem Knall auf die Tischplatte. Der Schmerz danach war grösser als der Ärger über das flinke Insekt. Die Fliege war durch den ankündigenden Luftzug des nahenden Schlages längst aus der Gefahrenzone geflüchtet. Den Stuhl zurückstossend, eilte Ulysses mit hochrotem Gesicht in die Küche, um die Fliegenklatsche zu holen, die er einige Male drohend durch die Luft wirbeln liess.

„So du zählebiges, kleines Monster, gleich hab ich dich“, meinte Ulysses mordlüstern überzeugend und setzte sich mit einem leisen, durch die gespitzten Lippen hervorgepressten Pfeiffen wieder an den Tisch, um geduldig zu warten.

„Lass doch die blöde Fliege“, unterbrach Beth.

„Nichts da, diese Fliegen müssen ausgerottet werden, eine nach der anderen. Ãœberall kacken sie herum, hinterlassen ihren Dreck oder legen ihre Eier ab, und dieses verdammte Mistvieh hier ... überlebt den heutigen Tag ganz bestimmt nicht“, beharrte Ulysses, und seine Stimme überschlug sich beinahe. Danach war es unabdingbar, erst einmal leer zu schlucken, da sich in seiner Mundhöhle durch den fast überbordenden Eifer Unmengen an Speichel gesammelt hatten.

„Beth, ich habe schon gesehen, früher einmal, was passiert, wenn Massen von übereinanderkriechenden, fressgierigen Maden über ein Stück Lebensmittel herfallen, es von innen her aushöhlen und auffressen. Also wirklich widerlich, absolut widerlich“, meinte Ulysses und schüttelte sich vor Ekel. Im gleichen Moment setzte sich die Fliege wieder nichtsahnend auf den Tisch, die dünnen Membranen der Flügel schillerten in allen Farben. Der Saugrüssel tastete bei der Suche nach einigen Tropfen Flüssigkeit auf der Tischplatte herum. Dabei fuhr sie ihre Legeröhre ein und aus, wie das Fahrwerk eines Flugzeugs, um im nächsten Augenblick auf einem süssen Resten eine Traube ihrer länglich weissen Eier ablegen zu können. Jetzt musste Ulysses handeln: er hob die Klatsche und liess sie mit unglaublicher Kraftaufwendung niedersausen. So schnell konnte das Vieh gar nicht reagieren und wurde durch das klatschende Lederstück gänzlich zerquetscht. Der aus dünnem Draht gefertigte Stiel verbog sich dabei, und Beth entfernte den hässlichen Rest des Nervtöters mit einem feuchten Lappen vom Tisch.

Kapitel 3

Mrs. Margreth Makgill, Ulyssess Mutter, gerade fünfundachtzig Jahre alt geworden, musste nach dem Tod ihres Mannes vor sechs Jahren in eine geschlossene psychiatrische Klinik eingewiesen werden, da sie mit dem Verlust ihres geliebten Gatten nie fertig geworden war, anfing zu phantasieren, schizophrene Züge annahm, zeitweise motorische Ausfälle erlitt und bei jeder Gelegenheit in allen Gegenständen ihren Mann sah und mit ihm sprach. Gefangen in einem Netz von immerwährender Einbildung und falsch gedeuteter Wirklichkeit glaubte sie, dass ihr das Klinikpersonal nach dem Leben trachte, ihr heimlich Gift ins Essen mische und sich nachts im Zimmer verstecke, um sie ständig zu überwachen. Beinahe jeden Tag schüttete sie ihren unberührten Essensteller mit bissigen Kommentaren, aber ohne jegliche Gefühlsregung auf den Boden, was dazu führte, dass Margreth Makgill manchmal unter heftiger Gegenwehr ans Bett gefesselt und zwangsernährt werden musste. Ihre Zerrissenheit im Fühlen und Denken, ihre geistige Abspaltung von der Realität waren für alle Beteiligten hart und nicht leicht zu ertragen.

Früher lebten Margreth Makgill und ihr Mann Paddy mitten in Bristol, hatten ein kleines Lebensmittelgeschäft und wohnten in einer gemütlich eingerichteten Wohnung direkt darüber. Das enge, beidseitig angebaute Haus war ganz in der Nähe des River Avon unter der Suspension Bridge, wo früher, als noch von Fregatten eskortierte Segelschiffe aus aller Herren Länder zum Löschen vom Atlantik den Avon zum Hafen und den Docks von Bristol hochgeschleppt wurden, reger Handel mit Waren aus aller Welt getrieben wurde. Ulysses Makgill hörte von seinem Vater viele Geschichten über die am Hafen liegenden, zum Teil gigantischen Barken und Briggs, über das ominöse, lichtscheue Gesindel, das man nur in der Dunkelheit grölend, nach Rum stinkend, durch die Gassen huschen sah und man froh sein musste, keiner dieser Gestalten zu nahe zu kommen. Ulysses liebte diese phantasiegeladenen Seeräubergeschichten seines Vaters; er konnte zu jener Zeit nicht genug davon zu hören bekommen.

Dann, im Laufe der Jahre, war Margreth Makgill noch das einzige Familienmitglied, das in Bristol lebte, und da keine Verwandten in der Nähe waren, die sich ständig um sie hätten kümmern können, blieb ihnen nur, nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt, die

schmerzliche Lösung, Margreth Makgill in eine Klinik einweisen zu lassen, in der sie, wie man glaubte, die benötigte Pflege rund um die Uhr erhielt. Es war auch schon die Rede davon gewesen, sie nach Cardiff zu holen, aber Ulyssess Frau traute sich diese Mehrarbeit und die Verantwortung nicht zu, zumal die geistige Verwirrtheit Margreth Makgills einiges an Stärke erforderte. Obwohl der Klinikaufenthalt Unsummen verschlang und Ulysses der einzige Sohn war, empfanden es die Makgills als eine Genugtuung zu sehen, dass die Mutter soweit gut aufgehoben war, nicht zuletzt auch, weil es ihr schlechtes Gewissen besänftigte.

Also war es eine eher einseitig beschlossene und dennoch verbindliche Abmachung, dass man am Sonntag nach Elberton in der Nähe von Bristol fuhr, um die greise Mutter zu besuchen. Ohne weitere Worte zu wechseln — um die Mittagszeit wurden keine grossen Reden gehalten —, erhob sich Ulysses von seinem Stuhl, wischte sich mit einem Lappen die Mundwinkel sauber, den er anschliessend mit Wucht zurück in das Abwaschbecken schleuderte. Im gleichen Moment spürte Ulysses wie etwas an seinen Hosenstössen scharrte. Erstaunt schaute er nach unten und blickte in die blutunterlaufenen rosa Augen Lord Byrons. Mit der Hand fuhr er über das glatte weisse Fell, wandte sich Beth zu und meinte schwärmerisch: „Wusstest Du, dass der Erfinder des Weltschmerzes, der wahrhafte Lord Byron, ein richtiger Hundenarr war? Während seiner Studienzeit am Trinity College in Cambridge hielt er sich einen Bären, weil das Halten von Hunden untersagt war und Pferde nicht mit ins Quartier genommen werden durften.“

Beth lachte über seine Eingebung und meinte: „Und wie reagierte man darauf?“

„Das Collage änderte die Regeln und dehnte die Verbotsklauseln auch auf Bären aus. Es ist also falsch, wenn man glaubt, dass die Blütezeit der Exzentrik in Oxbridge der Viktorianischen Ära zugeschrieben wird. Sicher erreichten Langeweile und Wohlstand damals ihren Höhepunkt und Lord Byron unterhielt ja bekanntlich ein inzestuöses Verhältnis zu seiner nicht gerade hübschen, aber sanft und sinnlichen Halbschwester Augusta Leigh. Aber trotzdem meine ich, dass Exzentriker niemals ausser sich sind, sondern nur ausserhalb des gemeinsamen Nenners, auf den alle andern sich bringen wollen oder müssen.“

Gähnend, sich den melierten Haaransatz über dem Ohr kratzend, ging Ulysses wieder pfeifend hinunter in seine Druckerei. Beth räumte lustlos den Tisch ab, trug die kaffeebraun geränderten Tassen zum Spülbecken und wusch sie schnell unter fliessendem Wasser. Dabei verlief sie sich in Gedanken und musste wieder an Ulyssess Mutter denken und hoffte, dabei blickte sie geistesabwesend aus dem Fenster, dass es ihr, wenn die Zeit gekommen war, besser ergehen würde. Ihre Eltern waren seit vielen Jahren nicht mehr am Leben. Da sie aus Cardiff stammten, besuchte man ab und zu das Familiengrab auf dem grossen, von einer riesigen, alten Mauer umgebenen Friedhof mitten in der Stadt, um nach dem Rechten zu sehen, den Blumenschmuck zu erneuern oder zu pflegen, oder einfach weil es ein Gedenktag für die Verstorbenen war. Viele der Ortsansässigen hatten hier ihre Familiengräber in teilweise pompös verzierten und kunstschmiedevergitterten Gruften.

Plötzlich spürte Beth ein leichtes Kribbeln an der grossen Zehe, da sie durch ihren etwas erhöhten Blutdruck immer heiss hatte, ging sie wie üblich barfuss durch die Wohnung. Sie wollte sich bereits bücken, um die juckende Stelle zu kratzen, sah nach unten und ... — Mein Gott, Beth fiel die Tasse aus der Hand und zerschellte klirrend auf dem steinernen Boden; ihr stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben, eine Küchenschabe, ein Kakerlak, besass die Unverfrorenheit und war dabei, ihre eine Zehe zu besteigen, da ihr Fuss als riesiges Hindernis vermutlich dem Vieh den Weg versperrte.

Das flache, zu den Geradflüglern gehörende, schwarz gefärbte Insekt mit den langen Fühlern und den kauenden Mundwerkzeugen — eine blattella germanica — bescherte Beth fast eine Herzattacke, denn ihr hochrot angelaufenes Gesicht mit den Schweissperlen auf

der gerunzelten Stirn verhiess höchste Alarmstufe. Mit dem feuchten Küchentuch schlug sie das auf einen solch mörderischen Schlag unvorbereitete Kriechzeug mit einem Streich von ihrem Fuss. Das hässliche, laut klatschende Geräusch, das einem Knall ähnelte, hörte sich gefährlich an, und das arg malträtierte, ja fast gänzlich zerquetschte Ungeziefer flog in einem weiten Bogen in eine Ecke und blieb benommen liegen.

Beth suchte fieberhaft und aufs höchste erregt nach ihren mit einem Schottenmuster gezeichneten und mit Lammfell gefütterten Pantoffeln, die sie im Gang unter einem Kästchen fand und in die sie flugs hineinschlüpfte. Jetzt musste sie sich erst einmal setzen. Dann, bei dem Gedanken an das ekelhafte Kriechzeug, wurde sie erneut von einem eiskalten Schauer heimgesucht, der ihr wie eine Eidechse langsam den Rücken rauf und runter kroch. Mit beiden über den Kopf gehaltenen Händen strich sie ihre Haare glatt nach hinten, versetzte dabei die perlmutterne Haarspange um einige Zentimeter nach oben und schlug ihre strumpflosen Beine übereinander, deren Bewegung durch den eng werdenden Rock etwas gebremst wurde. Dabei flog der eine Pantoffel auf den Teppich, und sie betrachtete für einige Sekunden den blossgelegten, gelbverhornten Zehennagel des kleinen, durch die engen, spitzen Schuhe nach innen gekrümmten Zehs, der bereits im Begriff war, an den eckig geschnittenen Seiten in die Haut zu wachsen und der mit dem heraustretenden Halux ein jämmerliches Bild von einer über viele Jahre verübten Selbstverstümmelung vermittelte.

Beth, immer noch gezeichnet von ihrem Erlebnis, ging ins Wohnzimmer und liess sich in ihren geliebten, mit grünlich gelbem Velourstoff beschlagenen und mit weichen, grobkariert bestickten Kissen ausgelegten Schaukelstuhl fallen, legte sich eines der Kissen in den Nacken und lehnte sich entspannt zurück. An der Wand hing eine leicht vergilbte Radierung der Brontë-Schwestern, die sie zufällig im Antiquariat von Mr. Haig entdeckt hatte. Es war die Zeit in ihrem Leben, als sie Büchern verfiel und sich stunden-, machmal auch tagelang in anderen Welten verlief. Auf ihrem Schoss lag ein geöffnetes Buch. Sie hatte sich dabei ertappt, wie sie minutenlang nur das poröse Papier angestarrt hatte und mit dem Lesezeichen spielte, ohne sich auf den Inhalt konzentrieren zu können. Mit einem müden, gleichgültigen Blick legte sie das Buch zur Seite und schaute hinüber zu dem angrenzenden Wohnhaus, wo die meisten der schmutzigen Rolläden geschlossen waren, um der mörderischen Hitze den Zutritt zu verwehren. Gleich unter dem Schatten spendenden, kotverdreckten Dachvorsprung, der von unzähligen, gurrenden Tauben bevölkert wurde, hatte eine alte Frau die Fenster geöffnet und starrte, ihren dürren, ausgetrockneten Oberkörper auf einem weissen Kissen abstützend, hinunter auf den Hof. Ihr von Bitterkeit erfüllter Mund, scharf und verzerrt wie ein Stechpalmenblatt, war zusammengekniffen. Mit einer ihrer vergichteten Hände stützte sie ihren faltigen Kopf und wartete stundenlang auf eine Begebenheit, die sich zu beobachten lohnte, aber einfach nicht eintreten wollte. Beths Blick schweifte weiter und blieb zwei Stockwerke tiefer haften, wo sich ein junges, unbeobachtet fühlendes Paar bei weit aufgerissenen Fenstern vergnügte, wo ein muskelbepackter Mann mit schwitzendem, glänzendem Oberkörper seine immer wieder quieksende Partnerin in einer gierigen und doch ergreifenden Weise von hinten umfasste und mit geschlossenen Augen ein virtuoses Zungenspiel in ihrer Ohrmuschel inszenierte, welches sie sich offensichtlich entzückt, am ganzen Körper glühend, mit weit aufgerissenem Mund stöhnend und keuchend zu gefallen lassen schien und sich mit ihren gefährlich langen Krallen zitternd in seinem Haarschopf festklammerte.

Beth begann mit dem Stuhl leicht zu wippen, spürte in der linken Hüfte, wie mit winzigen Nadeln auf sich aufmerksam machen wollend, einen bevorstehenden Wetterumschwung. Müde schloss sie ihre Augen und liess sich gleiten, hinein in ihre innere Welt, beseelt von eidetischen Fähigkeiten, deren Besonderheit ihr gar nicht so recht bewusst war. Detailgetreue, farbige Szenen und keine verquasten Bilder ihres Lebens spielten sich vor ihrem geistigen Auge ab, es war, als stünde sie mittendrin in ihrer vergangenen Jugend. Nach wenigen Minuten überfiel sie eine widerspruchslose Schläfrigkeit, ihre Lider zuckten, die geschlossenen Augen begannen sich anarchisch zu bewegen, versuchten den aufkommenden Bildern nachzurennen, kündeten eine Traumphase an. Sie roch den süssen

Duft von Hyazinthen und sah, wie auf dem schmalen Steinweg jenseits eines ruhig und blau dahinfliessenden Flusses eine junge Frau mit schweifendem Seidenkleid entlanglief. Sie ging langsam, beinahe tanzend, die eine Hand in der schmalen Hüfte vergraben. An der Seite hohe dichte Bäume, die das unregelmässige, auf den Weg fallende Licht erzittern liessen. Für einen Moment blieb sie stehen, drehte sich langsam um, suchend. Der Traum spielte ein seltsames Spiel. Die junge Frau lehnte sich an einen Baum, legte das Gesicht in die Hände, elegisch, weinte schluchzend. Mit beiden Händen umarmte sie den stummen Baum wie einen Geliebten. Dann ging sie weiter, in steter Angst vor etwas Schrecklichem, das kommen sollte, zum Fluss, auf dem ein wogender Teppich aus unzähligen, silbernen Blüten schweigend dahinglitt. Der Wind erzeugte weisse Schaumlocken, die Blüten öffneten ihre zarten Blätter und streckten ihre klaffenden Narben, die einen betörenden Duft ausströmten, der jungen Frau entgegen, lockend und vulgär. Einen kurzen Augenblick überzog ein Lächeln ihr Gesicht; sie streckte ihre Hände aus, rief mit zarter Stimme: „Mam, Mam“.

Dann setzte sie zum Sprung an und war mit einem Male verschwunden ...

Als Beth nach einer Weile die Augen wieder öffnete, griff sie verwirrt nach der dicken Zeitung, blätterte flüchtig und suchend durch die knisternden Seiten. Mit schnellem Blick, die Worte beinahe überpurzelnd, las sie ihr Tageshoroskop. Obwohl sie wusste, dass die in den Zeitungen angewandte Methode der Horoskoperstellung samt ihren Prognosen einzig und allein auf dem Sonnenstand am Geburtstag eines Menschen beruht und nicht wie ein wirklich stichhaltiges Kosmogramm mit der genauen Geburtsstunde steht und fällt, kam sie nicht an der Horoskopseite vorbei, ohne die wer weiss wie seriös recherchierten Vorhersagen intensiv zu studieren. An Tagen, an denen sie keine Gelegenheit hatte, an ihr Horoskop zu kommen, fühlte sie sich unsicher, verängstigt und meinte, dass jeden Moment etwas unvorhersehbar Fürchterliches passieren müsste, dem man ja mit Hilfe des Horoskopes hätte ausweichen können. Eine Manie, fast schon eine Sucht von ihr, für die sie schon so oft belächelt, ja gar bedauert wurde. Aber davon liess sie sich nicht beirren, denn wie viele Male schon hatten die Sterne recht gehabt, wie viele Male wusste sie nicht mehr weiter und konnte dank des Horoskops wieder einen Weg finden.

An der Türe klingelte es, mehrmals in kurzen Abständen. Beth erhob sich, um nachzusehen, ob Ulysses den Schlüssel vergessen hatte und dass er vielleicht desshalb auf eine solch aufdringliche Art Sturm läutete. Aus Gewohnheit spähte sie zuerst durch den winzigen Spion, blickte in das verzerrte Gesicht einer Frau, die ein Kopftuch trug und ebenfalls in das gläserne Auge zu blicken schien. Beth überlegte einen Moment, öffnete dann aber doch die Türe einen Spalt. Die Frau hatte ein dunkles, ledernes Gesicht mit tiefen Falten und Furchen. An der Hand hielt sie ein schmutziges Kind mit struppigen Haaren, dessen Nase lief und das eben noch geweint hatte. Es rieb sich mit den Handballen die geröteten Augen, seufzte ab und zu laut, wobei sein ausgemergelter Körper jedesmal erzitterte. Beth fragte die Frau, was sie denn eigentlich wolle. Im gleichen Moment öffnete die Fremde den Mund, verzog ihn zu einem aufgesetzten Lächeln. Die Furchen glätteten sich, und sie zeigte ihre wenigen gelbschwarzen Zahnstummel zwischen den gesprungenen Lippen und begann einige buntbedruckte Seidentücher vor Beth auszubreiten, die sie aus einer billigen Umhängetasche zog. Mit einer harten, unweiblichen Stimme begann die geschäftstüchtige Frau ihre Waren anzupreisen, redete in ihrem fremden Akzent unablässig auf Beth ein, hängte ihr gar eines der Tücher um den Hals. Die zusammengeschlagenen Hände vor Entzückung ineinanderreibend, tat die Fremde so, als hätte sie noch selten eine solch perfekte Übereinstimmung gesehen. Beth aber keineswegs an dem Tuch interessiert, dachte an das rote Verbotsschild für Hausierer unten an der Haustüre, das absolut unnütz dort hing, denn in dieser Woche war das schon der dritte Versuch, ihr zwischen Tür und Angel etwas Dubioses anzudrehen. Unbeobachtet und ganz leise versuchte das Kind an Beth vorbei in die Wohnung zu gelangen, zwängte und duckte sich spielerisch um ihre Beinen herum. Im letzten Moment konnte sie es am Haarschopf festhalten. Das Kind bekam einen erschreckenden Wutausbruch, sein feuerrotes Gesicht leuchtete, es begann auszuschlagen, wollte ihr ins Schienbein treten, trat ins Leere und war kaum mehr zu besänftigen. Schnell

gab Beth der Frau das Tuch zurück, schüttelte vehement den Kopf und wies der Fremden die Treppe. Die Hausiererin machte einen Schritt zurück, verlor augenblicklich ihr Lächeln, murmelte lautes, unverständliches Zeug, das sich anhörte, als hätte sie einen Fluch ausgestossen und schmetterte Beth einen Blick entgegen, der sie erschaudern liess. Dann riss die Hausiererin das tobende Kind am Arm, dass es noch lauter schrie, und während sie den Schreihals polternd die Treppe hinabzerrte, stopfte sie ihm gewaltsam ein zu einem Ball geformtes Tuch in den Mund.

Kapitel 4

Am Stadtrand von Cardiff, an einer von sattgrünen Wiesenborden gesäumten Landstrasse, deren asphaltierte Ränder leicht brüchig, ausgefranst, mit mehlig gepudertem Gras überwuchert waren, stand Loretta. Ein paar Schritte von ihr entfernt lagen die Ãœberreste eines plattgewalzten, von Massen schwarzer Käfer heimgesuchten Katzenkadavers. Ausgetrocknet, von zerquetschten Eingeweiden beschmiert, verbreiteten die unansehnlichen Reste einen süsslichen Gestank nach Verwesung, der Loretta offensichtlich nicht zu stören schien. Sie hatte den Rucksack zwischen ihre Beine geklemmt und streckte lässig ihre rechte Hand aus, eher schlampig und ihrem Naturell entsprechend, als dass man auf Anhieb erkennen konnte, dass sie mitgenommen werden wollte. Nur das aus einem Wellpappkarton unförmig herausgeschnittene Schild, auf dem auf der einen Seite ‘London’ und auf der anderen ‘Bristol’ zu lesen war und das sie krampfhaft vor die Brust hielt, verriet ihre Absicht. Sie hatte sich vorgenommen, zuerst nach Bristol zu trampen, der nächsten grossen Stadt, denn von dort war die Chance viel grösser, jemanden zu finden, der in östliche Richtung auf der M4 nach London fuhr.

Da es leicht zu nieseln anfing, schloss sie ihren Anorak und zog die Kapuze über den Kopf, um nicht gleich schon zu Beginn klitschnass zu werden. Ab und zu rauschte eine kleine Kolonne von Fahrzeugen an ihr vorbei; achtlos. Hie und da ein neugieriger, schadenfroher Blick aus dem Fenster; niemand hielt. Da sie nun schon mehr als zwei Stunden wartete und es langsam dämmerte, wurde sie allmählich ungeduldig und zeterte hinter jedem Vorbeirasenden her. Manchmal hob sie dabei sogar ihre Hand, um mit dem gestreckten Mittelfinger ihren Unmut kundzutun. Danach war es eine Weile still, kein einziger verdammter Wagen fuhr mehr vorbei. Loretta hockte sich trotz der Nässe auf das leicht ansteigende Wiesenbord und fischte sich eine Bierdose aus der Plastiktüte, die sie mit lautem Zischen öffnete. Der herauslaufende Schaum tropfte ihr über die Hände und den Anorak, was sie wiederum mit lautem Gefluche kommentierte. Als sich der Schaum des Gebräus allmählich beruhigt und wieder verflüssigt hatte, setzte sie die Dose an die Lippen und trank gierig mit grossen Schlucken. Durch leichtes Schütteln stellte sie enttäuscht fest, als sie die Büchse absetzte, dass sie fast leer war und warf die Dose sogleich in einem weiten Bogen hinter sich, wo sie scheppernd im Gras landete.

Wieder hielt sie die Hand symbolisch gegen die Strasse und stellte verblüfft fest, dass gleich der erste Wagen, der heranbrauste, etwa zwanzig Schritte weiter vorne hielt. Das undurchsichtige, spiegelnde Fenster auf der Beifahrerseite wurde heruntergekurbelt. Loretta trat an den Wagen und beugte sich zum Fenster hinab. Ein etwa fünfunddreissigjähriger, kräftig wirkender Mann sass am Steuer und fragte Loretta: „Na, Miss, wo soll’s denn hingehen?“

„Nach Bristol, wie es hier steht ... Können Sie mich vielleicht mitnehmen?“ meinte Loretta etwas vorlaut und deutete auf ihr Schild.

Der gutgekleidete Mann erklärte sich bereit, sie bis nach Bristol mitzunehmen. Rasch stieg er aus, um ihren Rucksack im Kofferraum zu verstauen. Dabei schaute er sich ständig nach allen Seiten um, mit einem hektischen Blick, als achte er darauf, nicht beobachtet zu werden. Loretta machte sich darüber keine Gedanken, warum der freundliche junge Mann den Rucksack nicht auf den hinteren Sitz gelegt hatte. Sie war froh, endlich hier wegzukommen und im Trockenen zu sitzen.

Auf der Fahrt wurde am Anfang kaum gesprochen. Der junge Mann versuchte immer wieder ein Gespräch anzuzetteln, versprühte dabei seinen ganzen Charme und gab sich jegliche Mühe, auch Loretta zum Sprechen zu bewegen, was ihm aber nur schwerlich gelang. Gelangweilt und offenbar an keinerlei Unterhaltung interessiert, schaute sie aus dem Fenster und schien die vorbeiflitzenden Strassenmarkierungen zu zählen. Aus einem Fach in der Türe fingerte der Mann nach einer Musikkassette, schob sie in das Gerät und drehte den Lautstärkeknopf etwas nach rechts. Im selben Moment dröhnte aus den Lautsprechern im Fond moderner, rhythmisch hallender Sound und liess das ganze Cockpit erzittern. Nervös steckte sich der junge Typ eine Zigarette an, inhalierte tief, blies die Reste des austretenden Rauchs gegen die vergilbte Verkleidung des Daches und hielt Loretta ebenfalls die geöffnete Schachtel provokativ unter die Nase.

„Miss, vielleicht kann ich damit Ihre Aufmerksamkeit erlangen. Möchten Sie auch eine Zigarette?“ fragte er laut, aber höflich.

Da konnte sie natürlich nicht widerstehen. Umständlich klaubte sie einen weissen Stengel aus der fast leeren Packung, murmelte etwas Unverständliches, liess sich Feuer geben und saugte den Rauch tief in ihre Lungen, um gleich darauf den Blick wieder auf das Seitenfenster zu richten.

Nach einer Weile verstummte der sonst so gesprächige Mann. Er stellte die Musik ganz leise. Sein Gesichtsausdruck wurde ernst, schien sich zu verändern, es war, als entwickle sich in ihm eine zweite Persönlichkeit, die versuchte die erste, freundliche zu verdrängen. Mit fast versteinerter Miene auf die Fahrbahn starrend, begannen seine Mundwinkel zu zucken. Einige Schweissperlen bildeten sich auf seiner Stirn, die er nervös mit dem Ärmel abwischte. Plötzlich und doch unendlich langsam bewegte sich sein Arm gegen Lorettas Seite und seine schweissnasse Hand legte sich zitternd Hand auf ihren Oberschenkel. Die erste leise Berührung war für Loretta wie ein elektrischer Schlag, kam vollkommen überraschend. Ihr Nacken sträubte sich, und wellenartige Schauer jagten ihr über den Rücken. Erschrocken und von einem würgenden Hustenreiz geschüttelt, nahm sie die eiskalte und fast blutleere Hand des aufdringlichen Kerls und warf sie ihm, ihn in die Schranken weisend, zurück. Von der erwarteten Gegenwehr unbeeindruckt, machte sich der penetrante Kerl mit einem lethargischen Gesichtsausdruck abermals daran, seine Hand auf Lorettas Beine zu legen, diesmal aber mit etwas bestimmenderer Kraft. Loretta wand sich auf ihrem Sitz wie eine in die Enge getriebene Schlange, versuchte immer wieder, sich gegen das Drängen des Fremden zu wehren.

Der junge Mann ermahnte Loretta mit erhobenem Zeigefinger, hochrotem Kopf und in höchster Erregung: „Stell dich nicht so an und halt endlich still, verdammt noch mal! Das macht dir doch auch Spass, oder?“

Wieder tasteten seine vor Gier zitternden Hände suchend nach ihren Schenkeln, und diesmal streichelte er sie unsubtil und roh mit seiner schwieligen Hand. Loretta schlug ihm mit ihren geballten Fäusten auf den Arm, um ihn abzuwehren – vergeblich. Als sie den Türgriff mit der Absicht in die Hand nahm, bei dieser hohen Geschwindigkeit die Türe zu öffnen, schlug ihr der Mann mit unglaublicher Brutalität die Faust ins Gesicht, dass ihr Kopf gegen die Scheibe knallte. Benommen lehnte sie einen Moment zurück und wischte sich mit dem Handrücken das Blut von den Lippen, das ihr wie ein warmes klebriges Bächlein aus

der Nase lief und auf die Bluse tropfte. Der Blick des Mannes wanderte von der Fahrbahn zu Loretta und zurück, unschlüssig und hektisch.

„Bitte Sir, lassen Sie mich aussteigen ... bitte!“ flehte Loretta mit weinerlicher, fast beschwörender Stimme und faltete dabei die Hände wie zum Gebet. Der Unmensch schwieg, tat, als wäre nichts geschehen, und starrte nur geradeaus. Und wieder unternahm er einen dieser plumpen Annäherungsversuche. An seinem Blick war zu erkennen, dass er keinen Widerspruch mehr duldete, seine Augen leuchteten dämonisch, verengten sich zu winzigen Schlitzen. Er begann zu keuchen, und sein Gesicht wurde rot wie das eines gekochten Krebses. Brutal riss er Loretta die Bluse auf, dass einige der weissen Knöpfe vorne gegen die Scheibe regneten. Das Auto schlingerte gefährlich, und der Mann liess einen Augenblick von Loretta ab, um ein Schleudern zu verhindern. Diesen Moment wollte Loretta nutzen und begann mit all ihrer Kraft, den Arm des Mannes abzuschütteln. Wieder schlug er zu. Diesmal direkt gegen ihre Brust. Sie sackte in sich zusammen, der Schlag schien ihr den Atem zu nehmen. Der Mann verlangsamte die Fahrt und hielt Ausschau nach einem Parkplatz, den er auch gleich erblickte. Auf der Höhe von Pining hielt er den Wagen an, direkt am Strassenrand, mit laufendem Motor und hell erleuchteten Bremslichtern. Mit aller Kraft krallte er sich mit beiden Händen wie eine Klette an Loretta fest und schüttelte ihren beinahe willenlos gewordenen Körper mit brachialer Gewalt. Sie schrie sich ihre Angst und ihren Schmerz aus der Seele und wand sich noch einmal mit letzter Kraft, um den Fängen des Fremden zu entkommen. Sie schrie um ihr Leben, ihre fatalistischen Gesichtszüge waren verzerrt. Obwohl dem Mann ihr Schreien sichtlich zu gefallen schien, versuchte er, immer wieder um sich blickend, ihr den Mund zuzuhalten.

„Hör endlich auf mit diesem Gekreische, du hysterische Kuh! Es nützt dir sowieso nichts, und ausserdem kann dich hier draussen keiner hören“, befahl der in Rage gekommene Mann, indem er Loretta an den Haaren festhielt und ihr mit weit aufgerissenem Maul zornig ins Ohr brüllte.

Loretta beschlich Todesangst, und sie wurde immer lauter. Der Mann riss ihr die Reste der Bluse vom Leib, beugte sich zu ihr hinüber und begann sich in einer ihrer kleinen Brüste festzubeissen wie ein beutereissendes Tier. Loretta blutete. Er schien das warme Blut gierig aufzusaugen, schlürfte und stöhnte. Sie spürte den Schmerz nicht mehr, schlug aber immer wieder verzweifelt mit der Hand gegen seinen bulligen Nacken. Da geriet das blutgeile Monster in Panik, die Situation eskalierte immer mehr. Mit blutverschmiertem Gebiss liess er einen Moment von ihr ab. Seine zitternden Hände umklammerten ihren schmalen Hals, schüttelten ihn. Lorettas Kopf driftete haltlos nach allen Seiten. Seine Daumen drückten kräftig gegen ihren Kehlkopf, so lange, bis sie die Augen verdrehte, ihr die Luft wegblieb und der Glanz in ihren Augen erlosch, so lange, bis sie ihr kaum gelebtes Leben mit einem unverständlichen, schmerzverzerrten Stöhnen aushauchte. Erst jetzt liess er zitternd mit einem teils irren, teils orgiastischen Blick von ihr ab und erwachte allmählich aus seiner Trance. Einen Moment war es still, er versuchte, Loretta durch leichtes Anstossen aus ihrer, wie er glaubte, Ohnmacht zu reissen, aber ihr lebloser Körper rutschte weiter gegen die Türe.

Der Unhold beugte sich über Loretta, sah, gefühllos und völlig kalt, was er angerichtet hatte, und versuchte die Türe zu öffnen. Dabei musste er ihren regungslosen blutbeschmierten Körper fest an sich drücken, als nach schier übermenschlicher Kraftanstrengung die Wagentüre endlich aufsprang. Der Kopf seines Opfers baumelte aus dem Wagen, ihre stumpf gewordenen Haare berührten den Boden, ganz leicht. Der Mann gab ihr einen Schubs, dass sie wie ein nasser Sack ins darunterliegende feuchte Gras fiel. Dabei fuhr er bereits wieder an, zog fast erleichtert die Türe mit einem Ruck zu, gab Gas und brauste mit quietschenden Reifen davon.

Erst in den frühen Morgenstunden, als es dämmerte und dünne Nebelschwaden züngelnd über das Gelände streiften, fanden entsetzte, mit gelben Uniformen bekleidete Putzequipen des Strassenunterhaltsdienstes die halbbekleidete, misshandelte Leiche von Loretta im halbhohen Gras gleich neben der Strasse und verständigten die Polizei.

Spezialisten der Kriminalpolizei wurden zum Fundort gerufen. Hektisch untersuchten sie die nähere Umgebung nach brauchbaren Spuren. Die nicht identifizierbare Tote hatte weder Ausweise noch Gepäck bei sich, was die Ermittlungen ungemein erschwerte.

Die Leiche wurde ins Gerichtsmedizinische Institut des Universitätsspitals von Cardiff gebracht, wo auf den nächsten Tag eine Autopsie anberaumt wurde.

Noch in der gleichen Nacht drangen weisskittelgetarnte Unbekannte in den Kühlraum des Institutes ein, die sich in den Räumlichkeiten bestens auszukennen schienen, und packten die zwischen Trennwänden auf einem blitzenden, edelstählernen Seziertisch notdürftig mit einem weissen Tuch bedeckte Leiche, rissen ihr das Tuch vom missbrauchten Körper, der übersät war mit blauroten Flecken und Striemen. Ihre weit aufgerissenen Augen hielten die letzten, entsetzlichen Minuten ihres Lebens fest. Die Unbekannten packten die Leiche routiniert in einen Kunststoffsack, schlossen den Reissverschluss, legten das Paket auf einen länglichen Tisch mit kleinen Rädern und rollten damit durch die weitverzweigten unterirdischen Gänge zu einem Nebeneingang.

Kapitel 5

Sonntagmorgen, kurz vor halb sieben, die ersten leuchtenden und leicht erwärmenden Sonnenstrahlen suchten sich ihren Weg durch das Fenster wie Scheinwerfer neben dem nicht ganz zugezogenen Nachtvorhang vorbei in das mit Stilmöbeln vollgepackte Schlafzimmer. Nur ab und zu war das organische Knacken der sich zu strecken beginnenden Holztäfelung zu hören. Dann ging er los, der eigentlich längst ausmusterungsbedürftige Wecker. Schrill und unerbittlich hämmerte das hammerförmige Metallstück zwischen den beiden messingfarbenen Glockenschalen oberhalb des Zifferblattes hin und her und machte einen Höllenkrach.

Aufstehen war angesagt, aber Ulysses lag trotz des Spektakels mit geschlossenen Augen eingerollt wie ein Embryo auf der Seite, seiner Seite, der rechten, zum Fenster weisenden Seite und tastete wie ein Blinder zu seinem Nachttischchen, um dieses lärmende, impertinente Blechding zum Schweigen zu bringen. Die ersten Versuche scheiterten kläglich, denn das ordinäre Rasseln und Scheppern schien immer lauter zu werden. Endlich ertastete Ulysses den Wecker, es gelang ihm aber nicht, ihn abzustellen. In der Zwischenzeit regte sich auch etwas auf der linken Seite des Bettes. Beth schälte sich aus ihrer Decke, die Haare nach allen Seiten wild aufgerichtet, und blickte mit einem noch immer leicht zugekniffenen Auge, das andere konnte sie noch nicht öffnen, da ein Sonnenstrahl ihr Gesicht genau im Visier hatte und sie zu kitzeln versuchte, hinüber zu Ulyssess Seite.

„Ulysses, stell doch endlich diesen ekelhaften Lärm ab! Was ziehst du ihn auch immer ganz auf“, krächzte Beth mit verschlafener, kratzender Stimme und begann, ihren Mann an den Schultern zu schütteln, da sie glaubte, dass dieser noch schlafe.

„Was denkst du denn, was ich die ganze Zeit versuche? Es geht nicht ... dieses verdammte Ding ist einfach nicht zum Schweigen zu bringen“, gab Ulysses mit fast weinerlicher Stimme zurück, und wieder versuchte er, inzwischen vor lauter Aufregung schon fast wach geworden, den Wecker abzustellen. In der Zwischenzeit hatte er ihn unter seine Decke genommen, was das Gerassel doch erstaunlich dämpfte, und drückte weiterhin daran

herum. Auf einmal war es wieder still im Schlafzimmer. Erleichtert und bereits erschöpft liess sich Ulysses in sein Kissen fallen, dabei atmete er heftig aus, was einem befreienden Stöhnen gleichkam. Beth sass gähnend, die ausgestreckten Arme ohne grössere Kraftanstrengung abwechselnd nach oben und vorne bewegend - welches wohl ihre persönliche Interpretation von Frühgymnastik im Sitzen war - auf der eingedulten Bettkante und murmelte irgend etwas Unverständliches vor sich hin. Vorwurfsvoll blickte sie über die Schulter hinüber zu ihrem vermutlich wieder eingeschlafenen Mann, der keinerlei Anstalten machte aufzustehen. Umständlich, mit den wie zu einer Zange gekrümmten Zehenspitzen, versuchte sie, die halb unter dem Bett liegenden Pantoffeln hervorzuangeln, was ihr, obwohl sie die verkrampften Zehen kaum mehr strecken konnte, auch gelang. Nun erhob sie sich stöhnend und schlarpte immer wieder laut gähnend zum gefliesten Badezimmer. Mit beiden Händen öffnete sie die beiden sternförmigen Wasserhähne, prüfte mit dem in den Strahl gehaltenen Finger die einlaufende Temperatur und regulierte ständig nach, mal musste sie das kalte Wasser drosseln, dann wieder das heisse bis zum Anschlag aufdrehen. Aus dem Spiegelschrank holte sie eine durchsichtige Flasche mit Badewasserzusatz aus, wie auf der Flasche stand, echtem Fichtennadelextrakt. Sie hielt die Flasche kopfüber, drückte leicht gegen die Flanken und zielte mit dem herauslaufenden giftgrünen, klebrigen Extrakt direkt auf den in die Wanne schiessenden Wasserstrahl. Auf der stetig anwachsenden Oberfläche bildete sich sofort ein dicker, gebirgiger Schaumteppich, der den in winzigen, platzenden Luftbläschen verborgenen Duft freigab und den ganzen Raum durchdrang. Der aufsteigende Dampf überzog den von Zahnpastaschlieren verspritzten Spiegel, kühlte auf dem noch kalten Glas wieder ab, und kondensierte Wassertropfen liefen über die Scheibe, sammelten sich an der unteren Kante und tropften ins darunterliegende Lavabo. Als der Wasserspiegel den verkalkten Überlauf zu erreichen drohte, stellte sie das Wasser ab, streifte sich das Nachthemd ab und warf es unachtsam auf den geschlossenen Klodeckel. Mit den Zehenspitzen durch den dichten Schaumteppich stechend, stieg Beth langsam, die Temperatur prüfend, in die Wanne. Während sie sich mit den Händen am Rand abstützend hineinsetzte, stiess sie immer wieder die Luft durch die geblähten Nasenlöcher, um sich allmählich an die Hitze zu gewöhnen, und tauchte bis zum Kinn in das heisse Wasser. Für einen Moment wand sie ihren Körper mit quietschenden Geräuschen hin und her, bis die richtige, völlig entspannende Lage gefunden war, und blies die sich vor ihrem Gesicht auftürmenden Schaumberge zur Seite, schloss die Augen und schwitzte bereits. Mit der Hand, die von einem schaumtropfenden Handschuh umgeben war, tastete sie zur Ablage, griff sich ein kleines Döschen mit einer Gesichtscreme und legte sich eine grosszügige, vom Haaransatz bis zum Hals reichende Maske auf, wobei sie darauf achtete, die geschlossenen Augenlider zu schonen. Gleich darauf öffnete sich die Badezimmertüre, und Ulysses kam, von einem kalten Lufthauch begleitet, herein. Mit etwas brennenden, zu Schlitzen verkleinerten Augen sah sie ihm zu, wie er langsam die Türe hinter sich schloss und barfüssig mit der gestreiften Pyjamahose und nacktem Oberkörper zum Waschbecken schlich, um mit einem Tuch den beschlagenen Spiegel abzuwischen. Beth sah verschwommen sein Gesicht im Spiegel, wie er mit dem Finger über den mit feuchtem Schimmel überzogenen Silikonbelag zwischen den Fugen der Fliesen fuhr und danach mit der Handfläche seine Bartstoppeln mass und sich die von drahtigen silbernen Haaren überwucherte Brust kratzte.

„Ulysses, bitte ... den Rücken“, murmelte Beth mit etwas verzerrter Stimme zufrieden, das Kinn auf die Brust gedrückt.

„Was ist denn mit deinem Rücken? Hast du Schmerzen?“ fragte Ulysses mit unschuldigem Ton, obwohl er ganz genau wusste, dass eine kurze Massage angesetzt war.

Erst nachdem sie ihn mit ‘Komiker’ titulierte, bequemte er sich zur Wanne, packte das beige Stück einer ausgewaschenen Seegurke, das er mit der aufgeweichten Seife bestrich, und massierte ihr damit, auf der rutschigen, emaillierten Kante sitzend, den Rücken.

Mit zu einem Turban um den Kopf gewickelten Frotteetuch suchte Beth in der Küche sämtliche Töpfe, Pfannen und Teller heraus, die sie für die Zubereitung des bevorstehenden Frühstücks benötigte. Eine langstielige, bunt verzierte Kasserolle aus blitzendem Edelstahl hielt sie mit beiden Händen - um auf die stetig zunehmende Schwere des Topfes vorbereitet zu sein — unter den eher zaghaft aus dem Hahn sprudelnden Wasserstrahl, füllte den Topf bis fast zum Rand, stellte ihn wiederum beidhändig bis auf Schulterhöhe anhebend auf den Gasherd und wartete geistesabwesend, bis sich auf dem Boden des zu sieden beginnenden Wassers die ersten nach oben driftenden Blasen bildeten, die an der Oberfläche zerplatzten und sich, in Dampf übergehend, verflüchtigten. Inzwischen war auch Ulysses, der sich doch tatsächlich noch einmal ins laue Bett gelegt hatte, in der Küche erschienen, um sich seinem sonntäglich wiederholenden Ritual des Toastens zu widmen. Mit der linken Hand das Kreuz stützend, suchte er nach seinem selbstkonstruierten Rost, ein auf vier dicke Stahlstifte geschweisstes, dünn gewelltes Drahtgeflecht, stellte ihn auf ein noch freies Rechaud und entzündete das Gas mit einem Streichholz. Die hohe Flamme liess den genau in der Mitte stehenden Rost schnell rot glühen, und Ulysses reduzierte die Gaszufuhr, um ein schwaches, stetes Feuer zu erhalten. Aus dem Kasten holte er eine lange, bereits leicht gummige, am Vortag gekaufte Baguette, säbelte mit einem gefährlich aussehenden, spitz zulaufenden Fleischermesser einige Stücke ab, die er nochmals der Länge nach in der Mitte durchschnitt. Dann legte er die so zerlegten Brotstücke mit der weissen Krume nach unten auf den heissen Rost. In der Zwischenzeit stellte Beth eine Pfanne auf das letzte noch freie Rechaud, gab - des Geschmackes wegen — ein ordentliches Stück der gesalzenen Butter hinein, das langsam schmolz, zu schäumen begann und braun wurde. Da beide kein Porridge zum Frühstück assen, kamen Eier und Speck und Würstchen dazu. Beth musste etwas zur Seite treten, um sich vor den heissen, zischenden Fettspritzern zu schützen. Ulysses war nahe an Beth herangetreten, um ihre Aktivitäten genau zu prüfen, da er es partout nicht unterdrücken konnte, seinen - im richtigen Moment - abgegebenen Kommentar beizusteuern und falls nötig, zu intervenieren. Dabei sprach er ihr eifrig und eher unbeabsichtigt mitten ins Gesicht: „Vielleicht solltest du endlich das Wasser vom Feuer neh...!“

„Bohh, wie du wieder aus dem Mund stinkst !“ entfuhr es Beth, die nochmals einen Schritt zurücktrat, um den austretenden Dämpfen, die Ulyssess Magen entwichen, zu entgehen. Durch den nicht ganz geschlossenen Magenpförtner, der halboffenen Eingangstüre zum Verdauungstrakt, konnten die unsäglichen Gerüche, die im übrigen jeder Beschreibung spotteten, ungehindert durch seinen Schlund entweichen; es stank, als hätte er in der Nacht warme Marderpisse getrunken. Im gleichen Moment begann sein Toast zu qualmen, er hatte ihn totgeröstet und verkohlen lassen. Die Spitze des Messers, das er, noch immer zu allem bereit, in der Hand hielt, fegte das Stück Kohle vom Rost in den Abfluss. Mit gekonnt aufgesetzter Bittermiene und leise vor sich hinflüsternd legte er noch einmal einige Brotscheiben auf den Rost, überwachte diesmal die Röstung aber von allen Seiten und ganz penibel. Man setzte sich an den Tisch und verschlang den Speck mit den goldgelb gebackenen Eiern und den Toast wortlos und in gewohnter Weise.

Nach diesem reichhaltigen Frühstück warf sich Ulysses, der sich vor den unmittelbar nach dem Essen einsetzenden Schmerzen schon wieder den Bauch halten musste, blitzschnell in Schale. Er ging, der langen Warterei überdrüssig, hinab auf den Hof, um den alten Vauxhall - der sowohl Geschäfts- als auch Familienfahrzeug war - aus der umfunktionierten Garage zu holen. Während er die Treppe hinabstieg, löste sich die geblähte Luft in seinen Gedärmen und im Magen. Er liess sie ungeniert entweichen, rülpste sechs-, siebenmal; dann war ihm bedeutend wohler. Im Treppenhaus machte sich ein gemeiner Gestank breit, der vor Schwere beinahe klebte und nicht mehr von der Stelle weichen wollte. Ulysses musste bei dem Gedanken schmunzeln, dass Beth in wenigen Augenblicken durch diese unsichtbare Wolke gehen musste. Mit zunehmender Bewegung wurde ihm warm. Er zog sein Sakko aus und schwang es salopp auf den Rücken. Eine Wespe, durch das blendend weisse Hemd

neugierig irritiert, umschwärmte Ulysses in einer geradezu aufdringlichen Weise. Mit weit ausholenden, abwehrenden Armbewegungen und akrobatischen Körperwendungen versuchte er das gelbschwarz gestreifte Insekt zu vertreiben, das durch soviel Ablehnung schliesslich das Weite suchte.

Über den blassroten Himmel wälzten sich gewaltig aufgeblähte Wolkenmassen, ockerfarben und wie mit geronnenem Blut befleckt, von denen der Wind immer wieder kleinste Teile abriss und schnell davontrieb. In der schlecht beleuchteten Schaufenstersauslage von Perrot & Byrne, das sich schräg gegenüber von Ulysses Druckerei befand, standen funkelnde Trompeten, schlanke Flöten, Banjos, Gitarren, Mundharmonikas in allen Grössen und einige blaulackierte Maultrommeln, die im Angebot zu haben waren. Messing, Silber und Perlmutt strahlten Ulysses durch die Fensterscheibe an, während er ungeduldig auf Beth wartete. Der Laden war mit Musikinstrumenten vollgestopft, an den Wänden hingen Hunderte von gerahmten Bildern und Fotographien und in blitzenden Vitrinen lagen - Posaunen, Gitarren, Klarinetten, Trompeten, Akkordeons, Oboen, Violinen, Ukulelen, Saxophone, alles hatte seinen geordneten Platz.

Er konnte es wieder einmal nicht verstehen, dass seine Frau immer eine Unmenge an Zeit zu haben schien. Beth, nach einer langen und ausgiebigen Morgentoilette, in einem bunten, grellfarbenen Sommerkleid, wollte sich noch schnell von Loretta verabschieden, ihr eine Kleinigkeit zustecken und ihr mitteilen, dass sie zu Ulyssess Mutter fahren wollten. Als sie das Zimmer von Loretta betrat, sah sie das übliche Chaos, ein Schwall von erkaltetem Rauch schlug ihr ins Gesicht, das Bett schien unbenutzt, und von ihrer Tochter keine Spur. Vermutlich war Loretta schon vor längerer Zeit losgezogen, ohne ein Wort zu sagen, dachte Beth.

Endlich erschien auch Beth unten auf der Strasse, die Haustüre hinter sich zuziehend, lächelnd, mit ihrer besten Handtasche bewaffnet. Ulysses sass bereits am Steuer und rauchte bei offenem Fenster nervös seine vierte Zigarette. Beth stieg in das fünftürige, von Rost zernagte Vehikel und liess sich, die Hand an der Dachkante, auf den vorderen, ausgeleierten Sitz mit dem abgewetzten Stoffüberzug fallen. Ulysses schlug eine Welle etwas zu aufdringlich riechenden Parfums ins Gesicht. Der süssliche, blumig orientalische Geruch des Parfums war nicht etwa billig und ordinär, nein, ganz im Gegenteil, die Menge, die sich hier entfaltete, war der Grund. Schnell nahm er noch einen tiefen Zug aus der Zigarette, katapultierte den zwischen die Finger gepressten Stummel weit und in hohem Bogen aus dem Fenster, es sah aus, als hätte er plötztlich Angst, dass sich der in der Hitze schnell verflüchtigende Alkohol des Parfumnebels vielleicht entzünden könnte; dann startete nach einigen Fehlversuchen endlich der Motor, und sie fuhren los.

Auf der Landstrasse fuhren sie in Richtung Newport und von dort auf einer erst vor kurzem eröffneten Autobahn über die Servernbrigde nach Bristol. Der Himmel über ihnen strahlte wie das Blau auf Cézannes ‘Bucht von Marseille’. An einem solch herrlichen Tag genoss Beth die Umgebung in vollen Zügen und lehnte sich gemütlich zurück. Sie versuchte, sich mit Ulysses zu unterhalten, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, der aber gab nur ganz kurz angebundene Antworten, da er sich voll auf das Fahren konzentrierte. Schon immer war er ein schlechter bis mittelmässiger Fahrer mit fast gar keiner spontanen Reaktionsfähigkeit, was ihm und anderen schon etliche Blechschäden beschert hatte.

Steif, als hätte man ihn in ein Korsett geschnürt, sämtliche Muskeln im Körper angespannt, den Kopf leicht nach vorne gebeugt, sass er in seinem Sitz, knapp über das Steuerrad hinwegblickend, welches er krampfhaft mit beiden Händen festhielt, als könne sich das Fahrzeug jederzeit selbständig machen.

Plötzlich und ohne jegliche Vorwarnung spürte Ulysses ein an- und abschwellendes, unangenehmes, ja lautes Rumoren und Gurgeln in seinem Magen, das einer Rebellion gleichkam. Was um Gottes willen war denn das schon wieder? Hatte er zum Frühstück etwas Verdorbenes gegessen? Waren es die Eier? Der Speck? Oder hatte er heute vielleicht zuviel von den giftgrünen Pillen geschluckt, die seit Jahren zu seiner täglichen Ernährung gehörten, aber die, wie er meinte, harmlos waren, da sie aus rein pflanzlichen Substanzen hergestellt wurden, und dem trägen Darm von Ulysses etwas auf die Sprünge halfen. Der Arzt hatte ihm bereits vor langer Zeit davon abgeraten und ihn vor schweren Folgeschäden gewarnt. Auf jeden Fall schien sich der ganze Darminhalt nach und nach zu verflüssigen, was man an Ulyssess Physiognomie deutlich erkennen konnte. Sein Gesichtsausdruck schien noch verkrampfter, teilweise musste er gar die Luft anhalten, um die Krämpfe, die seinen Körper wie Wehen heimsuchten, überstehen zu können. Die Blähungen waren so stark und schmerzhaft, das s Ulysses die Zähne zusammenbeissen musste, um zu vermeiden, dass die Luft seinen Darm auf natürlichem Wege verliess, denn er war sicher, dass er sich ein derartiges Experiment nicht erlauben konnte, zumal er seinen besten Anzug anhatte.

Beth, in der Zwischenzeit durch die lauten Knurr- und Gurgelgeräusche aufmerksam geworden, sah hinüber zu ihrem Mann und fragte ihn besorgt: „Ulysses, was hast du denn? Das klingt ja nicht gerade ermutigend.“

Ulysses schwieg begreiflicherweise, die Luft durch die gespitzten Lippen ausstossend, als zu seinem Trost gleich neben der Strasse ein blaues Hinweissignal stand, das mit seinen Symbolen eine Raststätte ankündigte. Er trat kräftiger auf das Gaspedal, um die Stätte seiner Erleichterung schneller zu erreichen. Endlich, nach etwa fünf Kilometern, die ihm nicht endend lang erschienen, verlangsamte er die Fahrt und schwenkte auf den Rastplatz, fuhr auf die erstbeste Parkfläche, stellte den Motor ab, zog die Handbremse und öffnete die Fahrertüre so rasant, dass sie fast aus der Verankerung sprang. Konnte er aussteigen? Ulysses wartete, bis der nächste Krampf vorüber war. Jetzt oder nie. Schnell, ohne seiner Frau ein Wort zu sagen, stieg er aus und hastete mit zusammengekniffenen Beinen den Toiletten entgegen, jeden Moment auf eine Katastrophe vorbereitet.

Beth, etwas hilflos und von der ganzen Situation völlig überrascht, stieg fast gleichzeitig aus und folgte ihrem Mann mit besorgter Miene in gebührendem Abstand. Auf diesem unspektakulären Rastplatz befanden sich die sanitären Anlagen in einem eingezäunten, künstlich angelegten Wäldchen, umgeben von einem mannshohen Bretterzaun. Keuchend und mit letzter Kraft erreichte Ulysses schweissnass die Örtlichkeiten und war sichtlich froh, dass im Moment nur wenig Leute einem ähnlichen Bedürfnis nachgehen mussten. Beth, die nun auch bis zum Zaun gekommen war, hörte die unsägliche, ungeheuerliche, gewaltige Entladung, eine Explosion, ein Gewittersturm, der sich nur langsam wieder legte. Nach einigen Minuten absoluter Ruhe hörte man, wie Ulysses drinnen mit der Bürste hantierte, vermutlich sah es schlimm aus. Nach seinem bestandenen Kreuzgang, als er endlich herauskam, sah man ihm eine gewisse Beunruhigung deutlich an, denn erneut hatte er in dem bestialisch säuerlich stinkenden Durchfall Blut entdeckt, das überall in der Schüssel herumgespritzt war und ihn doch zumindest im Moment nachdenklich werden liess. Ein wenig erschöpft, ausgepumpt und etwas wackelig auf den Beinen schien er, aber er lächelte bereits wieder. Langsam, Arm in Arm, Beth glaubte ihren Mann etwas stützen zu müssen, gingen sie gemächlich zurück zum Wagen. Ulysses führte das Erlebte zurück auf seinen überempfindlichen Magen, der schon seit Jahren unangenehm von sich reden machte, in letzter Zeit häufiger rebellierte, heute aber kein Pardon kannte und einen Krieg führte.

Man stieg wieder in den Wagen, der trotz offener Türen noch immer an seinem Platz stand, dreckig und verlassen wirkend, die abgefahrenen Reifen berührten den abgerundeten Randstein ganz leicht. Sie fuhren weiter hinauf in Richtung Nordwesten. Bei der nächsten Ausfahrt verliessen sie die Autobahn und benutzten die alte Landstrasse. Sie sahen, wie kampierende Zigeuner sich direkt am Strassenrand für einen längeren Aufenthalt

eingerichtet hatten, ohne fliessendes Wasser, ohne Stromanschluss. Sie sahen, wie schmutzige, in Lumpen gekleidete Kinder barfuss um die ramponierten, weit offen stehenden Wohnwagen herumtobten, sich wie Kreisel um die eigene Achse drehten, Sprünge im Dreck vollführten und immer wieder in die Hände klatschten. An den hochgeklappten, teilweise zerbrochenen Scheiben der Wagen hingen bunte Wäschestücke zum Trocknen. Schwarzer, beissender Qualm kroch aus den durch die offenen Fenster geschobenen Rohren, der durch die blitzenden Äste der mit Klebeband festgemachten Fernsehantennen über das Dach stieg. Überall lag stinkender Abfall zwischen den verdreckten, mit einem dünnen, spektralfarbenwiderspiegelnden Ölfilm überzogenen Pfützen und Kloaken herum. Einer der Gitanes hatte sich ein überdimensionales Lager an ausrangierten Autobatterien der verschiedensten Marken angelegt, ein anderer sammelte abgefahrene Autoreifen, und wieder ein anderer widmete sich angerosteten Altmetallresten und ausgeschlachteten, einigermassen wertvollen Kupferteilen, die sie kunstvoll vor ihren Wohnwagen auftürmten und horteten, als seien es ihre Familienschätze. Links und rechts der Strasse malten pinselähnliche Pappeln Wolkengebilde in den blauen Himmel; als stumme Zeugen säumten sie in exakter Formation die Strasse. Die Fahrt ging weiter, vorbei an kaum überschaubaren Maisfeldern, vorbei an riesigen, von grün veralgten Bewässerungskanälen umgebenen, pittoresken Sonnenblumenfeldern, deren fast erntereife, gelbumrandete, schwarze Köpfe gleichmässig, ja fast militärisch zur Sonne blickten. Die grünen Hügel der Downs, ihre runden Rücken und kahlen Buckel gaben dem Landstrich Kontrast und Halt.

Kaum waren sie einige Kilometer gefahren, die Strasse führte mitten durch einen langen Wald, und plötzlich, keine hundert Meter vor ihnen, schoss ein dunkler Wagen, der auf den ersten Blick wie ein Leichenwagen aussah, aus dem Wald auf die Strasse und brauste mit atemberaubendem Tempo davon. Im gleichen Moment erblickte Ulysses im Rückspiegel das blaue Blitzlicht der Polizei. Es waren zwei Polizisten auf Motorrädern, die immer näher kamen. Ulysses steuerte seinen Wagen etwas zur rechten Seite, um der Patrouille Platz zu machen. Als die beiden Polizisten zum Überholen ansetzten und auf gleicher Höhe wie die der Makgills waren, gab einer Ulysses ein Handzeichen, dass er umgehend anzuhalten habe. Beth, völlig überrascht, fragte ihren Mann, ob der Beamte wirklich sie meinte.

„Natürlich, so eine blöde Frage, wen denn sonst?“ schrie Ulysses mit hochrotem Kopf ungehalten zurück, „oder siehst du hier vielleicht noch jemand anderen?“

Nervös geworden, hielt Ulysses nach einigen Metern den Wagen auf einer Ausfallstelle und wartete, bereits wieder eine Zigarette inhalierend, bis die Polizisten ihr Motorrad abgestellt hatten. Diese streiften die fast bis zu den Ellbogen reichenden Handschuhe umständlich ab, legten sie auf den Tank des Motorrads, und einer kam gemächlich nach vorne. Der andere Polizist wartete vorschriftsmässig beim Motorrad und beobachtete das Ganze mit rigidem Blick, die eine Hand am Griff seiner Pistole, aus einer sicherer Distanz, da es schon vorgekommen war, dass plötzlich und ohne ersichtlichen Grund aus Fahrzeugen geschossen wurde. Der nach vorne gekommene Polizist, ein Grossgewachsener mit schlaksigen Beinen und einer furchtbaren Narbe im Gesicht, trat an das Seitenfenster des Wagens. Die dunkelrote Narbe, die aussah, als hätte ein Schuhflicker die Wunde zusammengenäht, verlief sichelförmig vom Augenlid über die Wange bis zum Kinn und zeichnete sich wie ein Relief auf der Haut ab. Vorsichtig legte der Polizist seine Hand auf die hastig nach unten gekurbelte Scheibe und grüsste freundlich: „Ma’am, Sir, guten Tag, Ihre Papiere bitte.“

Während Ulysses leise vor sich hin fluchend das Handschuhfach nach den Fahrzeugpapieren durchkämmte - welch eine Unordnung in dem Fach —, haftete Beths Blick an dem in Gold gefassten Stein am Finger des Polizisten, der aussah wie eine aus dem schützenden Perlmutt geschälte, grau-in-graue Auster. Der aufmerksame Blick des Polizisten schweifte durch den Wagen. Er blieb an den auf der hinteren Ladefläche liegenden, mit Packpapier umwickelten Schachteln haften, die Ulysses aus purer Bequemlichkeit am Freitagabend vergessen hatte auszuladen.

„Sir, was ist in den Schachteln?“ fragte der Beamte bestimmend neugierig, mit dem Finger nach hinten deutend.

„Welche Schachteln? Ahh, die ... Drucksachen, darin befinden sich ausschliesslich Drucksachen, oder was glauben Sie, was wir hier durch die Gegend transportieren, selbstgedruckte Blüten? Habt ihr denn nichts Besseres zu tun, als harmlose Bürger zu schikanieren?“ gab Ulysses mit glühendem Kopf motzig zurück.

„Bitte öffnen Sie doch eine dieser Schachteln, Sir“, befahl der Polizist mit Bestimmtheit und der scheinbar nicht aus der Ruhe zu bringen war, da er doch fast täglich auf diese Weise angepöbelt wurde.

„Wie bitte? Ich soll die mühsam verpackten Schachteln öffnen, das teure Papier so mir nichts dir nichts einfach wegreissen. Aber ich sagte Ihnen doch, dass es nur Drucksachen sind. Glauben Sie mir etwa nicht? Was wollen Sie eigentlich noch alles wissen? Vielleicht mein Sternzeichen oder das meiner Frau?“ mokierte sich Ulysses.

Als Ulysses nach endlosen Debatten endlich die Wagenpapiere gefunden hatte und bereit war, eine dieser ominösen Schachteln zu öffnen, kam der Beamte ganz nahe, um zu sehen, was sich darin wohl verbergen könnte. Was nützte es da, sich vorzustellen, welches Gesicht der Polizist gleich machen würde, wenn er völlig exaltiert den Deckel der Schachtel entfernte und zigtausendmal in knallroten Buchstaben zu lesen bekam, dass im Supermarkt von Mr. Sweeny in der Market Road die Flasche Chateaux Roux für zwei Pfund zu haben war. Wahrlich kein besonderer Trost in dieser Situation.

Noch einmal steckte der Polizist seinen Kopf in den Wagen, rümpfte betroffen die Nase und bemerkte mit überraschter Stimme: „Sir, haben wir etwas getrunken?“

„Also ich bestimmt nicht, aber ich frage mich schon die ganze Zeit, ob nicht Sie ...“, meinte Ulysses herausfordernd und setzte ein künstliches Lächeln auf.

„Hauchen Sie mich doch einmal an“, forderte der Beamte hartnäckig und kam beängstigend nahe heran. Ulysses tat, wie ihm geheissen. Der Polizist verzog sein Gesicht wie unter Schmerzen, gab die Papiere zurück und war nun restlos davon überzeugt, dass es sich hier um ganz harmlose Sonntagsausflügler handeln musste. Schnell gab er ein winkendes Zeichen zur Weiterfahrt. Die beiden Beamten bestiegen wieder ihre Motorräder und brausten davon. Ulysses meinte danach mit aufkommendem Verständnis, dass ganz bestimmt in der Nähe etwas Ungewöhnliches, ein Raub oder Ãœberfall, passiert sein müsse. Die wären eben gezwungen, solche Kontrollen durchzuführen. Man sollte schon ein gewisses Quäntchen Verständnis aufbringen, da diese ja auch nur ihre Arbeit, wenn auch eine Scheissarbeit, machten. Beth schaute auf der anderen Seite aus dem Fenster, drehte ihre Augen gegen den den Himmel, biss die Zähne zusammen und schüttelte ihren Kopf.

Kapitel 6

Kaum war der Wagen wieder angefahren, als Ulysses eine neuerliche, ebenso intensive Welle in seinem Darm verspürte, es war, als ob der Verdauungstrakt mit einem Wasserschlauch durchgespült würde. Jetzt hiess es rasch handeln. Schnell, ohne lange zu überlegen, schwenkte er auf den nächsten Waldweg und fuhr ein Stück hinein. Nach nur wenigen Biegungen durch eine schmale Rhododendrenallee, standen sie völlig unerwartet vor einem wunderschönen, ja fast märchenhaften Manor House, das etwas abseits der Strasse stand. Keine Mauer und kein Tor musste um- oder durchfahren werden, denn noch

bevor man sich besinnen konnte, stand man direkt vor dem pompösen Portal mit der pyramidenförmigen Treppe und den zwei gewundenen dorischen Säulen, die beim Betrachten eher störten. Ein gut gepflegter Garten umgab das Haus, voll in Blüte stehende, verschiedenfarbige Rosenstöcke verströmten einen betörenden Duft. In der Mitte, unter einigen schattenspendenden Birken und Büschen, war ein Biotop angelegt worden, auf dem sich ein paar ordinär schnatternde Stockenten tummelten, die die unzähligen, von Blüte zu Blüte schwirrenden, summenden Insekten und einige schillernde, über dem Wasser beinahe stillstehende Libellen zu beobachten schienen. Aus der Ferne hörte man das aufgeregte Geschrei eines Pfaus.

Links neben der Säule, an der frisch renovierten Fassade, stand eine zweiteilige, ganz ausgezogene Aluminiumleiter, auf der ein junger Kerl mit weissen Hosen stand, den dispersionsgetränkten Pinsel in der Hand, und der mit gerunzelter Stirn neugierig und zugleich misstrauisch nach unten zum Wagen äugte. Dabei tropfte ihm etwas Farbe über die Leitersprossen auf die Veranda, und als er es bemerkte, hob er ruckartig die Hand und verspritzte dabei gleich noch die danebenliegende Fensterscheibe. Fluchend warf der ungeschickte junge Mann den Pinsel in den Farbkessel, was ihm wiederum einige Spritzer einbrachte, und stieg langsam rückwärts von der Leiter. Sein ärmelloses Hemd präsentierte - vermutlich mit voller Absicht — seine mit allerlei blauschwarzen Symbolen tätowierten und verunzierten Oberarme, seine anabol gemästeten Bizepsmuskeln, die bei jeder Bewegung wie Ballone anschwollen und sich bei gestreckten Armen wieder legten.

Ulysses stieg aus dem Wagen und fragte den Malenden, ob er denn schnell die Toilette benutzen dürfe, und machte gleichzeitig wild gestikulierend auf die Dringlichkeit seines Anliegens aufmerksam.

„Da müssen Sie läuten, Sir, ich streiche hier nur die Fassade“, bemerkte der junge Mann und verstand das Bedürfnis Ulyssess, als er ihn betrachtete und dessen Pantomime sah, wie er mit zusammengekniffenen Beinen da stand und ab und zu vor lauter Bedrängnis die Backen aufblähte wie eine Kröte beim abendlichen Balzkonzert. Er erklomm mühsam die wenigen Stufen und suchte auf der Veranda nach der Türklingel, die er einfach nicht finden konnte. Hilflos, mit heraufgezogenen Schultern und nach aussen gestreckten Armen, schaute er hinüber zu dem jungen Anstreicher, der in der Zwischenzeit mit einem terpentingetränkten Lappen die heruntergetropfte Farbe vom Boden zu entfernen versuchte, und fragte ihn nach der Klingel.

„Oh, das habe ich vergessen, es gibt ja gar keine Klingel. Klopfen müssen Sie, Sir“, meinte der junge Mann. Als er die Türe betrachtete, eigentlich war es mehr ein Portal, weiss und nicht ganz so verschnörkelt wie der Eingang einer Kirche, aber genauso robust, sah er in der Mitte einen grossen Messingring an einer ebenfalls goldfarbenen Halterung, der wohl zum Anklopfen diente. Vorsichtig, um ja die Finger nicht einzuklemmen, umfasste er den Ring mit Daumen und Zeigefinger und schlug ihn einige Male heftig gegen die Metallplatte. Die Resonanz des Schlages musste man wohl bis zum Dachboden hören. Ulysses kam es in seiner krampfhaften Bedrängnis vor wie eine Ewigkeit, wie ein nicht enden wollender Alptraum, als er endlich hörte, dass drinnen am Schloss hantiert wurde, und die Türe sich öffnete.

Ein älterer Herr stand hinter der halboffenen Türe und streckte seinen graumelierten Kopf durch den Spalt.

„Sie wünschen, Sir“, fragte der alte Herr mit grünen, schlauen Augen und mit einer bis auf die Nasenspitze abgerutschten Lesebrille distanziert.

„Entschuldigen Sie bitte vielmals, Sir, ich bin untröstlich, und es ist mir ebenso peinlich wie unaufschiebbar, aber es ist wirklich ein Notfall. Dürfte ich vielleicht kurz Ihre Toilette benutzen?“ antwortete Ulysses händeringend.

Der alte Herr betrachtete Ulysses erstaunt von oben bis unten, dabei liess er seinen Blick zu dem Wagen gleiten, wo er Beth mit einem lächelnden Gesicht sah, und war überzeugt, dass dieser vor ihm stehende Mann wirklich in Not war.

„Natürlich, treten Sie ein, ich werde Ihnen den Weg zeigen“, sagte der freundliche Herr. Auf die Seite tretend, öffnete er die Türe ganz und liess Ulysses eintreten.

Eine riesige, mit antiken und sichtlich wertvollen Kästen und Tischchen dekorierte Halle empfing Ulysses. An den Wänden hingen in Öl gemalte Erinnerungen, dazwischen immer wieder indirekt strahlende Lampen. Von der Decke wuchs ein gigantischer Kronleuchter in die Mitte des Raumes. Baumelnde, leise klirrende Prismen funkelten im Licht in allen Farben und schienen im kaum wahrnehmbaren Luftzug zu schwanken.

„Bitte, folgen Sie mir, Sir. Ich werde Ihnen den Weg zeigen“, sagte der Herr und ging durch den Raum auf eine Türe zu. Ulysses folgte ihm mit gebührendem Abstand und trippelte vorsichtig über die dicken, flauschigen und farbenprächtigen Orientteppiche, die den ganzen Boden bedeckten. Es schien, als wolle er auf keinen Fall mit seinen Schuhen etwas beschmutzen.

Der alte Herr wies auf eine der unzähligen Türen in einem schmalen, schlecht beleuchteten Seitengang, und Ulysses nickte dankbar und verschwand schnell dahinter, um seinem kaum mehr zu bändigenden Darm Erleichterung zu verschaffen. Schmunzelnd ging der freundliche Herr zurück zum Eingang und stieg die Treppe hinunter zum Wagen, wo Beth, in der Zwischenzeit ausgestiegen, wartete.

„Guten Tag, Madam, darf ich mich vorstellen. MacBeaton mein Name, Professor MacBeaton. Ach bitte Madam, kommen Sie doch für einen Moment ins Haus“, stellte sich der alte Herr vor und überreichte Beth seine pompöse Karte, die sie ungelesen in ihre Tasche steckte.

Beth schien entzückt, und als ihr der alte Herr völlig überraschend sogar die Hand küsste, war sie ganz aus dem Häuschen und ihre ovalen Ohrstecker aus Malachit leuchteten. Angeregt plaudernd gingen die beiden ins Haus, und der alte Herr führte Beth durch die Halle und erklärte, dass er pensionierter Pathologe und Wissenschaftler sei und hier an seinem Alterssitz unvollendete Studien fortsetzte.

Ulysses erlebte einen Moment der Befreiung, sein Körper schien ihm leicht, gelöst und, für einen Augenblick nur, ohne Schmerzen. Beinahe übermütig zwängte er sich seitlich, den unter dem gespannten Hemd hervorquellenden Bauch geräuschvoll einziehend, aus der engen Toilette auf den labyrinthähnlichen, langgezogenen Gang. Links und rechts sah er viele geheimnisvolle Zimmer und versuchte bei einer dieser Türen in gebückter Haltung eine Momentaufnahme flagranter Dinge durch das Schlüsselloch zu erhaschen. Er empfand das Gesehene aber enttäuschend und wandte sich mit einem leichtern Schaudern ab, ging zurück in die Eingangshalle, wo ihn seine Frau bereits ungeduldig mit den Händen fuchtelnd erwartete. Der alte Herr war hocherfreut über den unerwarteten Besuch, was er auch immer wieder unterstrich, und lud die beiden Gäste zu einer Flasche Wein ein. Mit der rechten Hand zum Salon weisend, ging der nette Herr voraus, und die Makgills folgten ihm. Der Salon war beeindruckend, so etwas hatten die beiden noch nie gesehen, geschweige denn je betreten. Wieder ein fast ebenso grosser Lüster an der Decke, an den Wänden Büchergestelle, die bis zur Decke reichten, jedes Fach angefüllt mit dicken und dünnen Büchern, kleinen und grossen. Stellenweise waren auch komplette Enzyklopädien, darunter die gesammte Encyclopaedia Britannica, die in einheitlicher Form unterschiedliche

Beschriftungen aufwiesen, Sammlungen ganzer Bildbände. Wertvolle Faksimileschriften standen Rücken an Rücken hinter Glas. Dazwischen präsentierten sich immer wieder barocke, bunt bemalte Porzellanfiguren. Überall standen mit feinen Staubpartikeln behaftete Glasvitrinen, in denen Exponate ausgestellt waren, die von weitem nicht zu erkennen waren. Darauf posierten grobstrukturierte, männliche Torsos aus Bronze, deren goldunterlegte, tiefe Augenhöhlen etwas unmenschlich Dämonisches ausstrahlten. Ganz am Ende des Salons führte eine mit rotem Velour belegte Treppe mit einem wunderschön gedrechselten Geländer hoch zu einer Art Galerie, auf der sich weitere Türen befanden.

Gleich neben dem Kamin stand ein kleines Mahagonitischchen, in dessen Platte viele bunte Mosaiksteinchen eingelegt waren. Darauf lag ein fast ebenso grosses Schachbrett mit reich verzierten Elfenbeinfiguren, jede einzelne eine dynamische, bewegungslose Kraft, die sich in ihrer Ausgangsposition misstrauisch anstarrten und sich auf die nächste Schlacht vorzubereiten schienen. Nur ein weisser, vermutlich kampferprobter Bauer war wagemutig vorgeprescht und verharrte auf E5, die Deckung seines Königs ausser acht lassend.

Beim Vorbeigehen blieb Ulysses kurz neben dem Tischchen stehen und blickte interessiert auf das Brett, gleichzeitig sinnierte er über einen möglichen Gegenzug: mit dem schwarzen Bauern kontern oder gar den linken Springer ins Feld schicken? Nun, Ulysses wollte gerade seinen Arm ausstrecken und war nahe daran, sich den weissen Springer zu angeln, um diesen wie vorgesehen vor den Bauern zu postieren, als ihn die Stimme des Hausherrn in die Realität zurückriss.

„Madam, Sir, bitte nehmen Sie doch Platz“, bat der nette Herr und wies auf die mit Brokatstoff bezogenen Stühle, die an einem grossen, rechteckigen Tisch standen. Er stellte sich hinter einen Stuhl, den er mit beiden Händen zurückzog, und bat Beth, Platz zu nehmen.

„Vielen Dank, Mr. MacBeaton... Oh Verzeihung, Professor MacBeaton, Sie sind sehr freundlich. Es ist ja wohl kaum selbstverständlich, dass Sie fremde Leute in Ihr Haus bitten“, bedankte sich Beth, indem sie den Professor mit all ihrem Charme anlächelte.

„Aber ich bitte Sie, Madam ... bitte entschuldigen Sie mich für einen Augenblick“, erwiderte der alte Herr beinahe beschämt und entfernte sich für einen Moment, um in einem Nebenraum den Wein und die Gläser zu holen.

Geschickt entfernte er mit einem roten, aufgeklappten Taschenmesser die bleierne Kappe der Weinflasche, entkorkte sie, roch mit geschlossenen Augen am Korken und schenkte sich etwas in sein funkelndes, facettiert geschliffenes Kristallglas. Fachmännisch hielt er das Glas gegen das Licht, um die wirklich beindruckende Farbe zu überprüfen, dann nahm er einen winzigen Schluck, den er einige Sekunden geräuschvoll über die Zunge und durch die Zähne spülte, bevor er den kostbaren Tropfen hinunterschluckte. Geniesserisch schnalzte der Professor mit der Zunge und goss nun alle Gläser voll.

„Danke, danke Professor, aber ich muss ja noch fahren, und ausserdem könnte es mir mein vermaledeiter Magen — obwohl ich sehr gerne einen guten Tropfen trinke — heute äusserst übelnehmen und unter Umständen rebellieren“, winkte Ulysses ab, als der Professor sein Glas füllen wollte.

„Ach was, dieser Tropfen, den sie übrigens unbedingt kosten müssen, ist im Gegenteil gut für einen gereizten Magen, er besänftigt rebellische Nerven, glauben Sie mir das, Sir“, beruhigte der Professor und hielt sein Glas hoch, um seinen Gästen zuzuprosten.

„Nun, wenn Sie meinen, Professor. Zum Wohl“, gab sich Ulysses gerne geschlagen, denn er wollte keinesfalls unhöflich erscheinen, und erhob sein Glas.

Beth, das Glas bereits leergetrunken, konnte ihre Neugier kaum mehr zügeln und fragte den Professor, ob er denn hier in diesem wunderschönen Landhaus alleine lebte.

Der Professor schenkte nach und begann mit gelöster Zunge ganz von sich aus, etwas von seiner Lebensgeschichte zu erzählen, wie er und seine über alles geliebte Frau, die im letzten Jahr völlig überraschend und unerwartet gestorben war, vor etwa fünfundzwanzig Jahren dieses Manor House von deren Eltern geerbt hatten. Ihr Vater genoss als Abgeordneter der Konservativen im House of Commons hohes Ansehen. Leider war das Haus damals in einem erbärmlichen Zustand, und es wurde einiges investiert, um es den Bedürfnissen und dem gewohnten Stil anzupassen. Auf einen Butler musste der Professor verzichten, da bereits der Unterhalt des Hauses Unsummen verschlang.

Er erzählte von seinem vor fünf Jahren aufgegebenen Lehrstuhl für Pathologie an der Universität von Bristol und dass er sich damals in der Freizeit, heute als eine Art Passion, mit der Erhaltung des menschlichen Körpers beschäftigte, wie er ausführte und was auch immer er damit meinte. Die Makgills verstanden kaum etwas von den schwärmerischen, mondänen, mit bester Rhetorik dargelegten Ausführungen des Professors, der immer wieder einen Schluck aus dem Glas nahm und vermutlich das Gefühl hatte, als stünde er vor einer Schar wissbegieriger Studenten im Auditorium einer Uni.

Plötzlich stand der Professor auf und ging zum Piano, das mit seinem Aussehen eine Position zwischen Luxusmöbel, aufwendigem Blumenständer oder einer schönen wenn auch störrischen Skulptur hielt. Mit einer gewissen Ehrfurcht fuhr er mit dem Zeigefinger kühn über das schwarze Holz um zu testen, dass sich kein Stäubchen darauf niedergelassen hatte, denn Staub war tödlich, tötete jeden Klang. Da lag nun, auf siebeneinhalb Oktaven verteilt, die gesamte abendländische Musik vorrätig, spielfertig, jederzeit durch Tastendruck abrufbereit. Der Professor setzte sich zum Erstaunen seiner unfreiwilligen Gäste auf den schmalen Hocker, fuhr mit dem Fingernagel über die Tasten um anhand des Glissandos die Reinheit des Klanges zu prüfen.

„Was soll es denn sein?“ fragte der Professor, indem er sich nach hinten drehte.

„Suchen Sie sich etwas aus“, war die spontane Antwort und so und spielte er, zum Entzücken aller noch anwesenden Gäste, ohne Partitur Bachs Kleine Fuge in g-Moll. Bei der dritten Wiederholung des Drei-Ton-Motivs in der Tonika spielte er mit etwas mehr Schwung, ja sogar mit einem sanften Accelerando. Als der Schlussakkord verklungen war, schloss er den Deckel der Klaviatur und gab sich, leicht geschmeichelt, dem Applaus der beiden Gäste hin.

Mit leicht schwerer werdender Zunge merkte der Professor endlich, obwohl ihm die Makgills aufmerksam und sichtlich interessiert zuhörten, dass immer nur er redete und entschuldigte sich dafür. „Ach wissen Sie, es ist schon so lange her, dass mich hier jemand besuchte, und daher freut es mich natürlich besonders, Sie zu einem Glas Wein einzuladen.“

Ulysses erzählte auf die Frage des Professors nach seinem Beruf von seiner eigenen Druckerei, die, wie er gerne übertrieb, floriere und einiges abwerfe. Auch er geriet nach nur wenigen Sätzen ins Schwärmen, übertrieb ab und zu etwas, und als er merkte, wie ihm der Professor seine volle Aufmerksamkeit schenkte, holte er noch etwas weiter aus und warf immer wieder mit Fachausdrücken um sich.

„Entschuldigen Sie, Mr. Makgill, wenn ich Sie unterbreche. Ich hätte da vielleicht einen Auftrag für Sie“, unterbrach der Professor den Redeschwall von Ulysses.

„Einen Auftrag? Sehr gerne, Professor, ich habe immer wieder einige Kapazitäten frei. Ausserdem kann ich mir die Arbeit selber einteilen. Worum würde es sich handeln?“ entgegnete Ulysses geschäftstüchtig, die Hände eifrig reibend.

„Nun, ich bräuchte vorgedruckte Karten für die Beschriftung meiner Objekte. Die Karten, ich denke da an einen satinierten Halbkarton, sollten verschiedenfarbig markiert sein, zum Beispiel mit einer Umrahmung, gewisse, immer wiederkehrende Kriterien sollten aufgedruckt sein, so dass man nur noch die individuellen Daten von Hand einzutragen braucht“, erörterte der Professor, und man erkannte, dass er genaue Vorstellungen hatte.

„Ãœberhaupt kein Problem, vielleicht machen Sie mir eine Skizze auf einem Stück Papier, welches ich dann sozusagen als Vorlage mitnehmen kann“, sagte Ulysses und zog aus seiner Jackentasche ein zerknülltes Stück Papier, welches er auf der Tischplatte mit beiden Händen einigermassen glatt zu streichen versuchte.

Etwas bedauernd meinte Ulysses: „Leider habe ich mein Musterfarbbuch nicht dabei, denn wer hätte schon am heutigen Sonntag daran gedacht, dass ich es brauchen würde, ausserdem ist das Buch für mich eine besondere Kostbarkeit, mit der ich nicht täglich spazierenfahre, was Sie sicherlich verstehen. Aber soviel kann ich Ihnen sagen, dass ich Ihnen jede gewünschte Farbe auf die Karten drucken kann.“

Der Professor gab sich im Moment zufrieden, zog einen Notizblock mit kariertem Papier aus der Schublade und begann darauf zu skizzieren und herumzukritzeln. Das Stück Papier, das ihm Ulysses hingelegt hatte, sah aus, als hätte ein wiederkauendes Vieh einen ganzen Tag darauf herumgemahlt. Der Professor ignorierte es gelassen. Nachdem er mit dem Entwurf fertig zu sein schien - man merkte es daran, dass er das Blatt hochhob und den Kopf beim Betrachten leicht zur Seite neigte -, schob er den Zettel mit einer halben Drehung hinüber zu Ulysses, der gespannt darauf wartete.

„Das ist überhaupt kein Problem, über die Farben, die Schriftart und Grösse und ... verzeihen Sie ... den Preis können wir noch sprechen“, gab sich Ulysses nach kurzem Mustern erfreut, „aber bitte, Herr Professor, darf ich fragen, wofür Sie die Karten benötigen?“

„Natürlich dürfen Sie, aber am besten zeige ich es Ihnen und Madam. Wenn es Sie interessiert und Sie mir in den Keller folgen würden“, sagte der Professor mit fast grosszügiger Geste.

Beth hatte etwas Mühe aufzustehen, da ihr der schwere Rotwein wie Blei in die Beine gefahren war, aber als der Professor ihr half und den Stuhl zurückzog, ging es etwas besser, obwohl sie sichtlich Gleichgewichtsprobleme hatte. Gespannt folgten die Makgills dem Professor, der mit stolzem, aufrechten Gang durch einen schmalen Korridor schritt.

Kapitel 7

Ulysses stand auf der obersten Stufe einer steil nach unten führenden Treppe und blickte hinab. Es war unmöglich, eine Türe oder sonst etwas zu erkennen. Die pechschwarze Finsternis unten erschien unnatürlich tief. Eine Dunkelheit, die nicht nur das Fehlen des Lichtes war, sondern Substanz, Beschaffenheit und Masse zu haben schien. Die unheimlich anmutende Schwärze absorbierte jeden nach unten dringenden Lichtschein wie ein Schwamm. Erst als der Professor einen Schalter betätigte, konnte man hinabsehen. Die lange, mit marmorierten Fliesen belegte Treppe war so sauber, dass sich der Lichtschein

darin spiegelte. Die breite, robuste Metalltüre, die an die Sicherheitstüre einer Bank erinnerte, war fest verschlossen.

Als der Professor die Türe mit seinem Schlüssel, der an einer mit der Hose verbundenen Kette hing, öffnete und mit einem leichten Schubs aufstiess, schlugen einem unangenehme und unbekannte Gerüche ins Gesicht, so stark, dass man die Nase rümpfen musste. Noch etwas war da, etwas Unsichtbares, ein Gefühl, ein beklemmendes, unheimliches Gefühl. Es war, als ob das Tor zu einer irren Hölle aufgestossen wurde, wo dreiköpfige, feuerspeiende Dämonen in der Gestalt eines Drachens am Eingang zu lauern schienen, wo der Tod selber einen zu berühren versuchte. Er strich um einen herum, hinterliess nur einen leisen, vagen Lufthauch. Wie ein öliger Film überzog er die Makgills, man konnte sich nicht davon befreien, ihn abschütteln oder abstreifen. Nur der Lichtschein der unzähligen, unruhig flackernden Kerzen, die überall waren und deren Schatten an den Wänden herumtänzelten und die ganze mystische Szenerie noch verstärkten, brachte etwas Licht in dieses aphotische Gemäuer, in dem man nichts Detailliertes erkennen konnte.

Die Erlösung dieses schrecklichen und zugleich kribbelnden Gefühls kam, als der Professor wiederum einen an der Seite befindlichen Lichtschalter betätigte; das serienhafte Klicken der Neonlichtstarter und das Aufflammen des künstlichen Lichtes liessen das unangenehme Gefühl allmählich abklingen.

Sie standen mit weit aufgerissenen Augen und sprachlosen Mündern in einer riesigen, sakral anmutenden Halle, deren Decke von unzähligen, runden, mit Runen markierten Stützpfeilern gehalten wurde. An jedem Pfeiler hingen fast bis zum Rand mit Weihrauchharzen gefüllte Aspersorien, aus denen beissender, aromatischer Rauch entströmte, der an eine magische Kultstätte erinnern liess. Freundlich bat der Professor die verdutzten und staunenden Makgills, ihm zu folgen. Das gleissende Neonlicht frass sich durch die Rauchschwaden, spiegelte sich überall in der weissen Farbe und liess die Halle unnatürlich hell erscheinen.

Dann sahen sie das Unfassbare. Zwischen den Pfeilern standen Glassärge, Sarkophage auf rollbaren Holzuntersätzen. Es waren mindestens zwölf, die in einer geometrisch akribischen Genauigkeit aufgestellt waren, als folgten sie einer Gesetzmässigkeit. Hinten an der Wand stand ein leicht brummendes Kühlaggregat, von dessen Unterseite unzählige Schläuche und Kabel zu jedem der Glassärge führten. Daneben ein fest montierter Seziertisch, auf dem eine mit einem blutdurchtränkten Tuch bedeckte Leiche lag. In den tiefen Rillen hatten sich herauslaufende trübe Körperflüssigkeiten gesammelt, die langsam und zäh durch den Abfluss in ein darunterstehendes Gefäss tropften. Seitlich davon ein Waschbecken mit einem steril scheinenden, chirurgischen Besteck auf der Ablage. Darüber waren unzählige Regale angebracht, vollgestopft mit unüberschaubar vielen, grossen und kleinen, grünen und braunen Essenzflaschen, fertigen Tinkturen, die fremdartige lateinische Bezeichnungen trugen. Ganz unten standen riesige Flaschen voll von mit Sublimat vermischter Formalinlösung, die den Leichen in einer langwierigen Prozedur unter leichtem Druck in das Gefässsystem gepumpt wurde, um eine natürlich wirkende Rosafärbung der Haut zu bewirken. Das Ganze erinnerte an eine mittelalterliche Alchemistenküche.

Die Makgills waren jetzt vollkommen sprachlos, und Beth musste sich an einem Pfeiler abstützen, sie atmete einige Male tief durch.

„Sicher sind Sie erstaunt über das, was Sie hier sehen, aber ich kann es Ihnen gerne erklären. An Ihrem Gesichtsausdruck gemessen, interessiert es Sie sicherlich“, brach der Professor endlich das bis zur Unerträglichkeit angewachsene Schweigen. „Ach wissen Sie, für mich hatte der Tod schon immer weit mehr Phantasie als das Leben ... Kommen Sie, sehen Sie hier!“ Er ging, den Blick nach unten gerichtet, auf einen der Glassärge zu. Es schien, dass dieser eine Glassarg, der ganz vorne in der Mitte stand, die erst jetzt sichtbare Formation anführte.

„Das hier ist meine Gattin. Damals, als sie starb, - es war eine sehr schwere Zeit für mich - habe ich mir überlegt, wie ich ihren Körper für immer erhalten könnte, so wie mich ihre Seele ständig umgibt und ich mich ihr nahe fühle. Da ich mich schon lange mit der Wissenschaft des Einbalsamierens befasse, war es für mich die Lösung.“

Die Makgills kamen - durch die magnetisch anziehende Aura - fast ohne ihr eigenes Zutun immer näher zu dem Sarg, waren fasziniert von der Anmut, der magischen Ausstrahlung und der Schönheit der Dame unter dem Glas. Sicher war sie eine gütige, charakterfeste Perönlichkeit gewesen, dachte Beth mit feucht gewordenen Augen überwältigt. Die Dame trug ein spitzenbesetztes, seidenes Kleid, das hinabreichte bis zu den Knöcheln, ihre langen zarten Finger waren über der Brust gefaltet. Die Gesichtsfarbe schien gesund, ihre Züge verrieten ein leichtes Lächeln, es sah aus, als würde sie nur schlafen.

„Und wer sind die anderen?“ fragte Ulysses mit belegter, fast heiserer Stimme und deutete mit der Hand auf die anderen Särge.

„Nun, die meisten kenne ich nicht. Ich habe mir die Körper Verstorbener oder von tödlich Verunfallten beschafft, da ich sie für die von mir entwickelte Einbalsamiertechnik benötigte. Ich habe mit vielen Universitäten im Ausland zusammengearbeitet und mir so im Laufe der Jahre profunde Kenntnisse angeeignet, die ich teilweise auch publiziert habe“, erklärte der Professor nicht ohne einen gewissen Stolz im Unterton und erwähnte Namen von Wissenschaftlern, die in den Ohren der Makgills gleich fremd klangen wie die Namen der Bahnstationen zwischen Gloucester und Coventry.

„Beschafft? Wie beschafft?“ wiederholte Beth erstaunt.

„Aus der Universitätsklinik. Menschen, die weder Bekannte noch Verwandte haben, Menschen, deren unausweichliches Schicksal es war, einem Unfall oder Verbrechen zum Opfer zu fallen. Bedauernswerte Menschen, die nie identifiziert werden konnten und um die niemand trauert“, antwortete der Professor mit leichter Ironie, als wäre für Ihn die Beschaffung der Leichen eine Selbstverständlichkeit.

An der Seite der Glassärge hing ein mit durchsichtigem Klebeband angebrachter, handgeschriebener Zettel, auf dem Datum, Geschlecht, Gewicht und Körpergrösse notiert waren. Ausserdem enthielt er die komplizierten Aufzeichnungen über die Zusammensetzung und Menge des verwendeten Einbalsamiermittels. Eben diese Zettel wollte der Professor neu drucken lassen. Sie gingen zu einem anderen Sarg, wo er einen dieser Zettel wegriss und ihn Ulysses fast etwas zu nahe unter die Nase hielt. Erschrocken nahm dieser das Blatt und überflog zustimmend nickend den Text. Noch immer unter dem Eindruck des Erlebten, konnte sich Ulysses aber kaum konzentrieren.

„Und wie sind die Leichen hierhergekommen?“ fragte Ulysses.

„Durch Medizinstudenten, ganz einfach. Für eine gewisse Summe kann man - wenn auch nicht immer ganz legal - alles kaufen, selbst Leichen“, entgegnete der Professor profan. „Wenn in der Uniklinik wieder eine Leiche eingeliefert wird, die bisher nicht identifiziert werden konnte, dann rufen mich die Studenten an und fragen, ob ich interessiert sei. Sie bringen mir die Körper sogar hier in mein Haus. Gerade heute, kurz bevor Sie kamen, wurde mir die Leiche einer jungen Frau gebracht, die in der letzten Nacht unfreiwillig zu Tode gekommen ist und von der es keinerlei Anhaltspunke über ihre Herkunft gibt. Sie liegt übrigens dort drüben auf dem Seziertisch.“

Sie blickten kurz in die vom Professor gezeigte Richtung, sahen, dass an der Wand weitere Vitrinen standen, in denen abgetriebene, missgebildete Föten in grossen, mit einer Flüssigkeit gefüllten Behältnissen ausgestellt waren; Föten, die an Brust und Bauch oder an

Kopf oder Extremitäten zusammengewachsen waren. Das Ganze erschien den Makgills absurd, unwirklich und irrational. Sie wunderten sich, warum der Professor so offen mit ihnen - ganz fremden Leuten - darüber sprach, und warum er ausgerechnet ihnen dieses gläserne Kabinett, vermutlich sein Innerstes, sein Geheimstes, gezeigt hatte. War das abstruse Verhalten des Professors normal? Spielten hier nur wissenschaftliche Aspekte, oder waren vielleicht noch andere, religiöse Gründe massgebend? War es seine Obsession? Die ekstatische Hingabe, mit der der Professor über seine vor ihm liegende Frau redete, dass er Trauer und Liebe in einem Zuge nannte, dass der leichte Verwesungsgeruch, der glockenartig im Raum hing, ihn nicht zu stören schien, warf viele nicht zu beantwortende Fragen auf, denn es war nicht anzunehmen, dass der Professor nur ein nekrophiler Kosmetiker war.

Sie wussten es nicht genau und wollten es auch nicht wissen. Nur heraus jetzt aus diesem Keller, das war nun doch etwas zuviel. Überhaupt war an diesem Tag alles nicht so gelaufen, wie es geplant war. Der Professor betrachtete Beth und sah, dass diese mit bleicher Bittermiene an einem Pfeiler lehnte und schweratmend nach Luft rang. Sie hatte Mühe, die Situation und das Gesehene zu verarbeiten, sie konnte die Eindrücke ihrem Gedächtnis einfach nicht zuordnen. Der Professor ging auf Beth zu, reichte ihr seinen Arm und führte den Besuch hinauf. Oben erholte sich Beth rasch, ihr Gesicht bekam wieder Farbe, und die biedere Umgebung gab ihr so etwas wie Geborgenheit. Überstürzt verabschiedeten sich die Makgills vom Professor, versprachen, sich bald wieder zu melden, dankten ihm für die Gastfreundschaft und fuhren weiter bis kurz vor Bristol.

Auf der ganzen Fahrt wechselten die beiden kein Wort, sassen nur stumm da und liessen die Landschaft, ohne diese in ihrer ganzen Farbenpracht wahrzunehmen, an sich vorübergleiten. Jeder war intensiv damit beschäftigt, das Erlebte zu verarbeiten. Hatte ihnen das Bewusstsein einen Streich gespielt, ein Missbrauch von Logik und Erfahrung?

Die kurze Fahrt verging wie im Fluge. Ulysses fuhr seinen Wagen durch das säulengestützte Portal der mittelalterlichen, rissigen und mit wucherndem Efeu verwachsenen Befestigungsmauer der privaten psychiatrischen Klinik. Brüsk hielt er vor einem abstossend wirkenden, gelblichverputzten Gebäude mit vielen Milchglasfenstern und einigen Balkonen, auf denen von Pflegern flankierte, kranke Leute mit unbeweglichen Gesichtern in Rollstühlen sassen, die den lieben langen Tag den aufwendig angelegten Park mit dem Springbrunnen und die alles durchschneidende Zufahrtsstrasse beobachteten. Viel Betrieb war an diesem Sonntag, von Besuchern begleitete Patienten in Morgenröcken sassen schwatzend auf den bereitgestellten Bänken und erzählten mit ausdrucksstarker Gestik von ihrem nicht immer erfreulichen Alltag. Ulysses und Beth sahen kurz hinauf zu den Balkonen, da es schon vorgekommen war, dass Margreth Makgill voller Erwartung winkend auf sie wartete. Enttäuscht betraten sie die Eingangshalle, in der es penetrant - so wie in jeder Klinik- nach Desinfektions- und Reinigungsmitteln roch, dass es einem schier den Atem nahm. Gleich neben dem Eingang sass eine alte, lächelnde Frau auf einem einfachen, lehnenlosen Hocker und harrte auf Besucher, die in der Eile vergessen hatten, Blumen zu besorgen. Im Halbkreis um ihre Beine hatte sie einige Kübel mit bunten, liebevoll zusammengestellten Blumensträussen aufgebaut. Ulysses kaufte einen Bund rosaroter Nelken, deren beinahe künstlich wirkende Blüten noch fast geschlossen waren. Sie zwängten sich in die enge Kabine des Liftes und fuhren hinauf in den vierten Stock, dessen langgezogener Gang unzählige Türen aufwies. Leise, beinahe schleichend schritten sie einem nicht enden wollenden Seitenflügel entlang. Ab und zu hörte man hinter einer Tür das monotone Schreien eines bedauernswerten Patienten, dann war plötzlich Stille, der letzte verzweifelte Aufschrei wurde mittendrin erstickt. Eilig, mit einer eigens für solch peinliche Notfälle bereitgelegten Spritze bewaffnet, hatte das ins Zimmer stürmende Personal den klagenden Patienten ruhiggestellt, um die sonntäglichen Besucher nicht zu stören oder gar zu beunruhigen. Mit einem unguten Gefühl und einem zögernden, leichten Anklopfen betraten die beiden das Zimmer.

Kapitel 8

Am nächsten Tag erschien auf der Frontseite einer überregionalen Tageszeitung ein Bild von Loretta - ein unpersönliches, schwarzweisses Polizeifoto -, das die ganze Tragik des Verbrechens widerspiegelte, dazu der Aufruf, ob jemand die Ermordete kenne oder Angaben zu dem Verbrechen machen könne. Dass die Leiche verschwunden, entwendet worden war, davon war keine Silbe zu lesen, denn die Behörden wollten sich nicht der Kritik der Bevölkerung aussetzen, ausserdem kannten sie die Hintergründe des Verschwindens noch nicht, nur Zusammenhänge wurden vermutetet, die aber noch nicht faktisch belegt werden konnten.

Ulysses Makgill stand schon früh am Morgen in seiner Druckerei und wollte sich mit dem Auftrag von Professor MacBeaton auseinandersetzen. Der Professor bestellte Karten, gedruckt in vier verschiedenen grundfarbenen Rahmen und der Beschriftung. Als erstes suchte Ulysses nach einem geeigneten Halbkarton, den er für den Druckvorgang benutzen wollte. Mit einem Schlüssel öffnete er sein Papiervorratslager, das sich in einem Nebenraum befand und an dessen Wänden Metallgestelle angebracht worden waren, wo Ulysses verschiedenste Papiersorten, Couverts und Etiketten lagerte. Eine an die Regale angelehnte Leiter rückte er in die richtige Position, stieg hinauf und holte eine Beige weissen Halbkarton herunter. Mit einem Zollstab mass er die Grösse und rechnete aus, wie viele Karten er aus einem Bogen herausschneiden konnte. Danach nahm er eine Ecke des Papierstapels zwischen Zeigefinger und Daumen und fächelte durch leichtes Auf- und Abschütteln etwas Luft zwischen das Papier, um besser abzählen zu können. Den Rest des Stapels legte er zurück und trug die abgezählten Papierbogen zu der alten monströsen Papierschneidemaschine, die aussah wie eine mittelalterliche Guillotine mit rasiermesserscharfer blitzender Klinge, um den Papierstapel mit einiger Kraftanwendung in das gewünschte Format zu bringen.

Diesmal hatte er es recht einfach mit dem Heraussuchen der gewünschten Farben, da es sich ausschliesslich um Grundfarben wie Rot, Blau, Gelb und Schwarz handelte. Er brauchte nur noch die entsprechenden Farbdosen bereitzustellen. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, aus den unzähligen, wild durcheinander stehenden Büchsen die richtigen herauszusuchen. Ausgelaufene und eingetrocknete Farbe breitete sich wellenförmig auf den Etiketten aus, verkrustete und machte das Etikett unleserlich.

Danach stand alles bereit, und er machte sich daran, den Bleisatz anzufertigen. Auf dem Tisch stand ein Aluminiumschiff, das er in die linke Hand nahm, um die einzelnen Bleibuchstaben darin anzuordnen. Wegen der Schriftart hatte ihm der Professor freie Hand gelassen, und so entschied sich Ulysses für eine einfache, schnörkellose, gut lesbare Schrift, deren einzelne Typen unter Bezeichnung der jeweiligen Schriftgrösse in schmalen, übereinanderliegenden Schubladen untergebracht waren. Den Bleisatz bezog er bei Bedarf von einer Grossdruckerei, die sämtliche Schriften in allen gebräuchlichen Grössen anfertigte, da die Investition für eine eigene Bleigiesserei viel zu hoch war und sich für diesen kleinen Betrieb nicht lohnte. In letzter Zeit hatte er Mühe beim Bestellen von Bleitypen, da grosse Betriebe längst vom Bleisatz auf den moderneren, viel schnelleren und sauberen Fotosatz umgestellt hatten.

Die Bleitypen konnten bei sachgemässem Gebrauch viele Male wiederverwendet werden, bis der Druck die Oberfläche etwas eingedrückt und abgerundet hatte und das gesamte Schriftbild nicht mehr gleichmässig war.

Als er die Seite fertig zusammengestellt hatte, nahm er den Satz mit beiden Händen aus dem Schiff und legte ihn auf eine dicke, plane Eisenplatte und plazierte einen quadratischen

Halterahmen darum, den er mit Eisenstegen ausfüllte und mit Schraubzwingen, in denen ein Vierkantschlüssel steckte, leicht festmachte. Mit einem Holzklotz, den er auf den Bleisatz legte und mit leichtem Hammerschlag anklopfte, wollte er sich vergewissern, dass auch alle Bleitypen auf der gleichen Höhe waren und nicht einzelne Buchstaben beim Drucken durch das Papier stachen. Der Bleisatz hing nun festgeschraubt und fixiert in der Mitte des Rahmens, wie eine Kreuzspinne im Zentrum ihres Netzes auf ein Opfer lauernd. Nach dem Einspannen des Rahmens und dem Aufbringen der Farbe machte Ulysses einen ersten Probeabzug. Fachmännisch nahm er den Karton mit drei Fingern, drehte ihn um und hielt ihn gegen das Licht, um zu prüfen, ob die Druckstärke richtig sei. Beim Hochhalten fiel sein Blick zufällig auf die am Handgelenk blitzende Uhr, und er stellte überrascht fest, dass es bereits Mittagszeit war. Kurz überlegend kam er zu dem Schluss, dass er die erste Auflage noch schnell durchlaufen lassen wollte, damit die Farbe über Mittag trocknen konnte. Danach stellte er mit einem Knopfdruck den Motor der Druckmaschine ab, löschte das Licht und wollte nach oben.

Ein tranceähnlicher, unbeschreiblicher Zustand erfasste ihn, als Ulysses beim Briefkasten, der neben der Haustüre angebracht war, vorbeiging und trotz der gefalteten, im Schlitz steckenden Zeitung das postkartengrosse Bild seiner Tochter erkannte. Sein Herz begann zu jagen, sein Hals schnürte sich zu, und Tausende von unzusammenhängenden Gedanken schossen ihm wie Blitze durch den Kopf. Wieso war Lorettas Bild – ein furchtbares Bild – in der Zeitung? Als er, ängstlich an den Kasten herantretend, die Zeitung herausnahm und sie auseinanderfaltete, konnte er die über dem Foto plazierte Schlagzeile lesen. „Wer kennt diese Frau?“ stand in grossen Lettern, darunter die Telefonnummer der Polizei von Bristol. Immer wieder fiel sein Blick wie unter Zwang auf das Foto, und er sah den Schmerz, die Verletzungen in Lorettas Gesicht. Mein Gott, was war nur mit Loretta geschehen, hatte sie einen Unfall? War sie schwer verletzt? dachte Ulysses, dessen hochroter Kopf glühte und zu zerspringen drohte. Die Buchstaben begannen vor seinen Augen zu tanzen. In seiner Brust löste sich etwas und stieg wie eine Woge durch seinen Hals, die Kehle würgend nach oben. Wie sollte er das Beth erklären, ihr einfach das Foto vor das Gesicht halten und ihre Reaktion, die vorauszusehen war, abwarten – oder sollte er es ihr schonend beibringen und das Foto vorderhand unterschlagen? Um sich Gewissheit zu verschaffen und diese unerträgliche, seelenzermarternde Situation zu beenden, sollte man vielleicht dort anrufen, dachte er.

Langsam, hilflos und schweren Herzens stieg Ulysses die steile Treppe zur Wohnung empor, sie erschien ihm endlos und kaum zu schaffen. Keuchend vor der Türe stehend, blickte er zwanghaft noch einmal auf das Foto, legte die Zeitung wieder zusammen und steckte sie in die Schürzentasche, atmete einige Male tief die dämmrige Kühle des Treppenhauses ein und öffnete die Türe. Insgeheim hoffte er, seiner Frau nicht gleich hier zu begegnen, es herauszuzögern, auf ein Erwachen aus einem bösen Traum zu hoffen, aber je länger er wartete, desto schwerer fiel ihm alles. Beth stand bereits mit einem herzlichen, unwissenden Lächeln im Gang und erwartete ihren Mann bereits. Es roch stark nach frischem Kaffee, den Ulysses nur entfernt und unbewusst wahrnahm.

„Ulysses, was hast du? Warum bist du so aufgeregt und machst ein solches Gesicht?“ fragte Beth besorgt. „Ist es wieder der Magen?“

„Beth ... bitte ... komm ins Wohnzimmer ... setz dich ... bitte“, antwortete Ulysses stotternd mit ernster Miene und in der Hoffnung, das Ganze schnell hinter sich zu bringen.

„Was ist denn? Ist etwas passiert?“ wollte Beth wissen, nun selber erschrocken über den Gesichtsausdruck ihres Mannes.

„Ich vermute ... es ist etwas mit ... Loretta passiert“, begann Ulysses mit zittriger Stimme, in höchster Erregung, immer wieder nach Atem ringend. „Ihr Foto ist heute in der Zeitung. Sie

sieht darauf so seltsam aus, so fremd, als hätte sie einen Unfall gehabt. Leider steht auch nichts dabei, ausser einer Telefonnummer.“

Beth sass da und blickte ihrem Mann mit feuchten Augen ins Gesicht, den Mund leicht geöffnet. Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und begann zu schluchzen. Ulysses setzte sich neben sie, legte seinen Arm um ihre Schultern und gab sich alle Mühe, Beth zu trösten. Widerwillig ging Ulysses zum Telefon, wählte mit klammen, eiskalten und gefühllos gewordenen Fingern die in der Zeitung abgedruckte Nummer.

Scotland Yard wollte am Telefon keine exakten Angaben über Loretta machen, ob sie verletzt war oder man gar das Schlimmste annehmen musste, und versprach, umgehend einen Beamten vorbeizuschicken. Das lähmende Mysterium blieb, keine beschwichtigende Antwort, die die Situation aufklären konnte, keine Aussage, die auf einen Irrtum hätte schliessen lassen. Das Warten mit der unerträglichen Ungewissheit folterte die beiden weiter. Sie waren unfähig, die Sache zu verdrängen, etwas zu unternehmen, sassen nur da und spekulierten über Begebenheiten. Zu ihrer selbst konstruierten Beruhigung trug der Umstand bei, dass Loretta nicht tot sein könne, denn da hätte die Polizei sie sicherlich ins Leichenschauhaus bestellt, um sie zu identifizieren. Was ihnen blieb, war die Hoffnung und die alles zerfressende, teuflische, innere Angst.

Durch die eigentlich verbotene Aufregung blähte sich Ulyssess Magen plötzlich auf und zog sich zugleich wieder mit krampfartigen Schmerzen zusammen in wellenförmigen Bewegungen, die sich bis in den Darm fortbewegten und welche wiederum einen explosiven Durchfall erzeugten.

Nach etwa zwei Stunden läutete es unten beim Hauseingang. Die Makgills, zutiefst erschrocken, schossen hoch, obwohl sie das Läuten erwartet hatten. Ulysses ging hinaus und stieg mit fast geschlossenen Augen, sich am Geländer festhaltend, die Treppe hinab wie ein Verurteilter zu seinem letzten Gang aufs Schafott.

Der Kriminalbeamte, der sich als Inspektor Dilley vorstellte, wies sich aus, und Ulysses bat den nach abgestandenem Tabak riechenden Mann mit einem äusseren Schein von Gefasstheit in die Wohnung. Dort zeigte der Beamte nochmals ein Foto von Loretta — diesmal das grosse, gestochenscharfe Originalfoto — und stellte seine routinemässigen, manchmal etwas unsubtilen und indiskreten Fragen. Als der Beamte zum Schluss noch händeringend und umständlich eingestehen musste, dass der Leichnam unter ominösen Umständen verschwunden war und man alles Erdenkliche unternehmen wollte, um das Verbrechen und das Verschwinden aufzuklären, da brach es aus Beth heraus, plötzlich und konvulsiv, mit einem übermächtigen Stoss, mit einem unmenschlichen, fast tierischen Schrei brüllte sie ihren tiefen Schmerz hinaus. Trunken wankte sie, sank fast ohnmächtig in den Sessel und verfiel mit intervallhaftem Schluchzen und halboffenen Augen in eine Art Lethargie. Ulysses kniete sich neben Beth, nahm ihre zittrigen Hände in die seinen. Obwohl es auch ihm sehr schwerfiel, einigermassen die Ruhe zu bewahren, sprach er ihr Mut zu. Als Beth etwas ruhiger zu werden schien, ging er zum Telefon und rief den Hausarzt an, um ihn zu bitten, doch schnell nach seiner Frau zu sehen.

Die lange dünne Kanüle der Hohlnadel glitt durch Beths pergamentartige Haut in die bläulich durchschimmernde Armvene, und das eingespritzte Beruhigungsmittel rauschte in den Blutstrom. Ihre Zuckungen wurden schwächer, und sie atmete wieder ruhiger und gleichmässiger. Ulysses bedankte sich beim Arzt für dessen schnellen Besuch, dieser sprach sein Mitgefühl aus und versicherte ihm, dass der Zustand von Beth sich schnell wieder bessern würde, ausserdem könne er ihn jederzeit anrufen.

Beths Bewusstsein schwand, schien paralysiert, und sie fiel in einen unruhigen, halluzinierenden Halbschlaf. Ihre verwirrten Sinne versuchten durch verwegene Korridore

ruheloser Träume zu flüchten, produzierten kaleidoskopische Bilder, die verschwammen, sich allmählich formierten, Gestalt annahmen und übergingen bis an die Grenze des Wahnsinns. Plötzlich und unvermittelt sah sie sich vor dem bizarr wirkenden Landhaus von Professor MacBeaton stehen. Sie empfing das imaginäre Bild in einer Deutlichkeit, als wäre dieser Traum ein Schatten der Wirklichkeit. Das Haus erstrahlte in einem diffusen, sonderbar marmorierten Licht, das von dem durch die angrenzenden Baumwipfel durchscheinenden, nackten Vollmond erzeugt wurde. Draussen über dem dampfenden Moor sah man den Irrwisch tanzen. Dicke, schwarze Wolken zogen schnell vorbei, verdunkelten für einen Augenblick die Mondscheibe. Es fiel blauer Regen, der Himmel weinte blaue Tränen. Beth hielt die offene hohle Hand wie einen Kelch in den Regen, und eine tiefblaue Pfütze sammelte sich darin. Erstaunt blickte sie zum Haus und sah in der Türe eine sonderbare Kreatur; ein überdimensionaler, aufrechtstehender, mannshoher Kakerlak, mit dem vermenschlichten Kopf und dem freundlich verschmitzten Lächeln des Professors, der mit dem schwarzen Chitinpanzer unruhig am Türrahmen scharrte. Mit den zangenartigen, dünnen Händen winkte die groteske Gestalt Beth zu und verhiess ihr, näher zu kommen. Ohne eigenes Zutun setzten sich ihre Beine in Bewegung, und sie ging, durch eine unsichtbare Kraft angezogen, langsam die Treppe hinauf und blieb neben der Kreatur stehen, deren riesige ausgestreckte Fühler ständig in Bewegung waren und Beth wie zur Begrüssung berührten. Entsetzt starrte sie in das zur Fratze verwandelte Gesicht des Professors, die Maske bekam Risse, die aufgesetzte Fassade bröckelte, verlor an Substanz, wurde zu Staub, zerfiel. Die gesichtlos gewordene Kreatur nahm Beth zärtlich an der Hand und führte sie wie damals durch das Haus in diesen abstossenden geheimnisvollen Keller. Ihr Innerstes sträubte sich, versuchte verzweifelt dagegen anzukämpfen - vergeblich. Weit offen stand die Türe, nur fehlte diesmal das künstliche Licht. Alles erschien in einem durchdringenden, leuchtenden Blau, dessen Quelle man nicht erkennen konnte. Als die Kreatur mit Beth an der Seite in die Halle trat, bot sich ihr ein infernalisches Bild. Jedem Glassarkophag war die Haube abgenommen worden, und die Leichen lagen auf ihren hölzernen rollbaren Untersätzen. Beth riss die Augen auf und öffnete ihren Mund wie zum Schrei. Auf jeder der entblössten Frauenleichen lag ein beinahe ebenso grosses, schmatzend sabberndes, zirpendes, mit den Fühlern wild um sich schlagendes Kakerlakeninsekt, das mit der darunterliegenden Leiche zu kopulieren schien. Aus den mahlenden Kauwerkzeugen tropfte rötlich schäumender Geifer auf den Boden. Die Kreatur führte Beth an einen noch geschlossenen Sarkophag, auf dem keines dieser widerlichen Insekten lag, und machte sich umständlich daran, die Glashaube abzunehmen. Mit einem teuflischen Lachen deutete die Kreatur auf die Leiche, als wolle sie sich nun selber in exhibitionistischer Weise daran vergehen. Beth blickte hinab auf das Opfer, ihr schwanden die Sinne, dieser Horror war nicht mehr auszuhalten - Loretta lag vor ihr ...

Ulysses nahm seine schwitzende, wild um sich schlagende, stöhnende Frau in die Arme und streichelte ihren nassen Kopf.

„Beth ... Beth beruhige dich ... Du hast nur geträumt, phantasiert hast du. Sei ganz ruhig“, versuchte er seine Frau in die Realität zurückzuholen. Fürsorglich hatte Ulysses die alte Wolldecke aus dem Schaukelstuhl geholt, um Beth damit zuzudecken. In der fast unerträglichen Hitze streckte Beth ein Bein unter der Decke hervor und legte es auf ein noch einigermassen kühles Kissen, das man ihr unter die Beine gelegt hatte. Mit einem in kaltem Wasser ausgedrückten Lappen wischte Ulysses ihre Stirn ab. Mit einem Male hielt Beth den Arm ihres Mannes fest und wollte sich aufrichten.

Mit stockenden, würgenden Sätzen erzählte sie Ulysses von ihrem seltsamen Traum, von dem quälenden Dämon, dieser abstossenden Kreatur, der ihre Seele heimsuchte und ihr Einblick in die Hölle gab. Natürlich, so musste es in der Hölle zugehen, dachte Beth, die Augen geistesabwesend zur Decke gerichtet.

„Aber Beth ..., ein Alptraum war es und nichts weiter. Selber hast du gesagt, wie sympathisch der Professor auf dich gewirkt hat“, beschwichtigte Ulysses.

„Ja, natürlich, das schon ..., aber trotzdem ..., die Bilder waren zu lebendig. Loretta hatte genau denselben Gesichtsausdruck wie auf dem Foto“, antwortete Beth endlich.

„Und .. erinnerst du dich daran ..., wie der Professor angedeutet hat, dass er gleich vor unserem Besuch eine neue Leiche bekommen hat. Die Zeit, der Ort, alles könnte stimmen und zusammenpassen“, sprudelte es aus Beth, als wäre sie sich ihrer Sache vollkommen sicher.

Ulysses griff sich mit der Hand an die Stirn und schien zu überlegen: „Beth, ich kann es nicht fassen, einfach nicht glauben, aber ich muss ehrlich zugeben, dass deine Theorie etwas Wahres hat. Aber was machen wir nun, gehen wir hin zu diesem Professor und überzeugen uns persönlich? Oder geben wir der Polizei einen anonymen Hinweis und lassen den Professor für seinen Leichenklau auffliegen, obwohl er so nett und offen zu uns war und wir bis jetzt überhaupt keinen Beweis haben und nur spekulieren. Auch wenn sich das Schlimmste bewahrheiten sollte, so können wir dem Professor keine allzu grossen Vorwürfe machen.“

Kapitel 9

Auch nach über einer Woche intensiver Ermittlungen konnte die Kriminalpolizei noch immer keine Angaben über das Verbrechen sowie das mysteriöse Verschwinden von Lorettas Leiche machen. Da schon früher andere Leichen entwendet worden waren und deren Verbleib bis heute nicht aufgeklärt werden konnte, wurde sogar eine Sonderkommission gebildet. Schlimm war auch die Tatsache, dass sich Bekannte und Nachbarn bei Beth oder Ulysses auf eine geradezu sensationslüsterne Art nach Loretta erkundigten. Mit erstaunten Gesichtern jedes Detail erfragend, machten sich die Leute ihren eigenen, durch die Gerüchteküche gezogenen Reim und sorgten dafür, dass bald ganz Cardiff darüber sprach.

Nach langwierigen Diskussionen und abgewogenen Möglichkeiten einigten sich Beth und ihr Mann darauf, dass Ulysses in der nächsten Zeit nochmals zu dem Professor fahren sollte, um die in Auftrag gegebenen Drucksachen abzuliefern und gleichzeitig endgültig abzuklären, ob der Professor etwas mit dem Verschwinden von Lorettas Leichnam zu tun hatte oder nicht.

In den folgenden Tagen aber wurden die Beschwerden von Ulyssess Darmtrakt immer schlimmer. Die Sache mit seiner Tochter hatte ihm doch richtig und tiefgreifend zugesetzt. Seine Sitzungen auf der Toilette, seine Darmentleerungen wurden häufiger und schwerer, die Schmerzen und das permanente Druckgefühl im Bauch wurden unerträglich, er ass kaum mehr etwas, und Beth musste ihn ständig zum Trinken zwingen, da der bedrohlich rasante Flüssigkeitsverlust gefährlich zu werden schien, zumal er dramatisch an Gewicht verlor und seine Wangen immer mehr einfielen und die Knochen durch die ungesund fahl wirkende Haut durchschimmerten. Nur durch das vehemente Drängen von Beth vereinbarte er einen Termin beim Arzt, der ihn, falls notwendig, immer noch an einen Spezialisten überweisen konnte, wie sie meinte. Da er schon immer an einer Weisskittelphobie litt, schien ihm auch der Gang zu einem ihm bekannten Arzt beschwerlich.

Bereits für den nächsten Vormittag hatte er einen Termin bekommen. Nüchtern und von gewohnter Übelkeit geplagt sass Ulysses im Wartezimmer, steif wie ein Brett, die Knie fest aneinandergepresst. Den starren Blick hielt er kurzerhand vor sich auf den Boden gerichtet, damit sich dieser nicht zufällig mit einem der anderen wartenden Patienten kreuzte, der ihn dann womöglich nach seinen Beschwerden ausfragen könnte. In der Ecke des Zimmers sass eine alte Frau, strickend und maschenzählend, mit ausdruckslosen Augen und in Gedanken an einem fernen Ort. Daneben stand ein eher bescheiden ausgerüstetes

Aquarium auf einem imitierten Granitsockel. Ein gelangweilter Knabe fuhr mit seinem Finger über die Scheibe und wartete darauf, dass sich ein orangeroter Schwertträger irreführen liess, um sinnlos dem Finger nachzujagen. Im Wartezimmer war es ruhig. Man hörte nur ein gelegentliches Räuspern, gurgelnde Mägen und die stöhnende Pumpe des Aquariums. Ulysses rutschte immer wieder umständlich und nervös auf diesem umbequemen, fast unzumutbaren Holzstuhl mit der schmalen Rückenlehne hin und her. Mehrmals blickte er auf die vor ihm auf einem niedrigen Tischchen liegenden, bunten Zeitschriften mit dümmlichen Locktiteln, die er jedoch nicht wahrnahm. Unzählige, nicht zu ordnende Gedanken rotierten wie Mückenschwärme in seinem schmerzenden, hämmernden Kopf, zu viele, als dass er einen davon hätte klar erkennen können. Von Qual, Angst und wachsender Furcht gepeinigt, raufte er sich mit den feucht gewordenen Fingern die Haare. Unvermittelt begann nun doch ein gelangweilter, der vielen abgegriffenen Zeitschriften überdrüssig gewordener, neben ihm sitzender Mann zu reden, sprach abschätzig vom Wetter und seinen Leiden. Die Diabetes hätte er einigermassen im Griff, aber die immer wieder am Rücken und am After auftretenden Furunkel, aus denen dicker, gelber Eiter quoll, der seine Hemden und seine Wäsche durchnässte, das sei schon sehr unangenehm. Danach erdreistete er sich, ungeniert seine Biographie vorzutragen und das in einer Form, die in ihren Unglaubwürdigkeiten — gespickt mit haarsträubenden Ãœbertreibungen — an einen eher billigen Science-fiction-Roman erinnerte. Dabei lehnte er sich weit zurück, schlug die Beine übereinander, gestikulierte wild mit den Armen und berührte mit dem kahlen Hinterkopf die mit einem einfachen Blumenmuster tapezierte Wand. Das unangenehme Echo seines aggessiven Lamentos klang noch lange nach. Es schien, als lümmelte er beinahe genussvoll auf seinem Stuhl herum. Ulysses, apathisch, bedrängt und sich nahezu vergewaltigt fühlend, murrte ab und zu unverständlich, ohne auch nur für einen Moment zuzuhören. Ihm war schlecht, hundeelend, und er musste immer wieder, die Luft geräuschvoll durch die Nase ausstossend, mit rollenden Augenpaaren an die Decke starren und hoffen, dass der sprudelnde Redeschwall seines Nebenmannes bald versiegen würde. Er schwor sich, dass er diesem eingebildeten Affen direkt über die Beine kotzen würde, wenn es soweit kommen sollte. Als dann um Punkt zehn Uhr endlich die Sprechstundenhelferin ins Wartezimmer trat, ein junges hübsches Ding mit einer aufgesteckten Haube, und seinen Namen aufrief, hörte er ihn wie aus weiter Ferne und zuckte zusammen. Sie hatte eine wundervolle Stimme, deren rauchiges Timbre ihrer makellosen Diktion die Schärfe nahm. Mit dem Ärmel seines Pullovers wischte er sich über die schweissnasse Stirn, stand auf und blickte beim Betreten des Sprechzimmers kurz in die wässrig blauen Augen der in der Tür stehenden jungen Dame, da er glaubte, sie könne sein laut pochendes Herz hören. Er setzte sich auf den ihm angebotenen Stuhl gleich hinter dem grossen Schreibtisch, wunderte sich über den hässlichen, abgetretenen Perserteppich, der einen Teil des stumpfen Holzbodens bedeckte, und sah die an der Wand hängenden gerahmten Urkunden, welche den Arzt über sein Fachwissen auswiesen. Darunter Büchergestelle, vollgestopft mit teilweise übereinander gestapelter Fachliteratur und Unmengen an medizinischen Zeitschriften. Auf der äusseren Kante des ohnehin schon überladenen Schreibtisches stand ein plastifiziertes, bewegliches Wirbelsäulenmodell, welches wohl das besonders empfindliche Stück vom Lendenwirbel bis zum Kreuzbein darstellen sollte. Ulysses griff sich das Modell, drückte so fest mit dem Daumen gegen einen Bandscheibenring, dass der durch ein rotes Plastikröhrchen gefertigte, in der Mitte verlaufende Nervenkanal mit den darin eingebetteten peripheren Nervensträngen zusammengequetscht wurde. Mit gerunzelter Stirn schloss er kurz die Augen, als spüre er ihn selber, den dadurch verursachten virtuellen Schmerz. Plötzlich wurde die Türe aufgerissen, und der Arzt trat mit freundlichem Gesichtsausdruck ins Zimmer, erstaunt kurz auf das Modell in Ulyssess Händen blickend.

Der Arzt riet Ulysses dringend, aufgrund der Angaben und Symptome sowie des Allgemeinzustands zu einem stationären Spitalaufenthalt, damit man die Sache mittels einer Magen-, Darmspiegelung und einiger weiterreichender Tests genau diagnostizieren konnte.

Der Arzt machte sich mit gerunzelter Stirn einige Notizen und meinte: „Sir, sind Sie einverstanden, wenn wir ihnen etwas Blut abnehmen und gleich ein Röntgenbild Ihres Magens machen?“

Was sollte Ulysses wohl dazu sagen? Schlimm daran war eigentlich nur dieses übelriechende Barium, ein unangenehmes, in Flüssigkeit aufgelöstes Kontrastmittel, das er trinken musste. Danach öffnete er angewidert, mit zittrigen, kalten und beinahe gefühllosen Fingern die winzigen Knöpfe seines Hemdes und machte so seinen Oberkörper frei, legte das von Angstschweiss durchtränkte Hemd über eine abgewetzte Stuhllehne und stand vor das vorsintflutliche Röntgengerät, wie es ihm die Assistentin zeigte. Das kühle Metall, gegen das er seine Brust drückte, brachte ihm etwas Abkühlung. Als er den Atem anhalten musste, stach ihm die Luft wie kleine Messer in die Lungen, und er war froh, als das langanhaltende Klicken der Apparatur ihn erlöste. Danach wurde ihm ein Röhrchen mit Blut abgenommen, und er musste wieder einige Zeit in diesem unpersönlichen Wartezimmer Platz nehmen. Er war froh, dass in der Zwischenzeit sein geschwätziger Sitznachbar ins Sprechzimmer gerufen worden war. So konnte er zumindest in Ruhe ausharren, bis die Bilder entwickelt und die Blutwerte feststanden.

Der Arzt lehnte sich seufzend weit in seinem Stuhl zurück und betrachtete die Röntgenaufnahme und liess sich Zeit; eine unmenschliche, zermürbende Warterei. Dann endlich wandte er sich wieder Ulysses zu und offenbarte ihm mit ernstem Unterton, dass er auf der Aufnahme mindestens zwei olivengrosse Magengeschwüre feststellen konnte und sein Blut abnorme Werte aufwies. Obwohl Ulysses dem Arzt gegenüber sass, ihn ansah und ab und zu motorisch nickte, hörte er die beschwörenden und erklärenden Worte des Arztes wie durch Watte, verstand sie aber nicht. Spitalaufenthalt, dachte er immer nur. Und wenn es etwas Ernstes, vielleicht sogar Unheilbares ist? Krebs? Das Blut im Stuhl? Ein Spitalaufenthalt – nein, das wollte er auf gar keinen Fall, das kam für ihn überhaupt nicht in Frage. Er sträubte sich gegen diese Gedanken, er hasste diese weisse, sterile Umgebung. Freiwillig würden sie ihn da niemals hinbekommen. Diese ständigen unangenehmen und schmerzhaften Untersuchungen. Schmerzen, die kaum mehr zu überbieten waren, hatte er schon, und sterben konnte er auch zu Hause. Da er selber spürte, ja fast davon überzeugt war, dass es sicherlich nichts Harmloses sein konnte, packte ihn dennoch zerstörerische Angst, Reue und Schuldgefühle, die sich in ihn hineinfrassen und in ihm herumbohrten und keinen klaren, vernünftigen Gedanken zuliessen. Verrecken musste er, menschenunwürdig dahinsiechen und auf den barmherzigen Tod warten, der erst dann kam, wenn es ihm passte, wenn er den Zeitpunkt für gekommen hielt. War das das ganze Leben? Sollte es so enden?

Wie ein Betrunkener wankte er in einer latenten Depression über die Strasse, sah weder nach links noch nach rechts und mehr aus mechanischem Antrieb, als dass es in seiner Absicht lag, steuerte er direkt auf seine Druckerei zu, schaute kurz nach oben und verkroch sich hinter seinen schwarzen Maschinen, die ihm jetzt eine gewisse Geborgenheit zu vermitteln schienen. Er wollte erst einmal alleine sein, die Gedanken ordnen und zur Ruhe kommen, aber es gelang ihm nicht. Immer wieder überfiel ihn die Hoffnungslosigkeit, die Aussichtslosigkeit und die lähmende Leere in seinem Leben. Eine Hitzewelle durchströmte seinen Körper, sein Atem wurde schwerer, und kalter Schweiss stand auf seiner Stirn. Aus einer verborgenen Schublade zog er eine halbvolle Flasche Brandy, riss den Verschluss vom Hals und setzte die Flasche an die Lippen. Der brennende Alkohol lief, ohne dass er ab und zu schlucken musste, in seinen kranken Magen, breitete sich aus, um seine Wirkung zu entfalten. Es war, als hätte sich in seinem Inneren ein Feuer entzündet. Mit zusammengekniffenen Augen kauerte er am Boden, um den Moment abzuwarten, wo das Brennen in ein wohliges, sich ausbreitendes Wärmegefühl überging – aber dieser Moment kam nicht.

Dann schob sich wieder dieses grauenvolle Bild vor sein Bewusstsein, das er über die vielen Jahre vergeblich versucht hatte zu verbannen, auszulöschen. Das Bild war stärker als sein

Wille, es projizierte sich, wie so oft, dominierend über all seine Gedanken und Vorstellungen, beeinflusste ihn. Er sah, wie er damals in der Waschküche eines grossen Mietshauses seinen Freund und Nachbarn Mike gefunden hatte. Als dieser den vielen, hinter vorgehaltenen Händen getuschelten und immer lauter werdenden Gerüchten im Haus endlich Glauben schenkte, dass ihn Sondra, seine Frau, auf schändliche Weise betrog, begann er zu trinken, rasierte und wusch sich nicht mehr, verfiel zusehends und wusste mit sich und der Umwelt nichts mehr anzufangen. Langsam aufgefressen von tiefen Schuldgefühlen und einem stetigen Abstieg durch immer neue Schichten der Depression beschloss er, sich aus seinem, wie er glaubte, verwirkten Leben davonzuschleichen. Bereits wenige Zeit davor bemerkte Mike, dass er den unüberbrückbaren Tod schon länger in sich trug, als er damals erkennen wollte. In der Schublade seines Schreibtisches fand man später reuevoll abgefasste Abschiedsbriefe, niedergeschriebene Lippenbekenntnisse und tiefsinnige Liebesbezeugungen an Sondra. Eines Nachts kam Mike stark betrunken nach Hause, machte in der ganzen Wohnung Licht, holte sein in Tücher gewickeltes Jagdgewehr aus dem Schrank, ging ins Schlafzimmer, torkelnd und mit angelegter Flinte. Mit einem irren Blick riss er die Decke vom Ehebett und schoss in einem affektiven Ausbruch von unbeschreiblichem Hass seiner Frau mehrmals in den Unterleib. Das nachgeladene Gewehr unter dem weiten Mantel versteckt, war er völlig ernüchtert, aber am Ende seiner Kräfte in die düstere Waschküche unten im Keller geschlichen. Er drehte seinen Kopf unter den Wasserhahn, füllte die Mundhöhle mit Wasser, hielt sich den grosskalibrigen Lauf seiner Waffe unters Kinn, um im gleichen Moment abzudrücken.

Ulysses konnte dieses entsetzliche Bild sein ganzes Leben nicht mehr vergessen, als er durch die Schüsse wach wurde. Über die von verschlafen wirkenden, untätig am Geländer nach oben und unten starrenden Menschen in Schlafanzügen versperrte Treppe war er in den Keller gehastet. Mit Entsetzen sah er, wie sein Freund Mike halb sitzend an der Wand lehnte, blutüberströmt und ohne Kopf. Dieser war durch die Wucht des Geschosses explodiert, weggerissen worden. Blutdurchtränkte Teile seines Gehirns mit einzelnen hautbehafteten Haarbüscheln klebten an den feuchten Wänden und der Decke. Nein, ein solches Bild konnte man nie mehr vergessen.

Plötzlich und zu allem entschlossen setzte er nochmals die Flasche an die Lippen, um diese in einem Zuge leerzutrinken. Den letzten Schluck behielt er im Mund, stand mit geblähten Wangen auf, ging zu einem an der Wand festgemachten Metallschrank, schloss ihn auf, wühlte ungeduldig darin herum und nahm einen angerosteten Armeerevolver aus einem Fach. Gelassen drehte er ihn um, blickte in den dunklen, unglückbringenden Lauf, roch an dem rostenden Stahl und hielt diesen unter das Kinn, zog mit dem rechten Zeigefinger den Hahn zurück, legte beide Daumen um den Abzug und drückte ab, eiskalt, ohne Gefühlsregung, ohne Hemmung. Reflexartig zuckte er mit den Augen, aber es machte nur "klick". Der todbringende Knall blieb aus, dieses metallene, leere und hohle Klicken fuhr ihm wie ein Messer ins Bewusstsein. Erst jetzt erwachte Ulysses aus seiner destruktiven Trance, blickte mit Entsetzen auf den alten Revolver in seiner Hand, dessen Patronen über die Jahre funktionsuntüchtig geworden waren. Er konnte es nicht fassen, was er soeben versucht hatte, dass er an seiner eigenen Sterblichkeit gezweifelt hatte. Wer war er denn? Ein Aristokrat des Todes? Angewidert spreizte er die Finger und liess das kalte Stück Metall einfach fallen, es war, als berührte er etwas Glühendes, das ihm zur Strafe die Hand verbrennen wollte. Er öffnete den Mund, und der Brandy lief ihm in Bächen über den Bauch, tropfte auf den Boden. Seine Mundhöhle war wie ausgebrannt, gefühllos und schmerzte dennoch. Wieder setzte er sich auf den Boden, begann zu zittern und weinte hemmungslos. Stunden vergingen, bis er wieder er selbst war, sich einigermassen in der Gewalt hatte und die ersten klaren und ruhigen Gedanken fassen konnte.

Um sich abzulenken, hantierte er beflissen an einer Druckmaschine herum, sah auf der Ablage die beinahe fertig gedruckten, aufgestapelten Karten des Professors, und wieder überkam ihn die Erinnerung an seine Tochter wie eine Heimsuchung. Ob dieser Professor wirklich so harmlos war, wie er sich gab, fragte er sich immer wieder. Mehr aus Trotz, Wut

und einer übermächtigen Hilflosigkeit nahm er die Karten von der Ablage und legte sie erneut in die Papierhalterung auf der linken Seite der Druckmaschine. Auf die blanken Walzen strich er etwas von einer fast transparenten, lackähnlichen, mit Leinöl verdünnten Farbe und liess sie im ganzen Farbwerk gleichmässig verteilen, indem er die Maschine leerlaufen liess. Beim letzten Durchgang wollte er die vom Professor gewünschten Rahmen aufdrucken. Als Ulysses den ersten Probeabzug machte, sah er, dass die Farbe doch etwas zu transparent war, denn der Rahmen erschien eher wie ein Wasserzeichen auf dem Papier. Also stoppte er die Maschine und gab noch etwas von der unverdünnten Farbe aus einer Dose dazu und machte erneut einen Abzug. Jetzt schien er zufrieden und liess den gesamten Stapel durchlaufen, der zum Trocknen über Nacht einfach auf der Ablage liegengelassen wurde.

Draussen begann es zu dämmern. Trotz seiner Verdrängtaktik konfrontierte ihn die Tatsache, dass Beth sicher schon lange auf ihn wartete. Zuerst würde sie ihn nach der Diagnose des Arztes fragen, da war er sicher, ganz sicher. Die Lichter löschend, schloss er die Türe und stieg keuchend, immer wieder nach Atem ringend, die Treppe hoch zur darüberliegenden Wohnung. In letzter Zeit hatte er des öfteren solche Kreuzgänge zu bestehen, dachte er. Wieder überfielen ihn unentschiedene Gedanken wie ein Regenguss. Fragen, die einer wohlüberlegten Antwort bedurften. Was sollte er Beth über den Arztbesuch sagen? Ganz zu schweigen von seinem Versuch, sich unten in der Druckerei das Leben zu nehmen. Er beschloss, seiner Frau die Wahrheit über den Zustand seines verbrauchten Körpers zu verschweigen, herunterzuspielen, zu verharmlosen. Sicher würde sie ihn sonst noch heute abend mit aller Kunst dazu überreden, am nächsten Morgen ins Spital zu gehen. Nein, das kam überhaupt nicht in Frage.

Langsam, allzu langsam vergingen die ersten trüben, mit nasskaltem Nebel verhangenen Herbsttage, ohne jegliche Freuden, ohne ein ermunterndes, herzliches Lachen. Das Essen war zur Qual geworden und machte Ulysses schon lange keinen Spass mehr. Die Krämpfe und Schmerzen danach waren bestialisch und kaum mehr auszuhalten. Dem Nikotin und dem Alkohol entsagte er ganz, da diese Stoffe sich wie Säure in seine Gedärme frassen. Eine tiefe Depression überkam ihn, nahm langsam, aber übergreifend Besitz von ihm und veränderte sein Wesen. Die Angst frass sich in die unergründlichen Schluchten und Vertiefungen seiner Seele und liess ihn nicht mehr zur Ruhe kommen. Er schlief noch weniger, noch unruhiger als früher und redete nur noch das Notwendigste. Der Funke seiner lähmenden Melancholie sprang auch auf Beth über, breitete sich auch in ihr aus und wucherte im Innersten wie ein bösartiges Geschwür.

Dann, eines frühen Morgens, passierte das schon längst Erwartete. Ulysses lag nach einer beinahe schlaflosen Nacht unnatürlich zusammengekrümmt in seinem Bett, kotzte Galle, urinierte ins Bett, schwitzte und wimmerte. Er wand sich unter unerträglichen Schmerzen, die Krämpfe schüttelten seinen ausgelaugten und ausgezehrten Körper. Beth wusch ihm fürsorgend, mitfühlend und dennoch völlig hilflos mit einem kalten Lappen über die glühend heisse Stirn. Mit einem Schlag bäumte er sich noch einmal auf, hielt Beth mit beiden Armen fest, flüsterte ihr etwas Unverständliches zu. Nach wenigen Sekunden verdrehte er die Augen, wurde ruhig, verlor das Bewusstsein und fiel in ein Koma.

Kapitel 10

Beth sass mit tränenden, rotgeränderten Augen in der von Hektik, Einzelschicksalen und regem Treiben geprägten Aufnahmestation der Uniklinik. Platitüden von schnatternden Lippen und knisternden unverständlichem Stimmengewirr war zu vernehmen. Seit einer

Stunde wurde operiert. Kein Zeichen, kein Mitgefühl, keine Nachricht liess man ihr zukommen. Jedesmal, wenn ein Arzt oder eine Schwester an ihr vorbeihuschte, erschrak sie, fuhr auf und blickte erwartungsvoll in das jeweilige Gesicht, das meist geistesabwesend und desinteressiert an ihr vorüberhastete. So viel Trauer, Erwartung, Schmerz und Freude vereinten sich an diesem Ort. Menschen, die weinten, lachten oder sich umarmten. Menschen, die mit verbundenen Köpfen, Armen oder Beinen an den öffentlichen Telefonsprechstellen standen und mit ihren Freunden und Angehörigen diskutierten. Menschen, die im offenen Operationshemd, rauchend und schwatzend, an mit Schläuchen verbundenen, rollbaren Infusionsgeräten durch die sterilen Gänge hinkten.

Dann trat endlich ein Arzt mit offenem Kittel, das Stethoskop wie eine Perlenkette tragend, vor Beth hin und fragte mit ernster, aber höflicher Stimme: „Mrs. Makgill?“

Beth sprang auf, ihre Augen sahen den Arzt fragend an. „Ja“, kam es fast unhörbar über Beths ausgetrocknete Lippen; ein übermächtiger Kloss sass in ihrem Hals, der sich nicht einfach herunterschlucken liess.

„Bitte ... Madam ... darf ich Sie in mein Sprechzimmer bitten“, forderte sie der Arzt auf, die Hände tief in die aufgenähten Kitteltaschen gesteckt.

„Wie geht es meinem Mann? Kann ich zu ihm?“ wollte Beth wissen. Der Arzt blieb stumm, hatte nicht die geringste Lust, sich hier auf dem Gang über die Diagnose zu äussern und bot ihr ein Gespräch unter vier Augen an, wie er meinte. Dabei schritten sie durch Flure, an deren Seiten unzählige, teilweise offenstehende Türen alles nach aussen dringen liessen. In diesen Räumen herrschte ein buntes Treiben; es wurde durcheinandergeredet, gelesen, Karten gespielt. Ganze Kohorten von Pflegern debattierten rauchend und wild gestikulierend unter einem dröhnenden, an die Wand montierten Fernsehapparat. Der Arzt drängte Beth ins Sprechzimmer und bot ihr einen Stuhl an. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, rückte seine ausgebleichte, karmesinrote Krawatte zurecht und öffnete die neuangelegte Patientenmappe.

Der Arzt las in den Unterlagen und begann, ohne aufzublicken: „Madam, es tut mir sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass es nicht gut um Ihren Gatten steht. Er hat das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt. Bei der Notoperation wollten wir ein Stück seines Darmgewebes entfernen, um es zu untersuchen, aber der histologische Befund und die Schwarzfärbung des Darmes haben bestätigt, dass es sich um ein inoperables, bösartiges Dickdarmkarzinom handelt. Dazu kommen die durchgebrochenen Magengeschwüre, die bei Ihrem Gatten vermutlich unbeschreibliche Schmerzen verursachten. Wir haben die Stelle gleich wieder zugemacht ... leider aussichtslos, Madam. Es tut mir sehr leid. Wenn Ihr Gatte nur schon früher zu uns gekommen wäre ... ja dann, vielleicht ...“.

Die letzten Worte sprach der Arzt in beschwörendem, sich selbst verzeihendem Ton, als wolle er jegliche Schuld an der Tragödie von sich weisen, dabei hob er die Hände immer wieder bis über den Kopf, inszenierte ein Fingerspiel, das zur Unterstreichung seiner Worte wie bei Stummen die Stimme ersetzte. Beth zuckte bei jedem der Worte wie unter Peitschenschlägen zusammen, es war, als verkünde der Arzt nicht nur das Todesurteil von Ulysses, sondern auch ihr eigenes.

„Kann ich ihn sehen?“ insistierte Beth mit bemerkenswerter Fassung.

„Natürlich, Madam, gleich. Ich führe Sie zu ihm“, antwortete der Arzt spontan und etwas erleichtert.

Mit Herzklopfen betrat Beth das Zimmer auf der Intensivstation und trat an das zwischen mobilen Trennwänden stehende Bett von Ulysses. In dem mit modernen technischen

Apparaten überfüllten Raum erkannte sie das eingefallene, bleiche Gesicht ihres Mannes kaum wieder. Überall waren Schläuche, Elektroden und Kanülen angebracht. Blinkende und piepsende Überwachungsgeräte, ein kardiogrammzeichnender Monitor mit einer Anzeige der ständig wechselnden Werte der Herzfunktion, standen über dem Bett. Beth zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben das hohe Bett. Zitternd und seine Nähe suchend, legte sie ihre eiskalte Hand in die von Ulysses. Dann überkam sie eine abgrundtiefe Trauer, Verzweiflung und Hilflosigkeit vermischten sich. Tränen liefen ihr über die Wangen und tropften unaufhaltsam auf die Bettdecke.

„Ulysses ... bitte ... verlass mich nicht, nicht jetzt, nicht auch noch du“, flüsterte sie leise, kaum hörbar. Sie sass da, geistesabwesend, zerrissen und völlig ausgelöscht. Im gleichen Augenblick begannen die Apparate wild zu flackern, ein ununterbrochener Piepston war zu hören, rote Lampen blinkten unheilvoll auf, die Herzkurve auf dem Bildschirm wurde flach, zur Linie, die angezeigten Werte pulsierten. Ein Arzt und zwei Schwestern stürmten ins Zimmer, stiessen Beth hastig zur Seite und begannen mit aufwendigen Reanimationsversuchen. Erst nach einer Weile intensiver Bemühungen setzte der Piepston wieder ein, begann zu pulsieren, im Rhythmus des Herzens, unregelmässig und schnell. Nachdem der Arzt ein Medikament gespritzt hatte, zeigte das Elektrokardiogramm wieder normale Werte, und das Herz schlug kräftiger und regelmässiger. Beth war schockiert, ein würgender Weinkrampf überkam sie, und schnell setzte sie sich zurück auf den Stuhl. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass ihr Mann soeben, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, die Schwelle des Todes überschritten hatte und von der modernen Medizin im letzten Moment zurückgerissen worden war.

Gezeichnet von diesem Schlag knöpfte sich Beth ihren Mantel zu, setzte sich draussen vor der Klinik auf eine triste Bank, obwohl es kalt, trüb und nass war. Die grölenden, um sie herumtobenden und vor Energie strotzenden Kinder, die im Park spielten; das alles bemerkte sie gar nicht. Beth war im Moment unfähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen, alles kreiste nur wirr um sie herum. Sie fühlte sich schrecklich, allein gelassen von allen, von der ganzen Welt. Wo sollte sie auch hin mit ihrer Trauer, ihrem aufkeimenden Hass? Es war im Moment unmöglich, nach Cardiff zurückzufahren, da sie ja nicht autofahren konnte. Was sollte sie auch dort? Am Morgen, als sie Ulysses als akuten Notfall eingeliefert hatten, konnte sie mit der Ambulanz mitfahren, und jetzt wollte sie zumindest in der Nähe ihres Mannes sein. So blieb nur der Aufenthalt in einem Hotel oder einer Pension. Sie entschied sich für eine Pension mitten in der Stadt. Gedankenverloren machte sie sich auf und ging langsam in Richtung Altstadt. Plötzlich stand sie vor den dicken Mauern eines riesigen Friedhofs mitten in Bristol, durch dessen offenes Portal die eng angelegten, pompösen Grabmäler und Familiengruften erkennbar waren. Beth hielt einen Moment inne, sie blickte hinein, ein Kloss klebte in ihrem Hals, der sie schwer atmen liess. In der Weite des Friedhofs hörte man von dem kleinen, angebauten Turm der Abdankungshalle die Totenglocke, hell wie ein ankündigendes Viatikumglöckchen. Eine Prozession dunkel gekleideter Gestalten mit breiten Hüten huschte, den Blick zum Boden gerichtet, mit nach unten gekehrten Blumenbündeln die breite, flache Treppe zur Halle hinauf.

Nach einer Weile kam sie zum Watershed Arts Complex, stand plötzlich vor der Kathedrale an der Anchor Road, einem Prunkstück der anglikanischen Kirche aus dem Jahre 1142. Sie ging zum Nordportal und betrachtete einen Moment die an der Stirnwand des Querhauses angebrachte prachtvolle Darstellung des Letzten Abendmahls. Dann durchschritt sie das offen stehende Portal, ging hinein, platzte mitten in eine Eucharistiefeier, bei der unzählige Menschen versammelt waren. Während die hüstelnden Menschen langsam und wie auf ein Zeichen reagierend aufstanden und gemeinsam sangen, ging Beth leise und auf Zehenspitzen hinten um die Bankreihen herum und suchte sich neben einem mächtigen Stützpfeiler einen freien Platz im Mittelschiff und sah auf das normannische Domkapitel mit der von Grinling Gibbons geschnitzten Orgel. Sie sah die mit Doppeltüren verschlossenen Beichtstühle an den Seiten, verziert mit kunstvoll geschnitzten Gesichtern längst vergessener Figuren; an der gewölbten Decke barocke, formvollendete Fresken gepeinigter

und verfolgter Märtyrer, leichtbekleideter, dicklicher Jungfrauen mit schweifendem Haarschopf und pausbäckige, posaunenblasende Engel mit verspielten Mienen. Am Fusse des erhöhten Altars lag ein buntes Meer aus Blumen, die ganze Wolken von süssem, würgendem Duft versprühten. Daneben ein in einem Metallrahmen gefangenes, hell leuchtendes Quadrat aus gestifteten, flackernden Kerzen, wo jede einzelne Flamme Hoffnung war und die Erfüllung von weltlichen und allzu irdischen Wünschen forderte. Beth schloss die Augen und betete.

„Du musst es ertragen!“ forderte das Schweigen und liess sie erschaudern. Wie durch Watte hörte sie die sonore Stimme des Geistlichen auf der Kanzel. Sie blickte hinauf und sah, wie er seine Hände zum Himmel erhob und sprach: „Auferstanden bin ich und immer bei dir. Du legest deine Hand auf mich, halleluja.“

Oben auf der Empore zwischen vergoldetem und reich verziertem Holzwerk hauchten matte Orgelpfeiffen dumpfe Akkorde des Organisten durch den Raum. Für einen Moment erstrahlte alles; es war, als ob Beth hinüberreichte ins Jenseits ihrer Vorstellungen.

In der Fairfax Street, wo prachtvolle Fassaden und unzählige Restaurants die engen Gassen säumten, fand sie schliesslich eine eher unscheinbare Pension, an deren Eingangstüre ein auf Hochglanz poliertes Messingschild hing, auf dem mit kunstvoll verschnörkelten Buchstaben ‘THE WHITE MULLET ARMS’ eingraviert war. Als sie sich anschickte, ins Haus zu gehen, kam ihr ein unkonventioneller amerikanischer Gast in beeindruckendem Habitus, verblichenen Jeans und spitzen, sicherlich unbequemen Texasstiefeln entgegen; in leichter Rücklage und breitbeinig, als hätte man ihm das Pferd unter dem Hintern weggeschossen. Höflich legte er zwei Finger an den Hut, murmelte respektvoll „Ma’am“, scheute aber den Blickkontakt. Der Housekeeper sass rauchend und zeitungslesend hinter der hohen Theke auf einem lehnenlosen Hocker und blickte nur kurz auf, als die Türe ging. An der Wand hing ein offener Holzkasten mit etwa fünfzehn, mit grossen Nummerschildern gekennzeichneten Schlüsseln. Darunter stand ein abgenutzter Schreibtisch mit einem von bunten Klebern verunzierten, altmodischen Telefon, und es herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander an herumliegenden Papieren, unvollständig ausgefüllten Rechnungen und Prospekten. Auf einem bunten Teller lagen unappetitliche, von Fliegen begehrte Speiseresten, daneben ein angebissener Apfel, dessen offengelegtes Gehäuse mit den herausfallenden Kernen bereits braun zu werden begann. Beth ging auf die Theke zu, legte ihre Arme stützend darauf, sah die vielen für Touristen bereitgelegten Prospekte, Veranstaltungskalender und Stadtpläne, als der Keeper sich endlich anschickte aufzustehen, die Zeitung ungeschickt zusammenfaltete und Beth fragte, was sie wünsche.

„Guten Tag, Sir, ich hätte gerne ein Einzelzimmer. Ich kann Ihnen aber nicht genau sagen, wie lange ich bleiben werde. Auf jeden Fall für einige Tage“, sagte Beth als erstes.

„Natürlich gerne, Madam. Wünschen Sie das Zimmer mit oder ohne Bad? Wir haben auch einfachere Zimmer mit einem Etagenbad, dessen Schlüssel Sie jeweils hier an der Rezeption holen könnten“, entgegnete der Keeper höflich, sich mit seiner aufgedunsenen Hand über den Mund fahrend, in einer ungewöhnlichen, viel zu hohen, hermaphroditen Stimme, aber mit pfeilschnellen Augen, die daran gewöhnt waren, mit einem geübten Blick jegliche Situation einzuschätzen.

„Oh, nein, vielen Dank. Das wäre mir nun doch etwas zu umständlich. Ich nehme ein Zimmer mit Bad. Wenn Sie einverstanden sind, bezahle ich gleich für die nächsten drei Tage“, antwortete Beth seufzend, mit der freien Hand ihr Portemonnaie aus der Tasche kramend. Sie trug ihren Namen mit einem an einem dünnen Kettchen hängenden Kugelschreiber, dessen Spitze mit Tinte verschmiert war, in das Formular ein. Der Keeper überreichte ihr einen der abgegriffenen Schlüssel, fragte höflich und diskret nach eventuellem Gepäck, hatte Verständnis für die Situation und setzte sich schliesslich wieder auf seinen Hocker, um

erneut in die Zeitungslektüre zu versinken. Beth stieg in den offenen, für nur eine Person konzipierten, mit kunstvollem Eisen beschlagenen, leicht ramponierten Fahrstuhl, der sich langsam, unendlich langsam in Bewegung setzte und sie das eine Stockwerk nach oben brachte. Dabei stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn man ständig hinunter zur Rezeption laufen müsste, um zu fragen, ob denn vielleicht das Bad frei wäre und man um den Schlüssel bitten dürfe. Der Zimmerschlüssel fand kaum Halt in dem ausgeleierten Schloss, Beth musste beide Hände nehmen, um die Türe öffnen zu können. Das enge Zimmer war sauber, die Läden geschlossen, enthielt aber augenscheinlich nichts weiter als ein Eisenbett, einen weisslackierten Stuhl und eine vorhanglose Kleidernische; alles umrahmt von einer hellblauen Kornblumentapete. Die grünen, hell leuchtenden Ziffern des Weckers neben dem Bett zogen den Blick von Beth an. Sie wartete, bis die letzte Ziffer sprang, eine lange Zeit. Müde liess sie sich auf das mit einer dünnen Decke gemachte Bett fallen und schloss für einen Moment die Augen, ein Schwindelgefühl erfasste sie so stark, dass sie sich auf die Seite drehen musste und sie sich schlaff einem dichten Schweigen überliess.

Nach einer Weile stand sie auf, legte ihre Kleider über die Stuhllehne, ging barfuss über den weichen Flor des Teppichs, der sich sträubte wie das Fell einer aggressiv gewordenen Katze, zum Badezimmer. Beth gönnte sich eine erfrischende Dusche, die ihr die Müdigkeit aus den Gliedern wusch. Da wie bei jedem Waschbecken der Warm- und Kaltwasserhahn getrennt und dicht am Beckenrand angebracht waren, mischte sich das Wasser erst im Duschkopf. Ein Wechselbad, mal eher kalt, dann mal wieder heiss. Die Übergänge kamen jäh und unvorbereitet, dass man nicht mehr ausweichen konnte und mitten im eiskalten Wasserstrahl befand sich möglicherweise ein brühheisser. Während sie in der von einem gelblichen Belag verschmierten Wanne stand, vergass sie, den unteren Teil des Duschvorhangs in die Wanne zu legen. Kleine Bäche schäumenden Wassers tropften auf den dicken Teppich, der sich in einem immer weiter ausbreitenden Fleck vollsog und dunkel färbte. Nach wenigen Minuten stellte sie das Wasser ab, schob den Vorhang klirrend zur Seite und stand erstaunt mit einem Fuss in der matschigen Pfütze, die inzwischen bis zur Türe alles durchweicht hatte. Als sie sich mit dem flauschigen Frotteetuch abgerieben hatte, fühlte sie sich besser, legte das Tuch als eine Art Schwamm auf den Boden, schloss auf Zehenspitzen stehend die Badezimmertüre hinter sich. Ihr Blick schweifte durch das kahle Zimmer, auf der Suche nach dem Telefon. Sie hatte das Bedürfnis, im Krankenhaus anzurufen, sich nach dem Zustand von Ulysses zu erkundigen und ihre momentane Adresse zu hinterlassen. Es war wie verhext, nirgends konnte sie einen Apparat entdecken, weder auf dem Nachttischchen noch an der Wand, also zog sie sich an, schloss die Türe und ging diesmal über das Treppenhaus nach unten. Im fensterlosen Gang der Pension war es dunkel. Die Möbelstücke in den Ecken sahen aus wie Menschengebilde, Stühle starrten sie an. Sie schob den Kopf tiefer zwischen die Schultern, sie fröstelte. Im Erdgeschoss war es ruhig, nur der Keeper hantierte leise fluchend an einem Kasten herum und entnahm seinem Inneren einen Besen.

„Sir, gibt es in den Zimmern denn kein Telefon?“ fragte Beth den Keeper entrüstet, der gerade angefangen hatte, in einer kaum zu überbietenden Ruhe den Flur zu wischen.

„Tut mir leid, Madam, aber wenn Sie den günstigen Zimmerpreis betrachten, werden Sie verstehen, dass es uns kaum möglich ist, auch noch eine Telefonzentrale zu unterhalten. Dort hinten bei den Toiletten hat es ein öffentliches Telefon mit Münzeinwurf“, meinte der Keeper etwas aufbrausend, mit der Hand nach hinten weisend und das spitze Kinn auf den Besen abstützend.

Beth warf dem Keeper einen strengen Blick zu. Geräuschvoll legte sie den Schlüssel auf die Theke, verlangte eine Karte mit der Adresse und der Telefonnummer der Pension und machte sich auf den Weg zurück in die Klinik, da sie nochmals, jetzt in den frühen Abendstunden, wo die Krankenhausroutine abflaute, nach Ulysses sehen wollte.

Kapitel 11

Beinahe im gleichen Moment, als Beth sich auf den geräuschvoll herangezogenen Stuhl neben das Bett von Ulysses setzte, schien er aus seinem Koma zu erwachen, sich zu bewegen, zurückzukehren aus dem äusseren Kreis des kleinen Todes. Seine glatten, entspannten Augenlider hielt er geschlossen. Nur der leichte Druck seiner festgehaltenen Hand verriet es ihr, ein zarter Händedruck war es, der ihr Hoffnung auf eine vielleicht doch baldige Besserung gab. Es vergingen endlose Stunden, die sie so dasass. Kreisende, immer wieder gleiche Gedanken suchten sie heim. Draussen war es längst Nacht geworden, nur die Lichter der umliegenden Gebäude schienen durch das vorhanglose Fenster und warfen ihre bizarren Schatten an die kahlen Wände. Im Krankenhaus kehrte langsam Ruhe ein, nur vereinzelte Schritte auf den Gängen und das Schliessen von Türen waren noch zu hören. Ulysses war müde, sehr schwach und hatte ständig das Bedürfnis, oft und in kurzen Intervallen zu dösen oder zu schlafen. Es war ein anderer Schlaf, als damals zu Hause in der Zeit der furchtbaren Depression, er diente nicht nur zum Atemholen zwischen brennenden Schmerzanfällen, die durch starke Medikamente betäubt und ausgeschaltet wurden, sondern war ein Zeichen, den ungleichen Kampf bald beendet zu haben. Sein Ausdruck schien glücklich, frei von Gefühlen, frei von Schmerzen und frei von immerwährender Angst. Der gegebene Augenblick war bitter, und gleichzeitig spürte Beth die tiefe Verbundenheit zu ihrem Mann. Sie hielt seine Hand fester, ein immer stärker werdendes Zittern nahm Besitz von ihren Armen und Beinen, breitete sich in ihrem ganzen Körper aus; ein ergreifender Moment, welcher ihr Tränen in die Augen trieb und sie danach erschöpft im Stuhl zurücksinken liess.

Beth war kurz eingenickt, als sie plötzlich durch eine innere, stechende Unruhe hochschoss, im Moment nicht wusste, was um sie herum passierte. Ulyssess Hand war ihr entglitten, seine blutleeren Finger waren herabgesunken auf die Matratze. Wieder zeterten die elektronischen Überwachungsapparate ihren Alarm über Gänge, und blinkende Lampen pulsierten ihr Licht durch den Raum, als Ulyssess kraftlos gewordenes Herz einfach resignierte, aufgab und aufhörte zu schlagen. Es war ein augenblickliches und stilles Aufhören der Lebensbewegungen, friedlich, schnell und dennoch unwiederbringlich. Die hereinstürmende Nachtschwester und der herbeigerufene Arzt, dessen Stirn von Schweissperlen überzogen war, bemühten sich vergeblich, den geschundenen Herzmuskel zu weiterer Verrichtung seiner Aufgabe zu zwingen. Der Körper resignierte, reagierte einfach nicht mehr. Beth hielt ihre Hand vor den Mund, sie weinte nicht, sie zitterte nur, ihre Stimme erstarb. Dieser stille, plötzliche Tod prägte sich ihr endgültig ins Gedächtnis, mit Schrecken und Grösse und rief ihr in Erinnerung, dass der Mensch weder im Himmel, noch tief im Meer, in einer dunklen Höhle oder irgendwo sonst der Macht des Todes entrinnen kann. Die Erkenntnis, dass alles um sie herum ewig zu sein schien und in dieser Sekunde zerfiel und verging, wich einer jähen Ernüchterung.

Jetzt war sie ganz allein, verlassen, das Haus, die Druckerei, was sollte sie damit? Und Loretta? Nicht einmal Blumen konnte sie ihr ans Grab stellen, da ihr Schicksal noch immer ungeklärt war. Das Personal verliess das Zimmer, schloss die Türe und liess Beth für eine Weile alleine. Sie setzte sich wieder neben das Bett und zweifelte an der Existenz Gottes. Im gleichen Moment erfasste sie eine tiefe Sterbelust. Beth fühlte sich mehr zum Tod als zum Leben hingezogen, sie verlor die Balance, für einen Augenblick nur. Dann aber blickte sie auf Ulysses, sah, wie friedlich er dalag. Seine entspannten Züge bestärkten ihre Hoffnung, dass er jetzt nicht mehr leiden musste. Seine pergamentartige, fahle Haut schien gelblich zu werden, und es sah aus, als verliesse nun seine Seele die ausgetrocknete Hülle des zerfallenen Körpers, fliesse aus und formiere sich, um den Weg einer langen ungewissen Reise anzutreten.

Nach weiteren endlosen Stunden, Beth wurde von Schwestern und Ärzten liebevoll betreut, verliess sie die Klinik, es war bereits hell draussen, und auf den Strassen herrschte das

Alltagschaos. Wie in Trance ging sie zurück in Richtung Altstadt. Innerlich gefasst, kam sie wiederum an diesem grossen Friedhof vorbei, sie wechselte die Strassenseite und stand plötzlich vor einem Bestattungsinstitut, dessen diskretes Äusseres nur mit einem Schriftzug auf der verdunkelten, nach innen undurchsichtigen Schaufensterscheibe darauf hinwies. Beth zögerte einen Moment, fasste sich dann aber doch und ging hinein. Gleich hinter der Türe war ein schwerer, dunkler Samtvorhang kreisförmig angebracht, damit man sich erst an das diffuse Licht gewöhnen konnte. Der winzige Raum dahinter war einzig mit zwei unbequemen Stühlen und einem grossen Schreibtisch bestückt. Dahinter sass ein jüngerer Mann in gepflegter, schwarzer Kleidung, dessen unbewegliches Gesicht aus spitzen Knochen und wettergegerbtem Leder geschnitzt schien. Vertieft in vor ihm liegende Papiere und flankiert von zwei überdimensionalen rosaroten, schmalhalsigen Tonvasen, in denen lange, künstliche weisse Lilien steckten, blickte er kurz auf. Die Vasen verströmten einen penetranten Geruch aus Blütenduftessenzen, der einem die Luft abschnitt. Die Hände reibend, aber ohne jegliche Gesichtsregung sprang der Mann auf, rückte seine glänzende Seidenkrawatte zurecht, machte gleichzeitig einen Bückling und bot Beth einen Stuhl an. Mit einem Gehabe von unangenehm gelangweilter Routine erkundigte er sich nach ihren Wünschen. Tränen spiegelten sich in Beths Augen. Immer wieder stockend erzählte sie dem aufmerksam zuhörenden Mann ihr trauriges Schicksal, dem sie ausgeliefert war und dem sie sich nicht entziehen konnte. Ãœberzeugend sprach der Mann Beth sein tiefstes Mitgefühl aus, versprach, sich um alles zu kümmern, ihr den Gang zu den Ämtern zu ersparen, ihr einfach alles abzunehmen, was in dieser Situation notwendig war. Während er beflissen sprach, überreichte er Beth hilfsbereit eine hochformatige Broschüre, auf der mit dünnen Lettern ‘DIE LETZTEN DINGE ORDNEN’ aufgedruckt war. Fast gleichzeitig öffnete er so ganz nebenbei mit der linken Hand eine Schublade und zog ein bereits vorbereitetes Formular daraus hervor. Er setzte sich Nickelbrille auf und begann die Personalien des Verstorbenen aufzunehmen. Danach zeigte er ihr das Lager nebenan. In einem recht grossen, hohen Raum standen halbgeöffnete Särge auf Holzböcken mit kunstvollen Namen wie ‘Veneziano’ oder ‘Montecelli’. Auf dem Boden und in Regalen bis unter die Decke waren Urnen aus Holz, Ton, Marmor oder Metall, schlichte und reich verzierte, ausgestellt. Beth, einem Zusammenbruch nahe, war nicht in der Lage, einen billigen von einem kostspieligen Sarg zu unterscheiden. Dazu kam das Angebot an Sargwäsche, die einfache aus gerüschtem, schnell verrottendem Papier bis hin zur unverwüstlich gesteppten, byzantinischen Seidenausstattung oder gar der grauroten aus Brokat mit Renaissancemuster. Als der schwarz gekleidete Mann auch noch danach zu fragen begann, was denn der Tote anhaben sollte, ob etwas Eigenes vorhanden sei, Schlafanzug, ein Hemd oder ein schwarzer Anzug, da wurde es Beth speiübel. Sie hielt ihre Hand vor den Mund, drehte sich um, liess den verdutzten Mann einfach stehen und verliess eilig das Geschäft.

Betäubt ging sie ein paar Schritte. Beth lehnte sich an eine kalte Mauer, erschöpft und zittrig. Sie wischte sich erst einmal die Tränen aus dem Gesicht. Danach öffnete sie ihre Tasche und durchwühlte diese nach einem Taschentuch. Mit einem Male fiel ihr die immer schwerer werdende Tasche aus der Hand und klatschte mit der Öffnung nach unten auf den Boden. Der gesamte Inhalt purzelte, klirrte und kugelte über den schmutzigen Asphalt. Ihr herausgefallenes Portemonnaie sprang auf, und ein Erdrutsch kleiner, beinahe gewichtloser Münzen ergoss sich über den Gehsteig. Einige richteten sich auf, wollten sich selbständig machen und rollten aufrecht stehend in alle Richtungen. Als sich Beth anschickte, ihre wenigen zerstreuten Habseligkeiten wieder zusammenzuraffen, sprangen sofort einige Passanten herbei und machten sich eifrig bückend daran, die ausgerissenen Münzen wieder einzusammeln. Ein hilfsbereiter Jugendlicher mit einer auf der pickligen Nasenspitze klebenden Hornbrille hatte nebst den Münzen auch noch ein Stück Papier aufgehoben, welches er Beth strahlend, die gelben Zähne fletschend, überreichte. Als sich die Situation wieder etwas beruhigt hatte und der auf sie aufmerksam gewordene Menschenstrom wieder sich selbst zuwandte, fiel ihr Blick auf das kleine, quadratische Stück Papier in ihrer Hand. Es war die Visitenkarte des Professors, die er ihr damals, kurz vor dem Betreten des Hauses, zugesteckt hatte. Sie las den Namen und die Adresse mehrmals, überlegte. Lange stand sie so da, ihr durchsichtiger Blick zeigte, wie sehr sie grübelte. In ihrer Leere, Trauer

und Hoffnungslosigkeit kam sie auf eine sonderbare Idee. Sie lief weiter die belebte Strasse entlang, ohne den Pulk von strömenden Menschen zu beachten und suchte nach einer Telefonzelle. Aus einer Bäckerei an der Ecke drang der Duft von frischem Brot. Eher unbeabsichtigt streifte Beths Blick beim Gehen die Auslagen der Geschäfte. In einem der unzähligen Schaufenster lagen dicke, fettumrandete Fleischstücke in ihrem blutigen Saft, bedauernswerte, in einem tangbelegten Korb noch lebende, übereinanderkrabbelnde Schalentiere, magere, an den Füssen baumelnde, nackte Hühner mit erloschenen Augen, darunter ein sauber abgetrennter Schweinskopf auf einem silbernen Teller präsentiert, die Ohren mit frischer Petersilie geschmückt. Zwischen den Geschäften immer wieder enge Schnellimbissbuden, die wie düstere Schläuche in den dicken Gemäuern lagen und aus denen wildes, babylonisches Stimmengewirr vermischt mit ätzenden Gerüchen von gebratenem, scharfgewürztem Hammelfleisch stach. Gleich daneben ein Trödelladen, vor dessen abgenutzter Türe ein ausgeschlachtetes Radio stand. Vor diesen bunten und manchmal grotesk anmutenden Schaufenstern immer wieder übelriechende Menschen mit lachenden Gesichtern, gelangweilten Gesichtern, gierigen Gesichtern, Haigesichtern. Dann endlich, in der Nähe eines riesigen Hotels, auf dessen gläsernem Eingang Fähnchen aus fernen Ländern sich um deren Mast windeten, sah Beth eine der leuchtend roten Telefonzellen und klaubte einige Münzen aus ihrer Tasche. Mit zittrigen Fingern steckte sie sie in den Schlitz des Apparates und wählte hastig die Nummer, die auf der Visitenkarte stand. Es dauerte einige Zeit, bis der Professor sich meldete; er war etwas überrascht, jedoch keineswegs abweisend. Er erkannte Beth sofort an der Stimme und hörte sich an, welches Leid ihr das Schicksal angetan hatte. Der Professor war eine Weile sprachlos und betroffen, dann aber lud er Beth ein, doch hinaus zu seinem Haus zu kommen, damit man das Weitere in Ruhe besprechen konnte.

Etwas erleichtert, jedoch mit gemischten Gefühlen stellte sie sich entschlossen an den Strassenrand, winkte mit der erhobenen Tasche einem vorbeifahrenden Taxi, das sogleich hielt. Beth liess sich auf den schmutzigen, abgerittenen Rücksitz fallen, zeigte dem Fahrer die Visitenkarte mit der Adresse und liess sich schweigend hinaus zum Haus des Professors fahren. Das Taxi, ein uraltes Vehikel mit einer knalligen Lackierung und abgefahrenen Reifen, roch nach Rauch und Erbrochenem. Der Fahrer, dessen weit offen stehendes Hemd eine unbehaarte Brust und einige mit schweren Amuletten behängte Ketten entblösste, warf ständig mürrisch wirkende Blicke in den Rückspiegel, den er fortwährend verdrehte und in regelmässigen Abständen wieder richtig einstellte. Mit einem seiner knorrigen Finger, an dem ein billiger Totenkopfring blitzte, strich er sich die schmierigen Haare über die viel zu grossen Ohren. Die zu Schlitzen verengten Augenpaare beobachteten Beth argwöhnisch und beinahe ununterbrochen. Der Kerl blieb aber Gott sei Dank stumm. Sein stockender, rüpelhafter Fahrstil war eine Zumutung, und Beth musste sich vor jeder Kurve am Griff über dem Fenster festhalten, um nicht gegen die vertappte Scheibe zu prallen. Ihre Augen dagegen hafteten auf der Anzeige des Taxameters, dessen schmale Ziffern in rasantem Tempo wechselten. Schnell griff sie in die geöffnete Tasche und zählte diskret das restliche, ihr noch verbliebene Geld.

Kapitel 12

Einmal mehr stand Beth vor dem schmucken Manor House Professor MacBeatons, dessen Dachvorsprung silberne Schattenrisse auf die nasse Fassade warf und das ihr in diesem Moment so seltsam vertraut, beinahe heimisch erschien. Dicke, schwarze Wolken verdeckten den Himmel, und es regnete unermüdlich. Zitternd hielt sie ihre Hand wie einen Kelch in den niederprasselnden Regen und betrachtete das hineinplätschernde, durchsichtige Nass, das sich darin sammelte. Dunkelbraune, von einigen grauen Strähnen

durchsetzte Haare hingen ihr wirr ins regennasse Gesicht, die sie mit gespreizten Fingern nach hinten kämmte. Ihre beinahe blicklosen Augen waren weit aufgerissen. Beth zitterte vor Kälte, Nässe und Ungewissheit in ihrer dürftigen, eng anklebenden Bekleidung und den aufgeweichten Halbschuhen. Dann schweifte ihr Blick wieder langsam hinüber zum Haus, zum Eingang. Sie sah den Professor bereits oben in der offenen Türe stehen, ein erwartungsvolles, vertrauenerweckendes Lächeln aufgesetzt. MacBeaton wusste, was zu tun war, schritt die wenigen langgezogenen Stufen der Treppe hinab und kam Beth entgegen. Die feinen Regentropfen legten sich wie silbriger Staub auf sein Jacket. Er hielt ihre Hand, schaute ihr tief in die Augen, es war, als sehe er ihren Schmerz und ihre Verzweiflung darin geschrieben.

„Madam, bitte kommen Sie doch ins Haus. Hier können Sie doch nicht stehenbleiben. Ausserdem sind Sie bereits ganz durchnässt“, antwortete MacBeaton auf ihr erstes, angstvolles Gestammel hin, fasste sie mit behutsamer Bestimmtheit am Arm und führte Beth ins Haus.

„Herr Professor, ich muss mich schon wieder bei Ihnen entschuldigen, dass ich Sie so unerwartet mit meinen Problemen überfalle, aber ich wusste im Moment einfach nicht mehr weiter ...“, entgegnete Beth weinerlich.

„Aber ich bitte Sie, Madam, ich habe natürlich Verständnis für Ihre Situation, und ich fühle mich geehrt, dass Sie sich mir anvertrauen“, unterbrach der Professor Beth, während sie langsam durch die Halle gingen.

Er bot Beth den gleichen Platz an, an diesem riesigen Tisch, wie damals, als sie mit Ulysses das erste Mal hier war. Sie liess sich auf einen Stuhl fallen, schlaff und formlos, stützte ihr regennasses Gesicht in die Hände, wischte sich wiederum die lästigen Strähnen aus der Stirn, und es war, als schauten die fast erloschenen Augen durch das fasergezeichnete Holz der Tischplatte hindurch in eine ferne, nicht erkennbare Welt.

„Würden Sie mir erlauben, noch einmal hinunterzugehen?“ drängte Beth, zögernd die Stille brechend, da sie die Ungewissheit über Lorettas Schicksal einfach nicht mehr aushielt und sich endlich Klarheit verschaffen wollte.

„Wo hinunter meinen Sie, Madam?“ fragte MacBeaton erstaunt und ahnte bereits was kam.

„In Ihren Keller. Im Moment ist es mir einfach unmöglich, Ihnen das Ganze zu erklären; obwohl ich es Ihnen schuldig wäre. Ich stehe unter einem inneren Zwang, der mich seit einiger Zeit Tag und Nacht bedrängt und nicht mehr loslässt. Es wäre sehr wichtig für mich ... bitte ... vertrauen Sie mir“, versuchte Beth überzeugend zu erklären.

„Selbstverständlich, Madam, wenn Sie unbedingt möchten“, willigte der Professor ein, obwohl er doch recht erstaunt über den Wunsch Beths war und es sich im Grunde selbst zuzuschreiben hatte, dass er damals alles so freizügig gezeigt hatte. Sie standen auf, der Professor wies mit der Hand zum Gang, während er mit dem Kopf eine leichte Verbeugung machte.

Nachdem Beth und MacBeaton wieder hinabgestiegen waren, zu dem Keller, erschien er ihr anders, schäbiger und düsterer, und dennoch war ihr Herz nahe am Zerspringen. Erst jetzt bemerkte Beth die an den Wänden hängenden, fragilen Totenmasken, dreidimensionale graue Moulagen, gegossen aus Naturharz und Wachs, die jede auch noch so unscheinbare Einzelheit eines vergangenen Antlitzes für immer festhielten. Wieder sah sie die vielen Sarkophage in dieser riesigen Halle, nur diesmal standen sie sternförmig, die nach aussen gewinkelten und nur durch das Glas getrennten Füsse der Leichen berührten sich fast, bildeten einen Kreis. Beth ging langsam, zögernd und herzklopfend auf das magisch

wirkende Gebilde zu, schritt es ab, wie bei einer Parade, blieb an jedem Kopfteil des jeweiligen Sarkophages einen Augenblick stehen und betrachtete die anmutig darin liegende Person bedächtig. Dann passierte es ... Unter Aufbietung all ihrer kümmerlichen Kraftreserven ging Beth stockend zum nächsten Glassarg. Sie zwang sich, durch die klebrige Dunkelheit hinabzusehen zum Gegenstand ihres Entsetzens.

Ihre Vorahnung bestätigte sich nun voll: Loretta. Es war, als hätte sie es längst gewusst, als wäre sie unabdingbar gewesen, diese ernüchternde Konfrontation mit der Wirklichkeit. Taumelnd hielt sie sich an den verzierten Metallgriffen des Sarges fest, rang japsend nach Luft, musste einige Male tief atmen, wurde bleich. An einer Stelle ihres rechten Oberarmes begannen einzelne Muskelgruppen unkontrolliert zu zucken, man sah, wie die fahle Haut bebte, fehlgeleitete Reize, Impulse, die ihren Bestimmungsort nicht erreichten und sich schliesslich irgendwo auf ihrem Weg entluden. Als der Professor Beths Zustand bemerkte, sprang er hilfsbereit zu ihr hin und stützte sie unten den Armen. Als Beth nach einiger Zeit langsam zu sprechen begann und dem Professor in die Augen blickend offenbarte, dass es sich hier um ihre unglückliche Tochter handle, da wurde auch ihm ganz flau, er konnte es gar nicht glauben, wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Diese peinliche Situation raubte auch ihm fast den Atem. Erst als Beth ihm mit verzeihendem Unterton mitteilte, dass er ja eigentlich keine Schuld am Tod ihrer Tochter hätte und sie sich im Moment keinen schöneren Aufbahrungsort vorstellen könne, zumal die Verletzungen in Lorettas Gesicht perfekt kaschiert worden waren und sie eigentlich direkt hübsch, anziehend und friedlich schlafend wirkte. Dieses illusorische Bild, vermischt mit Erinnerungen von früher, prägte sich tief in Beth, und sie bat den Professor eindringlich, indem sie ihm freundschaftlich die Hände hielt, hinaufgehen zu dürfen, um ihm einen Vorschlag zu unterbreiten. Sie setzten sich wieder an den Tisch, der Professor servierte Beth einen alten Brandy, den sie dankbar annahm und in einem Zuge leerte. Der Alkohol wärmte ihren Magen, brachte das Blut in Wallung, und ihr Gesicht bekam wieder etwas Farbe. Es folgte ein langes, bis tief in die Nacht dauerndes Gespräch. Dazwischen entschuldigte sich der Professor für einen Augenblick, setzte sich seine Brille auf, holte ein schwarzledernes Adressbuch aus der Innentasche seines Jackets und ging hinaus auf den Gang, um zu telefonieren.

In dieser kaltschwarzen, mondlosen Nacht, wo die ersten feuchtgrauen Nebelschwaden dampfend über die Wiesen krochen, verschwand wiederum eine Leiche aus dem Kühlraum der Universitätsklinik, nur war es diesmal, entgegen aller bisherigen Gepflogenheiten der Leichendiebe, eine männliche.

Beth und der Professor standen mitten in der Nacht mit hochgezogenen Schultern, die Arme zum Schutz gegen die Kälte über der Brust verschränkt, auf der windigen Veranda. Sie blickten nervös abwartend zur Strasse, als endlich gegen Morgen ein Leichenwagen langsam, die verchromten Scheinwerfer löschend, auf sie zurollte und mit leise schleifenden Bremsen vor dem Haus hielt. Bedächtig schritt der Professor die Stufen der Treppe hinab, ging mit langen Schritten auf den Wagen zu, öffnete die Hecktüre und zog die dahinterliegende Bahre, auf der ein mit einem Tuch zugedeckter Toter lag, an den Handgriffen ein Stück heraus. Er griff sich den am Zeh der Leiche baumelnden Zettel, drehte ihn um, las ihn mit einem befriedigten Gesichtsausdruck und nickte Beth zu. Mit einem blechernen Knall schloss der Professor die Türe, steckte dem Fahrer mit einer kurzen Anweisung etwas zu, dann wurde der Motor des Wagens wieder angelassen, obwohl man hinter dem verdunkelten Glas niemanden erkennen konnte. Nur das leicht knirschende Rauschen unter den Rädern war zu hören, als sie langsam über den ausgewaschenen Kies hinwegglitten. Dann fuhr das Auto hinter eine Hecke und hielt beim breiten, ebenerdigen Hintereingang des Hauses, um sich rasch seiner Ladung zu entledigen. Danach verschwand der Wagen genau so unauffällig, wie er gekommen war.

Wiederum folgte Beth dem Professor in den Keller, wo er seinen Neuzugang routiniert von der Bahre auf den freigemachten Seziertisch rollte und die Decke entfernte. Mit eher gemischten Gefühlen trat Beth ganz nahe an den Tisch, blickte abwechselnd auf Loretta und

Ulysses. Plötzlich erfasste sie eine unsägliche Übelkeit. Ein lähmender Schmerz durchzog ihre linke Körperseite vom Arm bis zu den Beinen. Mit der Hand hielt sie krampfhaft ihre Brust, als könne sie sich damit von dem zangenartigen Druck, der ihr Herz zu erdrücken schien, befreien. Die andere, ausgestreckte Hand suchte Halt, wischte den auf der äussersten Kante des Tisches stehenden, bis oben mit reinem Alkohol gefüllten Glasbidon über den Rand auf den Boden, wo er berstend zersprang. Eine sich schnell verflüchtigende Flut ergoss sich über den Grund, schoss in rasendem Tempo in alle Ecken, umspülte die unter den Sarkophagen verlaufenden Stromkabel. Der kleine, zischende Kurzschluss mit dem blauen Fünkchen, der aus einem der unzähligen Verbindungsstecker züngelte, war kaum zu sehen. Im gleichen Moment entzündete sich der mit Sauerstoff vermischte Alkohol mit einem explosiven Knall und einer sich bis zur Decke ausstreckenden Stichflamme, die alles, was sich ihr in den Weg stellte, als rotierende Feuersäule umhüllte, aushöhlte und auffrass. Andere, in der Nähe stehende Behältnisse mit sich ausdehnenden Chemikalien begannen zu schäumen, explodierten in der enormen Hitze, nährten das Inferno. Scheiben klirrten, messerscharfe Glassplitter flogen wie Geschosse nach allen Seiten durch den Keller, die gläsernen Hauben der Sarkophage platzten, die hölzernen Untersätze brannten lichterloh, fielen in sich zusammen, die darin liegenden Leichen bogen und bäumten sich durch die Hitze ein letztes Mal auf, die Körperhüllen schmolzen wie laue Milch von den Knochen, die Skelette zeichneten sich ab, fluoreszierten. Dann, nach nur kurzer Zeit, fand das gierig wütende Feuer keine Nahrung mehr, ebbte ab, zog sich zurück, erstarb, und alles war vorbei.

Draussen vor dem Manor House herrschte eine gespenstige Ruhe. Nur einige russige, kaum sichtbare, dünne Rauchfahnen stiegen aus den geborstenen, schmalen, unter Gittern verborgenen Kellerfenstern und krochen die Hauswände empor zum Dach, wo sie sich einrollten, den rotbraunen Schamott des Kamins umkreisten und hartnäckig an den Ziegeln kleben blieben. Ein zarter Windhauch entlockte den Bäumen graubraune bis tiefrote Laubschauer, deren einzelne Blätter sich tanzend über die von Reif überzogenen borstigen Grashalme legten, sie zudeckten. Die goldene Herbstsonne streichelte über die Landschaft. Sie projizierte, unterstützt durch schwarzumrahmte Wolkenfetzen, die sich wie auseinandergezettelte Wattebäusche nebeneinander rasch über den geronnenen Himmel bewegten, ein kontrastreiches, schnelles Wechselspiel der Farben. Ein kreischendes, sich ständig veränderndes Wolkengebilde schwarzer Saatkrähen näherte sich von Westen, umschwärmte das Anwesen. Dichtgedrängt verharrten die grossen Vögel mit den blitzenden Augen wie Scharen von Totengräbern auf dem Dach des Hauses und den umliegenden Baumkronen. Mit nach hinten gelegtem Kopf schlossen sie die Augenlider, sträubten ihr irisierendes Gefieder, öffneten die gewaltigen Schnäbel und stimmten ein Klagelied an, das anschwoll zu einem unerträglich werdenden Schrei.

 

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