Mondrosen
Exakt in dem Moment, wo die Sonne mit ihrer schwelenden Glut die fahle Mondsichel entzündete, um danach hinter den langgezogenen Hügelketten zu verschwinden, ging der alte Labry hinaus in den Garten zu seinem gläsernen Gewächshaus. Mit der Leiter stieg er hinauf, zog mit routiniertem Geschick die schwarz gefärbten Segeltücher von den schrägen Glasflächen, die tagsüber dem Sonnenlicht jeglichen Zutritt verwehrten und band diese am First zusammen. Mit einem überdimensionalen Schlüssel hantierte er an der Türe zum Gewächshaus, schloss sie auf und huschte hinein. Mit seinen dürren Fingern öffnete er einige der angerosteten Behälter, nahm Stücke der seltenen Alraunwurzel heraus, gab granulierte Galbanharze und Ambra dazu und legte alles in ein zerkratztes Messinggefäss. Kraftvoll, mit hochgezogenen Schultern und nahe am Tisch stehend, zerstiess er die Ingredienzen solange mit dem Mörser, bis ein feines Pulver daraus wurde. Monsieur Labry roch an dem Gemisch und streute es vorsichtig in die schwarze Moorerde seiner Rosenstöcke. Danach goss er ein wenig abgestandenes Wasser, in dem zerbrochene Eierschalen schwammen, über die Erde. Zusammen mit dem Dünger färbte sich das Wasser blutrot.
Ja wirklich, jetzt bei zunehmendem Mond waren sie wieder ein ansehnliches Stück gewachsen, die Knospen wurden dicker, die Stiele kräftiger, dachte Monsieur Labry mit seinem spitzen Kinn und der hervorstehenden Stirn zufrieden und lächelte. Es wurde rasch dunkel. Der marmorierte Mond grinste hämisch vom blauschwarzen Firmament, entwickelte seine spirituelle Kraft, die auf die Rosen einwirkte bis zum frühen Morgen. Dann wurde es Zeit, die Segeltücher zu lösen und wieder über das Gewächshaus herunterzuziehen.
Wenige Nächte vor Vollmond entwickelte die Strahlung ihre volle Intensität, die prallen Knospen der Rosen schienen zu platzen. In einer klaren Nacht, wo unzählige Sterne wie abgesprengte Monde am schwarzen Himmel funkelten, gingen sie auf. Die zarten Blätter entfalteten sich, zeigten ihre samtigen Flächen mit kunstvollen, beinahe fluoreszierenden Zeichnungen in ganz neuen, ungewohnten Farbtönen. Der ausströmende Duft war schwer, betörte und schlug alles in seinen Bann. Monsieur Labry schaute hinauf zur leuchtenden, nackten Kugel des Mondes. Vereinzelte Wolken zogen wie hauchdünne Seidenschleier darüber hinweg. Jetzt nahm er sein Messer und schnitt mit einigem Feingefühl die Rosen über der Erde ab, eine Handbreit nur. Bei jedem Schnitt, den er schnell und gekonnt ausführte, verzerrte er das Gesicht wie unter Schmerzen; es war, als führte er die scharfe Klinge gegen sich selbst. Behutsam legte er die entwurzelten Stiele mit den schweren Köpfen in den länglichen Weidenkorb. An den Schnittflächen bildete sich ein klebriger Tropfen, der wie eine milchige Träne am dornenlosen Stiel herunterlief, auf der Erde einen zähen Blutstropfen bildete und gleich darauf versickerte.
Bereits vor Sonnenaufgang stand Monsieur Labry wie jeden Tag auf dem Marktplatz, richtete seinen Stand ein. Neben selbstangerührten Heilsalben, auf die Wetterfühlige schworen, verkaufte er auch immer wieder seltene Heilkräuter und kleine geschnitzte Wurzelstrünke, die seltsame Figuren darstellten. Auf dem einfachen Holztisch stand auch der Kübel mit seinen herrlichen Rosen. Wieder zog der schwere Duft um den Stand, lockte die ersten Kunden an, deren neugieriger Blick an den Blumen haftenblieb. Schon nach kurzer Zeit waren alle Rosen verkauft. Monsieur Labry rieb sich die schwieligen Hände, war sichtlich zufrieden und strich sich über die weissen, viel zu langen, strähnigen Haare.
Madame Anaïs, die pensionierte Lehrerin, die jeder im Dorf, hatte einen Bund der Rosen gekauft. In einer zierlichen Biedermeiervase, die wegen der langstieligen Blumen beinahe die Balance verlor, stellte sie den leuchtenden Strauss auf den leeren Nachttisch im Schlafzimmer. Abends legte sich Madame Anaïs wie gewohnt zeitig ins Bett und blickte stumpf gegen die Decke. Der aufdringliche, ja penetrante Duft der Rosen verschlug ihr beinahe den Atem. Gleichzeitig spürte sie aber eine geheimnisvolle Kraft, die von den Blumen ausging. Sie betrachtete misstrauisch und ungläubig ihre gichtgeplagten Hände. Die Schmerzen waren mit einem Male verschwunden, wie weggeblasen. Sie drehte sich auf die Seite, ohne die gewohnten Schmerzen im Rücken. Eine wohlige Wärme durchströmte ihren greisen Körper. Bald schlief sie ein, träumte Dinge, die sie am Morgen nachdenklich stimmten, sie verwirrten. Madame Anaïs blickte zu ihren Rosen, erschrak. Die Köpfe hingen kraftlos am verdorrten Stiel. Einzelne Blätter lagen blass wie Pergament am Boden, ausgetrocknet und farblos. Der Duft von gestern war umgeschlagen in faulenden Gestank und der so leicht vergessene Schmerz kehrte zurück in Hände und Rücken.
Enttäuscht, die stinkenden Reste der Rosen in Zeitungspapier eingewickelt, machte sich Madame Anaïs noch vor dem Frühstück auf und ging hinunter zum Markt, wo bereits buntes Treiben herrschte. Direkt über ihr glitten zwei schreiende Schwäne wie weisse Pfeile vorüber und verschwanden hinter den Dächern der engen Häuserreihen. Um den verwaisten Stand von Monsieur Labry bildete sich eine immer grösser werdende Menschentraube, die aufgeregt tuschelte. Madame Anaïs mischte sich unter die Leute. Sie erfuhr, dass man Monsieur Labry in den frühen Morgenstunden gefunden hatte, tot und inmitten seiner geliebten Rosen. Er sei noch am Abend mit der Leiter durch das Glasdach seines Gewächshauses gestürzt.