Neue Folgen, News und weitere Stories auch auf http://s-hilgert.blogspot.com || Als das Inistra-Team einen Planeten besucht, der in der Datenbank als "interessant" gekennzeichnet ist, wartet eine ungewöhnliche Überraschung auf sie...
“Haben wir schon Nachricht vom Planeten Amzama?”
Captain Mike Hedgefield stand ungeduldig in seinem Büro am Kopfende des Konferenzraums. Mary Lu Rosenthal schüttelte den Kopf.
„Noch nichts. Aber sie hatten angekündigt, dass es etwas dauern könnte, und wir sind ja erst vor ein paar Tagen da gewesen.“
Hedgefield seufzte.
„Seltsamer Planet“, murmelte er.
„Wieso?“
„Na dieser ganze Frauenzirkus,“ setzte der Captain an, unterbrach sich aber, als er Mary Lus hochgezogene Augenbrauen sah.
„Verstehen Sie mich nicht falsch, Doktor, ich habe kein Problem mit Frauen in Führungspositionen. Ich habe immerhin eine Tochter, von der ich hoffe, dass einmal großes aus ihr wird.“
„Aber?“
„Was ich meine ist der Zirkus, den die Männer darum machen. Ich meine diese geradezu sklavische Devotheit. Die stört mich…“
Mary Lu grinste.
„Aber Captain, Sie wissen schon, dass es so etwas durchaus auch auf der Erde gibt, oder? Oder ist Ihnen das Wort Domina etwa kein Begriff?“
„Doch schon, aber das muss ja nicht heißen, dass ich diese moralisch ziemlich zwielichtigen Sachen auch gut finden muss.“
Mary Lu lachte. Sie wollte gerade etwas erwidern, als ein Funkspruch sie unterbrach.
„Captain, hier ist Dr. Gerhard Lieb von der Datenverarbeitung. Wir haben in der Datenbank einen weiteren Planeten gefunden, der Interessant sein könnte.“
„Ausgezeichnet, wir kommen sofort!“, rief der Captain in sein Funkgerät.
Unterwegs hatten sie noch Jan Ferden und Sergeant Ray Charleston verständigt, sodass sie jetzt zu fünft vor den beiden riesigen Monitoren an Liebs Arbeitsplatz standen.
„Erdähnliche Bedingungen, wie es scheint,“ erklärte der Deutsche, „Atmosphärenzusammensetzung, Temperatur, Druck, Schwerkraft, alles im grünen Bereich.“
„Gibt es irgendeine Form von Beschreibung für diesen Planeten?“, fragte Mary Lu interessiert. Lieb schüttelte den Kopf.
„Nichts. Allerdings existiert eine Notiz des Biologischen Labors, dass es auf dem Planeten eine ‚interessante Lebensform‘ gäbe.“
„Was heißt interessant?“, schaltete sich der Captain ein.
„Keine Ahnung, dazu steht hier nichts.“
„Klingt doch nach einem Grund sich da mal umzusehen“, befand Jan, der bisher schweigend dagestanden hatte. Der Captain nickte und drehte sich zu Sergeant Charleston.
„Rufen Sie eins ihrer Teams zusammen. Dr. Ferden, holen Sie Dr. Lunovitch. Wenn da immer noch eine so interessante Lebensform vorkommt, sollte er sich das vielleicht mal ansehen.“
Jan nickte und verschwand auf den Gang hinaus in Richtung biologisches Labor. Sergej Lunovitch war der Leiter des biologischen Labors, ein knapp dreißig Jahre alter Russe mit von der Kälte hell gefrorenem Haar. Jahrelang hatte er im Auftrag der russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos in Sibirien und im Nordpolarmeer nach den seltsamsten Lebensformen gesucht, bis er zum Albagan Projekt einbestellt worden war. Er galt als einer der führenden Forsche auf dem Gebiet er resistenten und seltsamen Lebensformen, die an den unwirtlichsten Enden der Welt vorkamen – und damit möglicherweise auch auf fremden Planeten.
„Sergej!“, brüllte Jan, als er in das Labor eintrat. Keine Antwort. Noch einmal, „Sergej!“, diesmal etwas lauter. Plötzlich ruckte irgendwo in dem Gewirr aus Regalen, Schaugläsern und Arbeitstischen ein bebrillter Kopf hoch.
„Da?“
„Komm raus, wir machen einen Ausflug,“ rief Jan ihm entgegen, während er sich einen Weg durch das Labyrinth bahnte,
„Aber ich bin mitten in Arbeit!“, empörte sich der Russe mit seinem dunklen, russischen Akzent.
„Egal, der Chef hats befohlen, wir reisen auf einen Planeten, den die Chibigo mit ‚hat interessante Lebensform‘ gekennzeichnet haben.“
„Was für ‚interessante Lebensform‘?“
Jan zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung, deshalb sollen wir ja nachsehen.“
Knapp eine Stunde später standen sie alle vollständig eingepackt in der Portalhalle und beobachteten die Albagan-Verbindung, die sich mit hörbarem Summen aufbaute.
„Wie heißt der Planet eigentlich, den wir hier besuchen wollen?“, fragte Jan in Runde, während er sein Funkgerät am Gürtel befestigte.
„Einen richtigen Namen scheint der Planet nicht zu haben, es scheint als habe man ihn entdeckt, kurz bevor die Stadt verlassen wurde. Obwohl ich kaum glaube, dass die beiden Ereignisse in irgendeiner Verbindung zueinander stehen.“
Rosenthal blickte auf die kleine Anzeige, die den Verbindungsfortschritt anzeigte. Fast fertig.
„Der Adressteil für den Planeten ist KN04GT, ich schlage vor den Planeten so zu nennen, bis wir hoffentlich auf Einheimische treffen, die uns den richtigen Namen verraten können.“
Der Captain nickte.
„Gute Idee.“
Mit einem letzten Surren wurde die Verbindung hergestellt.
„Na dann, auf nach KN04GT“, rief Jan und ging voran.
Auf der anderen Seite erwartete sie die reinste Wildnis. Hohes Gras umwuchs das Albagan, und die Säulen der Projektoren waren zum Teil von Ranken überwachsen. Dicke Laubbäume wuchsen wild gemischt mit tropisch aussehenden Ranken und dünnastigen Sträuchern mit giftgrünen Blättern. Ein leicht modriger Geruch hing in der feuchten Luft.
„Hier müsste mal der Rasen gemäht werden“, befand Jan leicht naserümpfend.
„War ja klar, dass Sie als erstes hier für Ordnung sorgen wollen“, lachte Rainy Charelston.
„Wieso typisch?“
„Na, ihr Deutschen seid doch sonst auch so Ordentlich…“
Rosenthal lachte.
„Dann schau besser nicht sein Labor, Rainy, jedenfalls nicht wenn du das Risiko nicht eingehen willst rückwärts wieder rauszufallen!“
Der Sergeant seufzte. Inzwischen hatte sein Spitzname die Runde gemacht, und war von allen angenommen worden, mit denen er sich halbwegs gut verstand. Jedenfalls unter den Zivilisten, bei den Sicherheitskräften bestand er auf seinem Rang, damit nicht alles drunter und drüber ging.
„Also was ist jetzt mit der interessanten Lebensform, von der Lieb gesprochen hat?“
Jan blickte sich suchend um. Aber soweit das Auge durch das Dickicht reichte, man sah keine Spuren von Zivilisation.
„Dr. Lunovitch, haben Sie schon etwas gefunden?“, wandte sich der Sergeant an den Biologen.
„So schnell geht das nicht,“ antwortete der Russe, „ich muss erst Proben nehmen, und die im Labor untersuchen. Fürchte ich, denn ich sehe nix interessante Lebensform.“
„Vielleicht finden wir ja was, wenn wir ein bisschen Suchen?“, schlug Mary Lu vor. Rainy nickte. Er deutete auf vier seine Männer und befahl ihnen eine Schutzzone um das Albagan einzurichten, für den Fall, dass ein schneller Rückzug von Nöten sein würde.
„Falls wir uns in zwei Stunden nicht gemeldet haben, bauen Sie eine Verbindung nach Inistra auf und fordern Sie Verstärkung an.“
Die vier salutierten, und der Rest der Gruppe machte sich auf den Weg. Mit Macheten bahnten die Vorangehenden Marines einen Weg durch das Unterholz. Unterwegs trafen sie immer wieder auf kleine Vögel oder dünne Schlangen, aber nichts, dass auf den ersten Blick einen Eintrag in der Hauptdatenbank Inistras gerechtfertigt hätte.
Was sie allerdings nicht sahen, waren die dünnen weißlichen Fäden, die zum Teil das Gras durchzogen, und sich hinter ihnen von den Bäumen herabspannen.
Irgendwann erreichte die Gruppe eine kleine Lichtung, von geschätzten zehn Metern Durchmesser, auf der auch das Gras niedriger war.
„Na, etwa doch ein Zeichen von Zivilisation?“, fragte Jan, nachdem sie auf der Mitte der Lichtung Rast machten.
„Nur weil jemand den Rasen gemäht hat?“, fragte Mary Lu spöttisch.
„Man wird ja noch hoffen dürfen“, grummelte Jan und packte einen Energieriegel aus.
In Moment machte einer der Marines eine seltsame Wandlung durch: Unbemerkt spannten sich rasend schnell die kleinen dünnen Fäden über seine Schuhe, die Schäfte hinauf und durch einen winzigen Riss in seiner Hose an seine Beine. Lieutenant Jeffrey Hall spürte nicht einmal einen Stich, als sich die Fäden, zu einem einzigen Zusammengeflochten, durch seine Poren Zutritt in seinen Körper verschafften. Binnen Sekunden infiltrierte der mikroskopische Faden das Nervensystem und bahnte sich einen Weg bis hin zum zentralen Nervensystem im Rückenmark. Dort entflocht sich der Strang wieder und verteilte sich unbemerkt durch den ganzen Körper, während der dickste Teil sich den Weg zum Gehirn bahnte. Nur Augenblicke später hatte sich Lt. Halls Organismus so verändert, dass er wie am Tropf an diesen weißen Fasern hing. Aber da war sein Gehirn schon so umstrukturiert, dass er nichts mehr davon mitbekam.
Jan sah nur aus dem Augenwinkel, wie Halls Augen sich weiteten, während seine Motorik sich sichtlich versteifte. Fast regungslos stand der Soldat da, und sah mit scheinbar leerem Blick umher. Jan runzelte die Stirn. Fast sah es so aus, als ob Hall die Lichtung zum ersten Mal sah.
„Lt. Hall, alles in Ordnung?“, fragte er, doch Hall reagierte nicht. Der Sergeant drehte sich nun ebenfalls um.
„Hall,“ fragte er, „geht es Ihnen gut?“
Als Hall noch immer nicht reagierte, stand Charleston auf und rüttelte ihm an der Schulter.
„Hey, alles beisammen?“
In dem Moment griff Hall rasend schnell nach der Hand seines Vorgesetzten und hob sie von seiner Schulter. Der Sergeant guckte verdutzt.
„Lieutenant, lassen Sie sofort meine Hand los“, befahl er.
„Ich bin nicht Hall“, sagte der Soldat plötzlich mit monotoner Stimme. Alle erstarrten mitten in der Bewegung. Die Marines zückten ihre MP5s.
„Wer sind Sie dann, wenn nicht Lt. Hall?“, fragte Charleston unruhig. Ihm schwante, dass sie gerade Bekanntschaft mit der seltsamen interessanten Lebensform machten.
„Wir sind die Alten Herren der Welt.“
„Die Herren dieser Welt? Das trifft sich ja gut, wir waren gerade auf der Suche nach jemandem, der uns helfen kann“, sagte der Sergeant und versuchte seine Hand aus der Umklammerung Halls zu befreien. Vergeblich.
„Wir wissen. Ihr nennt euch Menschen und versucht die Fuetron zu besiegen. Sie sind mächtig. Ihr seid es nicht. Ihr werdet verlieren.“
„Das ist ja schön, dass ihr das alles wisst, aber wir versuchen Verbündete zu finden, eben um die Fuetron zu besiegen.“
„Wir wissen. Wir wissen alles, was dieser, den ihr Hall nennt weiß. Wer werden euch nicht helfen. Wir haben kein Interesse an den Machtkämpfen der Jungen.“
„Schade“, sagte Charleston, „dann könntet ihr ja jetzt meinen Lieutenant wieder freigeben, und wir sind im null Komma nichts hier weg und werden nicht wieder stören.“
„Das können wir nicht erlauben. Ihr wisst, dass wir existieren. Wir bilden eine Gefahr für die Fuetron. Wenn Sie von unserer Existenz erfahren, werden Sie versuchen uns zu vernichten. Das liegt nicht in unserem Interesse.“
„Wir sind gut im Geheimnisse bewahren“, rief Jan dazwischen, dem so langsam übles schwante.
„Der, der Ferden heißt, lügt. Der, der Hall heißt zeigt eure simple Hirnstruktur. Ihr könnt nicht wieder gehen.“
In dem Moment schoss ein weißer Faden aus Halls einer Hand hervor und drang in die des Sergeants ein, währen die andere Hand des Lieutenants anfing zu Zittern. Dann löste sie sich plötzlich von den Fingerspitzen her auf, erst schwarz werdend und dann in einem Schwall aus faulig stinkendem Wasser nach unten laufend. Ein letztes Augenflirren und Lt. Hall fiel in sich zusammen, wobei sich immer mehr von seinem Körper auflöste, bis nur noch seine Kleidung übrig war, die in einer Pfütze schleimiger Flüssigkeit von undefinierbarer Farbe lag.
Mit weit aufgerissenen Augen starrten die anderen das unrühmliche Ende des Soldaten an. Charleston war der Erste, der sich aus seiner Erstarrung löste.
„Rennt! Rennt um euer Leben! Rückzug zum Albagan!“, brüllte er und spurtete los, während er nach seinem Funkgerät griff um die Marines am Albagan anzuweisen Inistra anzuwählen. Er kam nur wenige Schritte weit und hatte das Funkgerät nicht über die Höhe seines Ellenbogens gehoben, bevor sich winzige, aber extrem feste Fäden um seine Schuhe wickelten, und ihn zu Fall brachten. Die anderen kamen nicht einmal so weit, bevor auch sie niedergerissen wurden, und in eine tiefe, kalte Schwärze fielen.
Als Jan wieder zu sich kam, fand er sich in einer dunklen Höhle wieder. Neben ihm lagen die reglosen Körper von Mary Lu, Rainy und Lunovitch. Fürchterliche Kopfschmerzen plagten den Physiker, als er versuchte sich aufzurichten. Stöhnend rieb er sich die Augen. Ihm war kotzübel, als er sich endlich aufgerichtet hatte. Die anderen gaben keinen Laut von sich. Jan kniete sich zu Mary Lu herunter und fasste ihr an die Schulter. Keine Reaktion. Er schüttelte die Schulter, aber Mary Lu reagierte noch immer nicht. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Mit zitternden Fingern berührte er Mary Lus Stirn. Eiskalt. Jan wurde kalkweiß. In einem letzten verzweifelten Versuch fasste er an ihr Handgelenk, um ihren Puls zu messen. Aber ihr kaltes, totes Herz gab keinen Laut von sich, kein Puls versorgte ihre wächsernen Gliedmaßen mehr mit Sauerstoff. Jan fiel auf die Knie. Tränen füllten seine Augen. Mit einer bösen Vorahnung griff er nach Lunovitchs Handgelenk. Auch ihn hatte jegliches Leben verlassen. Das gleiche bei Rainy Charleston. Jan spürte, wie Verzweiflung in ihm hochstieg. Und noch etwas anderes. Er schaffte es gerade bis in die nächste Ecke, bis er sich übergeben musste, so lange, bis nur noch bittere Galle hochkam. Kalkweiß und zitternd stand er schließlich auf. Es half nichts, er musste zurück nach Inistra um zu verhindern, dass noch mehr Leute hier in ihr Verderben liefen.
Er griff sich Rainys MP-5 und fragte sich, warum ihnen die Waffen wohl nicht abgenommen wurden. Vermutlich ging man davon aus, das sie alle tot seien, und dann wäre es auch egal, ob sie ihre Waffen noch hätten oder nicht. Ein letzter Blick zurück, dann machte er sich auf einen Ausgang zu finden. Das Höhlensystem, in dem er sich befand war zwar verzweigt, aber da alle Zweige irgendwann in breitere Höhlen mündeten, war es vergleichsweise leicht, sich zurechtzufinden.
Erstaunlicherweise traf Jan auf überhaupt keinen Widerstand. Zwar musste er zwischendurch immer mal wieder größeren Ansammlungen weißlichen Gelees ausweichen, aber anscheinend war man so davon überzeugt, dass auch Jan tot sei, dass man sich keine Sorgen um eine Flucht zu machen schien.
Wobei er beim Laufen bereits festgestellt hatte, dass was auch immer diese… Wesen mit seinem Körper angestellt hatten ziemlich übel gewesen sein musste. Alle Muskeln taten ihm weh, als habe er sie seit geraumer Zeit nicht mehr genutzt, und überall verteilt fand er Kratzer, blaue Flecken, sogar Brandblasen fielen ihm an den unmöglichsten Stellen auf. Es erschien ihm beinahe wie ein Wunder, dass er noch lebte. Er, der doch der Kondition eines Rainy Charleston nichts entgegenzusetzen hatte. Und doch war der Sergeant tot, und er lebte.
Irgendwann erreichte Jan die Oberfläche. Morgendliches Sonnenlicht fiel auf den schweigenden Wald. Offenbar hatte man sie mindestens eine Nacht lang hier gefangen gehalten und gefoltert. Doch so sehr Jan nachdachte, er konnte sich an keine Folter erinnern. Nur noch, dass er nach Halls Tod zusammengebrochen war.
Einen Zickzack-Kurs verfolgend schlich Jan durch den Wald, obwohl das wahrscheinlich ziemlich sinnlos sein dürfte, wie ihm irgendwann auffiel, denn wahrscheinlich hatten die Fremden den gesamten Wald infiltriert. Trotzdem gelang es ihm ungehindert das Albagan zu erreichen. Groß und überwuchert thronte es irgendwann vor ihm. Etwas versteckt und ebenfalls völlig überwuchert befand sich, etwas abseits der Wählcomputer. Mit zittrigen Fingern bediente Jan die Eingabemaske, die unter dem angelaufenen Glas kaum zu lesen war. Trotzdem schaffte er es irgendwie die 18-Stelle Adresse Inistras einzugeben. Als das Albagan summend anfing die Verbindung aufzubauen hoffte er inständig, dass die Geräusche, die die morgendliche Stille wie ein Heer Baumfäller zu durchschneiden schien, niemanden anlocken würde. Misstrauisch beobachtete Jan den Boden um sich herum.
Nach einer gefühlten Ewigkeit war die Verbindung dann endlich aufgebaut, und Jan schlüpfte, so flink wie es sein geschundener Körper eben zuließ, durch die blaue Kugel heim, nach Inistra.
Auf der anderen Seite angekommen war es ungewöhnlich still.
„Hallo!?“, rief Jan laut in die Halle hinein. Waren die Wesen vielleicht schon hier gewesen? Hatte man ihn deshalb nicht behelligt? Weil man gewusst hatte, dass es niemanden gab, dem er berichten konnte, was er gesehen hatte?
„Ist hier jemand!?“
Wieder nichts. Unwillkürlich hielt Jan nach verdächtigen weißen Fäden Ausschau, fand aber nichts.
„Hallo!? Irgendjemand?“
Jan lief es eiskalt den Rücken hinab. Die Stille war geradezu widernatürlich, selbst hier unten tief im Gestein.
Da hörte er plötzlich eine Stimme.
„Jan, bist du das?“
Es war Mary Lu.
Ein Schlag ins Gesicht holte sie aus dem Schlaf zurück ins Reich der Lebenden. Mary Lu öffnete die Augen, nur um in das ekelhafte Gesicht von Sweet Mama Georgia zu blicken. Sie brauchte einen Moment, bis sie bemerkte wo sie war.
„Hey, Täubchen!“
Es setzte einen weiteren Schlag.
„Du biss hier für‘t Schlafen, nich zum Pennen als bewech deinen Arsch! Zimmer fuffzehn hat nach dir jebrüllt, also setz dich endlich in Bewejung! Mach schon!“
Perplex richtete Mary Lu sich auf. Aus Angst vor Georgia schluckte sie ihre Verwirrung herunter und machte sich auf den Weg in den ersten Stock. Auf der Treppe begegnete ihr Troy, die so etwas wie eine Freundin darstellte – wenn man so weit unten überhaupt noch von Freunden sprechen konnte, schließlich war jeder auf sich selbst angewiesen, und eigentlich war sie alle Konkurrentinnen.
„Hey Lu, alles ok? Du siehst blass aus.“
Mary Lu wiegelte ab.
“Das ist nichts,” sagte sie, “ich hab nur schlecht geträumt…”
„Na dann. Zimmer fünfzehn wartet schon auf dich. Bin grad vorbeigelaufen, hast richtig Glück gehabt diesmal.“
Mit diesen Worten schob Troy ihren rechten Busen zurück in das enge Latexkleid, das sie trug und ging weiter die Treppe hinab. Mary Lu dachte an das, was sie gesagt hatte. Dass sie geträumt hätte. War es wirklich das gewesen? Konnte man über zehn Jahre einfach so träumen? Hatte sie in Wirklichkeit nie dieses furchtbare Haus verlassen, das sie genauso verabscheute, wie das sie darauf angewiesen war. Zimmer fünfzehn. Was sie wohl hinter der Tür erwarten würde? In den paar Monaten, die sie hier war, hatte sie tief in die Abgründe des menschlichen Genpools geblickt, war geschlagen worden, getreten, körperlich wie geistig verletzt und dann weggeworfen wie ein vollgerotztes Taschentuch. Manchmal gelang es ihr, sich selbst hier an der Tür zurückzulassen. Dann beobachtete sie, wie sie es mit irgendwelchen fetten Kerlen trieb, nur damit am Ende des Tages etwas zu Essen zu erwarten war, und sie nicht in den tiefen San Franciscos verhungern musste. Manchmal waren ihre Kunden auch nett, einer hatte sogar mal bezahlt, nur um eine Stunde mit ihr im selben Zimmer zu sitzen. Er wolle ihr helfen, hatte er gesagt, wenigstens ein bisschen. Sie hatte sich bedankt, und es hatte ihr wirklich geholfen, geholfen wieder zu erkennen, dass nicht alle Menschen auf dieser Welt grausam waren und sie wie Dreck behandelten, nur weil sie ihren Körper verkaufen musste, um zu überleben.
Manchmal aber gelang es ihr nicht, das physische vom emotionalen zu trennen. An diesen Tagen fühlte sie sich jedes Mal aufs Neue vergewaltigt. Hinterher lag sie immer weinend auf ihrer schimmeligen Matratze im Keller des Bordells, weil sie sich weiß Gott keine eigene Wohnung leisten konnte – dazu strich die Puffmutter zu viel ein, und Mary Lu ließ es geschehen, damit niemand die Angaben in Frage stellte, die sie zu ihrem Alter gemacht hatte. Schweigegeld, das war es, und sie wussten es beide. Aber Mary Lu saß am kürzeren Hebel, und hatte, um es mit Troys Worten zu sagen, die Arschkarte gezückt.
Die Tür zu Zimmer fünfzehn stand halb offen. Heute würde es wieder furchtbar werden. Weder war sie in irgendeiner Art von Stimmung, noch war sie in der Lage ihre Persönlichkeit an der Tür abzulegen. Sie seufzte resigniert, zog ihr abgetragenes und abgewetztes Kunstlederkorsett zurecht und trat durch die Tür.
Auf dem mit abwaschbarer Folie bezogenen Bett saß im schummrigen Licht ein durchschnittlich aussehender Mann Mitte dreißig. Als er den Kopf hob, stockte Mary Lu der Atem. Sie blieb unwillkürlich stehen. Sie erkannte das Gesicht, den Mann, sie hatte ihn schon einmal gesehen.
„Na so hässlich bin ich doch auch nicht, dass du gleich stehen bleiben musst,“ sagte Jan Ferden und deutete auf den Platz neben sich auf dem Bett. Mary Lu stockte.
‚Jan!?‘, dachte sie verstört.
Warum befand sich der Typ aus ihrem Traum auf diesem Bett und wollte Sex mit ihr?
„Was ist denn, jetzt komm schon. Ich zahl schließlich nicht dafür dich die ganze Zeit anzustarren.“
Langsam setzte sich Mary Lu in Bewegung. Verstört setzte sie sich dicht an den Physiker heran. Was ging hier nur vor sich. Sie blickte ihm ins Gesicht. Eine ganz bestimmte Sorte Abscheu lag darin, die vielen Menschen anheim lag, wenn sie sich in ein solches billiges Hurenhaus begaben. Es war jedenfalls offensichtlich, dass er sie noch nie gesehen hatte. Mary Lu versuchte den Traum abzuschütteln, aber so richtig gelang es ihr nicht, während seine Hand ihren Schoß suchte und ihre den seinen.
Wie eine Raubkatze strich er mit seiner Hand von ihrem Schoß aufwärts, bis seine Hände den Knoten fanden, der das Korsett an seinem Platz hielt. Mit offenbar geübten Fingern löste er den Knoten, und begann sie auszuziehen. Mary Lu seufzte innerlich, dann begann sie den Knopf seiner Hose zu lösen.
Jan Ferden verharrte mitten in der Bewegung. Um ihn herum war der gesamte Portalraum völlig verlassen, und doch hatte er Mary Lus Stimme gehört – obwohl er sich sicher war, ihre Leiche auf dem Planeten zurückgelassen zu haben. Irgendetwas stimmte hier nicht, ganz und gar nicht. Er konzentrierte sich, schloss die Augen und versuchte sich völlig auf seine anderen Sinne zu beschränken. Ohne Ergebnis.
Dann kam ihm eine Idee. Er schloss die Augen wieder, doch diesmal versuchte er sich vollkommen auf den Neurotransmitter zu kontrollieren, der sein Gehirn mit dem Mary Lus verband. Plötzlich spürte er ein prickelndes Gefühl in seinen Extremitäten. Und als er die Augen wieder öffnete befand er sich nicht mehr auf Inistra.
Mary Lu wünschte, sie wäre wo anders. Fast war es ihr egal wo, aber möglichst weit weg von hier. Sie hatten sich gegenseitig ausgezogen, und ohne großes hin und her war Jan über sie hergefallen – nicht das es sonst großartig anders gewesen wäre, sie war es durchaus gewohnt, dass man schnell zur Sache kam, aber gerade heute machte die Ungehobeltheit ihr Probleme. Davon abgesehen machte es ihn offenbar an sie in tiefster Gossensprache zu beschimpfen. Mary Lu schloss die Augen und versuchte den Schmerz zu ignorieren, den Jan in ihrem Unterleib, wie ihrem Herz verursachte. Warum hatte sie aufwachen müssen? Warum hatte sie nicht in dieser wunderbaren Traumwelt bleiben können, in der sie jemand war, und nicht jedermanns Liebespüppchen, ein Lustobjekt, dass man benutzte und danach wegwarf wie ein beschissenes Stück Klopapier? Mary Lu öffnete die Augen wieder, aber alles was sie sah war Jans Gesicht, in welchem sich diebische Freude über den Schmerz, der ihr widerfuhr breitmachte.
„Komm schon, Schlampe, gib schon zu, dass es dir gefällt!“
Jan lachte heiser, während er mit seinem Glied auf ihren Unterleib einstach.
Es stank bestialisch. Jedenfalls war das Jans Eindruck, als er die dunkle Gasse hinaufsah, in der sich von einem Moment auf den nächsten befunden hatte. Jedenfalls war damit bewiesen, dass hier irgendwas ganz und gar nicht stimmte. Jan besah sich die Häuser um ihn herum. Anscheinend befand er sich wieder auf der Erde. Wenn auch nicht gerade an einem ihrer Vorzeigeplätze, denn hier wurden zweifelsohne Geschäfte abgewickelt, von denen er lieber nichts wissen wollte. Doch im Moment war er alleine, und das war auch gut so. Vor ihm stand ein abbruchreifes Haus mit abgedunkelten Fenstern, durch die rotes Licht hindurchsickerte.
In der Hoffnung, dass es einen Sinn hatte, dass er gerade hier gelandet war, trat Jan durch die schwere Tür ins Innere des Gebäudes. Sofort kam ihm ein Schwall feuchtwarmer Luft entgegen, gemischt mit dem Geruch nach billigem Parfüm, welches vergeblich versuchte den Schweißgeruch aus der muffigen Luft zu vertreiben. Wie Jan schon vermutet hatte befand er sich in einem Bordell der billigsten Sorte. Vermutlich waren auf der anderen Seite noch Fenster mit Nummern darin, hier musste man sich mit einem Board voller schlecht gedruckte Fotos begnügen. Jan zählte zwölf Fotos, obwohl er bezweifelte, dass nur die Hälfte der Frauen in Wirklichkeit so gut aussah. Und das mindestens drei Viertel versuchten ihr wahres Alter zu verschleiern. Jan besah sich die Fotos genauer. Plötzlich stockte er. Das Foto war von furchtbarer Qualität, das Gesicht unter Tonnen von Make-Up vergraben, das Haar etwas heller und der Körper in ein abgetragenes Korsett gezwängt. Aber es bestand kein Zweifel: Das war Mary Lu Rosenthal. Aber was zur Hölle machte sie auf dem Board eines billigen Bordells?
„Ham se sich schon eine ausgesucht?“, fragte plötzlich eine rauchige Stimme von hinten. Jan drehte sich um. In herrischer Pose stand hinter ihm eine hochgewachsene Frau mit faltigem Gesicht und stahlgrauen Haaren. Jan war sofort klar, dass es sich nur um die Puffmutter handeln konnte, also zeigte er geistesgegenwärtig auf Mary Lus Foto und sagte,
„Die da“, auch wenn es ihm bei dem Gedanken nicht gerade wohl war.
„Zimmer fuffzehn“, antwortete die Puffmutter und blies ihren ekelig nach Rauch und ungewaschenen Zähnen stinkenden Atem in Jans Gesicht.
„Wenn dat Schild rot is, is besetzt, da müssen se ma warten.“
Jan nickte und ging in Richtung Treppenhaus. Hinter den Türen an denen er vorbeiging hörte er es ständig stöhnen, ächzen und quieken. Er dachte an das Foto. Egal wie viel Schminke Mary Lu verwendet hatte, jedenfalls auf dem Foto war sie nie im Leben älter als zwanzig gewesen. Möglicherweise war sogar unter achtzehn gewesen, was den krampfhaften Versuch erklären würde sich älter zu geben als sie wirklich war. Wo war er da nur wieder hineingeraten?
Nach kurzem Suchen stieß er auf Zimmer fünfzehn. Ein rotes Schild hing an der Tür. Jan verharrte für einen kurzen Moment, dann hörte er eine Stimme von drinnen, die reichlich obszön fluchte. Jan stockte der Atem. Er kannte diese Stimme nur zu gut. Es war seine eigene.
Jan atmete tief durch, dann warf er sich mit vollem Gewicht gegen die Tür. Das dünne Holz splitterte und Jan brach in den Raum. Mary Lu schrie auf, und er hörte, wie sein Alter Ego auf Deutsch fluchte. Tief atmend baute Jan sich mitten im Raum auf und starrte sein Alter Ego an. Der schien jedoch nicht im mindesten beeindruckt.
„Wenn du die kleine Hure haben willst,“ sagte er mit blitzenden Zähnen, „dann warte bis ich fertig bin!“
Jan biss die Zähne zusammen.
„Wer bist du?“, fragte er den Alter Ego.
„Das geht dich einen feuchten Dreck an, also verschwinde!“, beschied er Jan.
„Was geht hier vor?“, fragte Mary Lu mit geweiteten Augen.
„Schweig, Miststück!“, brüllte der Alter Ego und schlug ihr ins Gesicht. Mary Lu brüllte vor Schmerz auf.
„Lass sie in Ruhe!“, brüllte Jan. Sein Alter Ego lächelte böse.
„Spiel dich für die kleine Hure nicht so auf. Die ist das nicht wert.“
Jan blähte die Nasenflügel.
„Doch ist sie“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen und setzte gleichzeitig zum Sprung an. Mit einem Satz warf er sich auf den nackten Alter Ego, der aus Mary Lu hinausglitt und in einem Wirrwarr aus Gliedmaßen mit Jan auf dem Boden vor dem Bett landete. Mary Lu quiekte vor Schreck, der Alter Ego brüllte vor Wut und schlug Jan ins Gesicht. Kleine Sterne explodierten vor seinem Gesicht. Jan biss die Zähne zusammen und revanchierte sich, indem er seinem das Knie Alter Ego mit voller Kraft in den ungeschützten Unterleib rammte. Der Angegriffene heulte vor Schmerz auf und ließ sofort von Jan ab. Der wiederum platzierte zwei Schwinger auf dem Gesicht seines Alter Egos, die ihn eigentlich kraftlos hätten zusammensinken lassen sollen. Entgegen aller Erwartung nahm der Alter Ego noch einmal alle Kraft zusammen und schlug Jan gegen den Solar Plexus. Schlagartig wich alle Luft aus Jans Lunge und er war gezwungen wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft zu japsen. Der Alter Ego hob bereits zum nächsten Schlag an, als Mary Lu plötzlich hinter dem Bett hervorkam und dem Alter Ego mit einem länglichen Gegenstand auf den Kopf schlug. Es gab ein ekelhaftes Knacken, dann sank der Angreifer bewusstlos nieder. Jan blickte dankbar zu ihr hoch.
„Danke“, sagte er, aber Mary Lu hob weiterhin den Gegenstand hoch.
„Moment“, sagte sie und versuchte drohend zu wirken, konnte aber das Zittern in ihrer Stimme nicht ganz verbergen.
„Wer bist du?“, fragte sie.
„Ich bins. Jan. Der echte Jan. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Mary Lu.”
„Beweis es.“
„Wie?“
Mary Lu seufzte, dann nahm sie den Gegenstand herunter.
„Ich weiß auch nicht.“
Jan stand langsam auf und betrachtete sein Alter Ego. Er glich seinem Spiegelbild bis ins letzte Detail, vielleicht mit Ausnahme von ein paar mehr Muskeln, die der Alter Ego in der Bauchregion hatte. Dann sah er zu Mary Lu. Sie hatte ihren jugendlichen Körper notdürftig mit einer Decke bedeckt und sah ihn völlig verwirrt an. Dann fiel Jans blick auf den Gegenstand, mit dem sie den Alter Ego niedergestreckt hatte.
„Ist das ein Dildo?“, fragte er belustigt.
„Hat doch funktioniert, oder?“, gab Mary Lu schnippisch zurück.
„Auch wieder war.“
Jan fischte ein paar Kleidungsstücke vom Boden auf und reichte sie der jungen Mary Lu.
„Hier“, sagte er, „das ist sicherlich besser als die Decke. Ich dreh mich auch um.“
„Pah, guck dich doch an mir satt, was soll’s denn? Der Andere hatte doch Recht, ich bin ein Nichts. Oder hast du bezahlt, dann kann ich auch gleich nackt bleiben? Either way wirst du gleich gehen und ich hier bleiben, bis ich zu hässlich bin, und dann werde ich irgendwo unter eine Brücke gehen und da sterben.“
Jan, der sich schon halb umgedreht hatte verharrte mitten in der Bewegung. Ihm fröstelte bei der Hoffnungslosigkeit, die aus ihrer Stimme troff.
„Was soll das heißen?“, fragte er verwirrt.
„Oh,“ spottete sie, während sie ihre Lackhose wieder anzog, „ist der feine Herr etwa nicht vertraut mit dem glamourösen Leben der gemeinen Hure?“
Jan zog die Augenbrauen zusammen.
„Mary Lu, ich weiß ja nicht was hier passiert, aber wenn du mit anziehen fertig bist werden wir beide von hier verschwinden und beide wieder nach Inistra zurückkehren. Daran besteht überhaupt kein Zweifel.“
„Inistra…“, flüsterte Mary Lu, nachdem sie einen Moment lang beider geschwiegen hatten.
„Ja, Inistra“, sagte Jan, „du erinnerst dich doch wohl, oder? Die Stadt der Chibigo?“
Langsam wurde er misstrauisch, ob hier nicht etwas ganz anderes vor sich ging.
„Aber es war doch nur ein Traum…“, flüsterte sie.
„Ein Traum?“
„Ja, ein Traum. Ich habe geträumt ich wäre jemand, und dann bin ich wieder aufgewacht…“
Jan drehte sich um und hoffte, dass sie zumindest rudimentär bekleidet wäre. Immerhin, Hose und T-Shirt trug sie schon, also ging er einen Schritt auf sie zu und fasste sie an der Schulter. Er fühlte, wie sich ihre Muskeln anspannten.
„Es war kein Traum. Ich glaube, das hier ist alles nur eine Illusion. Du bist jemand. Dr. Mary Lu Rosenthal, Absolventin des MIT, hochrangige Mitarbeiterin beim SETI-Projekt und eine der wichtigsten Personen im Albagan-Projekt. Und nicht zuletzt eine überaus geschätzte Freundin von mir. Lass dich nicht täuschen! Diese Glibberwesen wollen nur das du aufgibst!“
Jan sah ihr tief in die Augen.
„Glaub mir“, sagte er.
„Aber zu welchem Zweck?“
Jan zuckte mit den Schultern.
„Kein Ahnung. Vielleicht wollen sie uns erforschen, lernen wie wir denken und fühlen. Was unsere Schwächen sind. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass sie zu diesem Zweck einer Illusion erzeugt haben, und wir in Wirklichkeit noch immer auf deren Planeten sind.
„Ganz sicher?“
In dem Moment wusste Jan, dass er sie überzeugt hatte. Er nickte.
„Und was schlägst du vor, dass wir jetzt tun?“, fragte Mary Lu.
Jan überlegte.
„Sie sind irgendwie in unseren Köpfen. Vielleicht können wir sie über die Neurotransmitter austricksen…“
Mary Lu runzelte die Stirn.
„Aber ich bin in meinem Teenagerkörper. Der hat keinen Neurotransmitter.“
„Wenn ich Recht habe, dann ist das egal. Ich habe dich über meinen Transmitter gefunden, also gehe ich davon aus, dass ich mich sozusagen in deinem Kopf befinde, was heißt, dass dein Transmitter aktiv ist. Konzentrier dich, hoffentlich funktioniert es dann.“
Mary Lu nickte und schloss die Augen. Jan tat es ihr gleich und versuchte sich ausschließlich auf den Transmitter zu konzentrieren. Plötzlich wurde Jan schlecht, er bekam höllische Kopfschmerzen und fühlte sich, als befände er sich in mitten eines Tornados. Er spürte den Boden unter seinen Füßen nicht mehr. Auch Mary Lu ging es nicht anders, das konnte er über den Transmitter spüren.
Dann war plötzlich alles vorbei. Jan spürte wieder Boden, wenn auch unter dem Rücken statt unter den Füßen, aber immerhin. Die beiden schlugen fast zeitgleich die Augen auf. Sie befanden sich in einer in dämmriges Licht getauchten natürlich wirkenden Höhle. Jan richtete sich. Sein Kopf schmerzte nach wie vor als habe jemand mit einem Presslufthammer darauf eingeschlagen. Neben sich entdeckte Jan einen Strang der weißen Masse, wobei die Spitze seltsam angeschrörgelt wirkte.
„Hey“, flüsterte Mary Lu neben ihm, „lebst du noch?“
„Keine Ahnung. Wenn man aber nachdem man abkratzt immer noch Kopfschmerzen hat, will ich nie sterben.“
„Meinst du das hier ist jetzt die Realität?“
Jan nickte und deutete auf die verbrannten Fühler, die sich neben ihren Köpfen befanden.
„Ich glaube wir haben sie geschlagen, jedenfalls für den Moment.“
„Und jetzt?“
Jan überlegte.
„Sie sind angebrannt und haben uns nicht weiter behelligt. Vielleicht vertragen sie kein Feuer?“
Mary Lu nickte.
„Dieses Schleimzeug wirkt ziemlich biologisch. Und soweit ich weiß vertragen die wenigsten Lebensformen Feuer.“
„Hast du welches?“
Mary Lu schüttelte den Kopf.
„Ich nicht, aber ich glaube Lunovitch hat ein Zippo, was er ständig mit sich rumträgt.“
Jan stand auf, was die Kopfschmerzen nur noch verschlimmerte. Er beschloss nicht darauf zu achten und wankte hinüber zu dem Biologen. Und tatsächlich, in einer Jackentasche fand er das Feuerzeug. Als er näher hinsah erkannte er außerdem, dass ein dicker Strang weißen Schleims durch Sergejs Ohr in seinen Kopf eindrang. Angewidert nahm Jan das Feuerzeug, steckte es an und hielt es an den Schleimfaden. Und tatsächlich, der Faden zog sich langsam aus dem Ohr des Russen zurück.
Mary Lu machte ein würgendes Geräusch, doch Jan ließ sich nicht beeindrucken. Wenig später hatte sich die Masse komplett zurückgezogen, und Lunovitch schlug die Augen auf. Für einen Moment starrte er nur an die Decke, dann begann er zu Husten und richtete sich unter Stöhnen auf.
„Alles in Ordnung?“, fragte Jan besorgt. Der Russe nickte.
„Ist in Ordnung. Ein bisschen Vodka und das wird schon wieder. Aber was zur Hölle geht hier vor?”
Jan warf das Zippo zu Mary Lu hinüber, die sofort verstand und sich zögerlich daran machte den Sergeant zu befreien. Währenddessen erklärte Jan dem Biologen die Situation, und brachte kurze Zeit später auch den Sergeant auf den neusten Stand.
„Was sind das nur für Viecher?“, fragte Rainy, nachdem Jan geendet hatte.
Alle sahen Lunovitch an, der angestrengt nachdachte.
„Ameba“, sagte er schließlich, „das muss die Lösung sein: Einzeller, die sich zu… Kollektiven zusammenschließen können, und sich schneller reproduzieren als die Transsibirische Eisenbahn fährt.“
„Nach allem was ich über die russische Eisenbahn weiß ist das keine allzu große Kunst, und nach allem was mir mein Biologie Grundkurs in der Schule beigebracht hat kann ich mir schwer vorstellen, dass es sich hier um Amöben handeln soll!“
Jan runzelte die Stirn.
„Ich kann natürlich nicht hundert Prozent genau sagen, aber es ist das Einzige, was ihre… Anpassungsfähigkeit erklärt.“
Wie auf Kommando fingen daraufhin die weißen Fäden, die bisher unbewegt am Boden gelegen hatten sich wieder auf sie zu zu schlängeln.
„Vielleicht sollten wir die Diskussion auf Inistra weiterführen, meint ihr nicht auch?“ warf Mary Lu ein.
„Sehr guter Plan,“ kommentierte Jan und riss sich einen Streifen seines T-Shirts ab. „Gib mir das Feuerzeug.“
Mary Lu warf das Zippo rüber. Jan wickelte den Fetzen seines Shirts um einen kurzen Stock, den er neben sich gefunden hatte und zündete es an. Damit hatten sie zumindest eine rudimentäre Fackel, vor der die Fäden auch tatsächlich zurückwichen.
„Dicht zusammenbleiben!“, befahl der Sergeant. Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg nach draußen, wobei Jan mit der Fackel vorausging. Tatsächlich schafften sie es relativ schnell bis zum Albagan, und musste nur selten Ansammlungen von Einzellern verscheuchen. Kurze Zeit später befanden sie sich wieder auf Inistra.
„Haben diese Überwesen auch einen Namen?“, fragte der Captain gereizt. Sie befanden sich im Konferenzsaal, in den sie sich ohne Umweg begeben hatten um den Captain einzuweihen.
„Sie selbst nennen sich die Alten Herren der Welt,“ antwortete Jan, „was immer sie auch damit meinen, ich finde wir sollten sie so nennen, wie Dr. Lunovitch vorgeschlagen hat: Ameba.“
„Ameba?“
„Russisch für Amöbe, also Einzeller. Klingt doch gleich viel weniger arrogant, oder?“
Verhaltenes Lachen, aber sie nickten alle mit den Köpfen, immerhin.
„Ameba also. Nun gut. Ich werde nachher eine kurze Ansprache machen, um die restlichen Expeditionsteilnehmer einzuweihen. Die Wissenschaftsfraktion unter den Anwesenden sollte in der Zwischenzeit ein kurzes Dossier vorbereiten, damit ich was in der Hand habe, wenn ich den Vorfall an Earth Command melde. Der General wird sich freuen. Dismissed.“
Unter lauten Scharren stand die kleine Gruppe auf. Zielstrebig hielt Jan beim Gehen auf Mary Lu zu. Als er sie erreicht hatte befanden sie sich bereits im Gang, und er legt ihr die Hand auf die Schulter. Sie zuckte zusammen.
„Alles ok bei dir?“, fragte Jan leise.
„Klar, bis darauf, dass wir uns gerade einen ziemlich mächtigen neuen Feind geschaffen haben, geht’s mir prächtig.“
Jan seufzte.
„Es war nicht nur ein Traum, oder?“, fragte er sanft.
„Ich weiß nicht wovon du redest.“
„Deine Illusion. Sie war mehr als nur ein Traum“
Mary Lu atmete tief ein und wollte gerade zu einer schnippischen Antwort ansetzen, da schloss sie die Augen und seufzte tief.
„Ich bin mit sechzehn von zu Hause weggelaufen. Ich hab es Zuhause nicht mehr ausgehalten, aber davon wurde es auch nicht besser. Mir blieb nichts anderes übrig, ich hatte nur die Alternative auf der Straße zu verhungern oder meinen Körper zu verkaufen. Denn nach Hause wollte ich auf keinen Fall. Also bin ich in einem billigen Bordell gelandet. Das waren die schlimmsten anderthalb Jahre meines Lebens. Irgendwann habe ich es geschafft über alte Freunde wieder auf den rechten Weg zu kommen, aber es war ein verdammt mühsamer Akt. Ich hatte gedacht, ich wäre darüber hinweg, auch über die Alpträume, in denen mein gesellschaftlicher Aufstieg nichts als ein schöner Traum war. Anscheinend haben die Ameba genau da angesetzt…“
Jan seufzte. Er hatte sich so etwas gedacht, aber trotzdem machte es das Ganze nicht einfacher.
„Es tut mir leid“, sagte er etwas lahm.
„Braucht es nicht. Ich werde wohl damit leben müssen, dass einen die Geister der Vergangenheit immer wieder einholen.“
Jan nickte.
„Wenn es dich tröstet, mir ist das ganz und gar nicht leicht gefallen in diesem Bordell. Du kannst dir sicher vorstellen, dass mir der Gedanke daran dich, vor irgendeiner Hexe von Puffmutter, für sexuelle Dienste zu mieten. Also wenn du mal jemanden zum Reden brauchst…“
Mary Lu lächelte schwach. Dann umarmte sie ihn kurz. Als sie wieder losgelassen hatte, sagte sie,
„Du bist ein guter Freund, Jan, weißt du das?“
Jan lächelte bescheiden.
„Ich versuche es zumindest.“