Die Begegnung zweier Verlierer am Rande der Gesellschaft auf dem Gelände einer "Irrtumsanstalt". Zur Erinnerung an den verstorbenen Heinz Benecke.
  Warum er in die forensische Psychiatrie geraten war, darüber sprach er nie. Wahrscheinlich aus Selbstschutz. Auch von anderen war darüber nichts zu erfahren. Es war auch nicht wichtig. Dieser leidende Mann, dessen Gesicht einen Verlierer unserer Gesellschaft ausdrückte, war mir sympathisch, weil seine Miene so maskenlos ungekünstelt offen sprach. Da bedurfte es keiner Worte, um von seinem Leben zu erfahren. Auch seine gebückte unförmig-hinfällige Gestalt wies ihn als Verlierer aus.
  Mir war dieser Mensch lieber als jene geschniegelten Siegertypen, die sich mit mir freilich nicht abgaben, weil ich für ihr Fortkommen keinerlei Vorteile bieten konnte. Heinz redete wenigstens mit mir in einer Zeit, als ich noch nichts anderes als die vage Hoffnung auf ein besseres glücklicheres Leben hatte.
  Es war eine Begegnung von Versagern auf dem Gelände der Haarer Psychiatrie, die nichts darstellten und von vielen verachtet waren, mit denen Normale nichts zu tun haben wollten, vielleicht weil diese Normalen selbst ihre Abgründe erahnten. Hier durfte ich so sein, wie ich war. Von mir wurde nichts gefordert. Die Miene durfte traurig sein, die Kleidung schlottrig, meine Haare ungewaschen strähnig. Ich durfte ein Aussehen haben, das der Spießer oder die Spießerin seit den 1980er Jahren pauschal mit dem Wort „ungepflegt“ verurteilte. Der andere Leidensgenosse hingegen hatte Verständnis, weil er sich ebenso fühlte. Dass ich es zu nichts gebracht hatte, war für Heinz kein Thema.
  Freilich hatte ich eine Wohnung außerhalb und fuhr immer wieder wegen der lockeren ungezwungenen Menschen nach Haar bei München. Auch um mich mit meinem Freund Hubert Weigl zu treffen, der mich mit Heinz Benecke bekannt gemacht hatte.
  Heinz Benecke allerdings ging es noch schlechter als mir. Er musste auf dem Haarer Gelände wohnen und vormittags arbeiten, wofür ihm so wenig bezahlt wurde, dass er mit seinem Geld nicht ausreichte. Keine Gewerkschaft nimmt sich der Interessen dieses Prekariats an, das unter Ausbeuterlöhnen geringer als im Manchester-Kapitalismus zur Deppeles-Arbeit gezwungen ist, um sich Bier und Zigaretten leisten zu können, nach denen die Unglücklichen und Gedemütigten süchtig sind.
  Ich, der ich mit dem Rauchen aufgehört hatte und mich niemals auf Alkohol eingelassen hatte, erklärte Heinz immer wieder, dass er aus seiner Arbeitstretmühle entkäme, wenn er nicht rauchen und Alkohol trinken würde, denn dann sei er nicht auf diesen miesen Job angewiesen, könne aussteigen und nur von der staatlichen Stütze leben. Er bräuchte sich diese Ausbeutung nicht gefallen lassen. Heinz bekam nämlich eine staatliche Stütze, weil er von dem geringen Lohn seiner Arbeit nicht hätte leben können, selbst wenn er wie ein Asket gefastet hätte. Im Manchester-Kapitalismus konnten die Arbeiter wenigstens ihre Grundbedürfnisse, wie Essen, Wohnung und Kleidung von ihrem Lohn einigermaßen bezahlen, was mit dem himmelschreiend geringen Lohn von Heinz nicht möglich war. Darum brauchte er eine staatliche Stütze, denn sterben wollte ihn die Solidargemeinschaft auch nicht lassen aus einem Rest von Humanität heraus.
  Das staatliche Steuergeld brauchten im größeren Maße die beträchtlichen Gehälter der Arbeitsaufseher auf. Für die Löhne der Armen blieb kaum etwas übrig. Freilich rechtfertigten sich die Arbeitsaufseher damit, dass ihr Geld von einem anderen staatlichen „Topf“ käme, was aber kein gültiges Argument ist, weil beide „Töpfe“ von der Solidargemeinschaft des Staates oder der Gemeinde befüllt werden. Dem Prekariat wäre mehr geholfen, wenn diese Deppeles-Arbeit abgeschafft würde und ihm das Geld direkt gegeben würde. Dann wären die Aufseher überflüssig und ihre beträchtlichen Gehälter stünden den Armen zur Verfügung. Die Aufseher freilich verstehen ihre Interessen durchzusetzen im Gegensatz zum Prekariat, das ohne Interessenvertretung ist.
  Heinz fühlte nur leidend seine schwache Position gegenüber diesen Arbeitsaufsehern, die ihn zu dieser miesen Arbeit zwangen. Er konnte sich nicht darüber ausdrücken, weil er wegen des Alkohols unfähig war, zu denken und sein ganzes Elend in dieser Sucht ertränkte. Da er aufgrund dieser ausbeuterischen Ungerechtigkeit mit seinem Geld nicht auskam, steckte ich ihm jedes Mal, wenn ich ihn traf, einige Münzen zu mit den Worten, dass er dieses Geld nicht bräuchte, wenn er von seiner Sucht abließe. Anstatt nun Argumente mit mir gegen diese Suchtmittel zu suchen, was seinen Ausstieg erleichtert hätte, suchte Heinz immer Argumente dafür, die ich aber alle entkräften konnte.
  Mit meiner Freigiebigkeit handelte ich nach dem Wort Jesu: „Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon.“ So versicherte mir Heinz, dass ich für ihn ein wirklicher Freund sei. Denn Freundschaft besteht nicht nur aus schönen Worten, sondern auch aus Hilfe und, wenn nötig, aus finanzieller Unterstützung, wie mein Philosophieprofessor, Elmar Treptow, mir auf den Weg gegeben hatte.
  Als es Heinz gesundheitlich noch schlechter ging und sein nahe bevorstehender Tod zu erahnen war, sagte ich zu ihm: „Ich habe dir immer ein wenig Geld gegeben. Falls du gestorben bist und bei Gott bist, dann sorge, bitte, dafür, dass mir das Geld nie ausgeht. Denn ich meine, so ist das Verschenken von Geld eine bessere Geldanlage als bei einer Bank oder Versicherung.“
  Heinz haderte im Stillen damit, ob für ihn die Wirklichkeit nach dem Tod so günstig ausginge. Einzig sprach er immer wieder darüber, wie Jesus Christus verlacht und angespuckt wurde, wenn er über Gott sprach. In ihm hatte er den besten Leidensgenossen. Für eine Glückseligkeit hielt er sich nicht für würdig, weshalb er sich eigentlich nur Leidfreiheit, also das Nichts nach dem Tod wünschte.
  Ich setzte dagegen, dass jeder, wenn er es nur wolle, zu Gott und in den Himmel komme, früher oder später. Es sei nur eine Frage der Zeit, die er brauche, um sich gänzlich zu läutern. Im Ãœbrigen würde Gott den Weg dahin kräftig unterstützen, denn Gott habe die Menschen zum Glücklichsein erschaffen, wofür die Metapher „Himmel“ stehe.
  Diese Ansicht hatte ich mir nach dem Lesen vieler Bücher gebildet, und ich meine immer wieder, ich müsse davon den Menschen mitteilen. Heinz las gar keine Bücher. Auch keine Zeitung, worin eh wenig Heilsames steht. Meiner Meinung nach.
  Weil ich auch so eine alte verlorene unglückliche Liebe habe, die nicht rostet, fragte ich Heinz einmal danach, ob es für ihn auch eine gäbe, die ihm die Liebste sei. Er ging tief in sich und holte aus dem Innersten die alte Erinnerung hervor und meinte nachdenklich: „Ja…, - aber die war sehr schlimm. – Sehr schlimm.“
  Diese Antwort, dass diese Liebste „schlimm“ war, gab mir zu denken und regte in mir einen neuen Gedanken in meiner philosophischen Theorie über die erotische Liebe an: Das Schicksal eines Menschen hängt nicht nur von seinem Milieu, seiner Genetik oder seinem Willen ab, wie die bisherigen Theorien besagen, sondern ist auch reziprok-korrelativ zu seinem Idol, also zu seiner Liebsten. Denn der Mensch steht in Wechselwirkung mit seinem Idol. Wenn die Liebste sich, wie bei Heinz, „schlimm“ verhielt, so hatte das Auswirkungen auf ihn, auf seine Gedanken und auf sein Verhalten. Und davon war sein Schicksal bestimmt.
  Ich besprach diesen neuen Gedanken mit Heinz durch und fand Zustimmung. Auch ihm wurde dadurch vieles klar.
  Wenige Wochen später erfuhr ich von meinem Freund, Hubert Weigl, dass Heinz Benecke gestorben war. Mochte er jetzt versöhnt mit seiner Liebsten in ungetrübter Freude und Lust zusammen sein, wünschte ich ihm und wandte mich mit dieser Bitte an Gott.
  Was das Geld betrifft, so hatte ich bisher immer mein Auskommen. Es bleibt mir sogar ein wenig übrig, dank der jenseitigen Hilfe von Heinz.