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Aletheia

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"Aletheia"
Veröffentlicht am 22. Februar 2012, 14 Seiten
Kategorie Sonstiges
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Aletheia

Aletheia

Beschreibung

Der Fluss des Vergessens

Recordare

Was ist es, das uns wirklich leben lässt? Sind es nicht die Spuren, die wir in fremden Herzen hinterlassen? Ist es nicht die Sehnsucht, einen Namen zu haben bei dem Menschen, den wir lieben? Genügt es zu wissen, dass die andere den einst  zärtlich und ängstlich ins Ohr gehauchten Namen tief im Grunde ihres Herzens verborgen hält?

Niemals vergessen zu werden, das scheint eine Ursehnsucht des Menschen zu sein. Doch die Erinnerungen werden beständig vom Fluss des Vergessens, Lethe, weggeschwemmt. Nichts scheint diesen Vorgang aufhalten zu können. Es ist ein Sterben mitten im Leben, unentwegt vergessen zu werden. Wir werden aus dem Gedächtnis des geliebten Menschen langsam durch den Strom der Zeit gespült. Und wenn unsere Lebensspuren im Herzen der anderen verwittern, sterben wir langsam.

Doch ruft uns die andere manchmal wieder ins Herz. Unsere Fährten im Herzen der Geliebten werden dann wieder aufgespürt. Die lateinische Sprache benutzt dafür das Wort "recordare", was am besten mit "wieder in Herz rufen"  übersetzt werden kann. Recordare, welch´ schönes Wort! Den Menschen, den wir so lieben immer wieder und wieder ins Herz zu rufen, um ihn nicht dem Fluss des Vergessens zu überlassen - das ist der Versuch, dem Strom der Zeit etwas entgegenzusetzen. Aletheia, die Wahrheit scheint die Macht zu haben, den geliebten Menschen dem Fluss des Vergessens zu entreißen. Wer sich den Menschen immer wieder ins Herz ruft, wird seiner Wahrheit gerecht, macht ihn wirklich. Erinnerung ist Treue, Vergessen ist Untreue.

Ja, ich will treu sein.

 

 

 

 

 

Wer hat Recht?

"Die Dinge wie sie sind" nennt  Benoìte Groult ihr Buch, in dem sie auch über die Liebe schreibt. Sie behauptet dort, dass das Leben wie die Kultur sei. Das Wesentliche sei demnach das, was bliebe, wenn man nicht mehr sei. Liebende scheinen das zu wissen.

Groult führt dazu an: "Die Windspiele, diese armen Geschöpfe, sind sich nicht im Klaren, daß die Frau, mit der sie ein wenig zusammenleben, allmählich in ihren intimsten Lebensbereich eindringt, in ihre Fasern, in ihre Vergangenheit, und daß sie auf diese Weise untrennbar mit ihnen verbunden werden, ohne daß sie es merken."

Und sie weiß, dass nach einer ausreichenden Zahl von Lebensjahren die Liebenden nicht mehr im Stande sind, sich zu trennen, ohne sich selbst irgendwie zu zerstören.

Die Geliebten sind mit dem Leben des anderen verwoben "wie andersfarbige Wolle, die man zusammen mit der ursprünglichen ein wenig achtlos mitgestrickt hat." Man kann sie nicht mehr aus der Arbeit entfernen, ohne diese völlig zu zerstören.

Benoìte Groult ist sich sicher, dass sich ein Mann nie wieder in eine verlorene Liebe verliebt, selbst wenn sich diese genauso verhalten würde, wie damals. Darin sieht sie den Beweis, daß Liebe völlig sinnlos sei und darüber hinaus "die Schmerzlichste aller Albernheiten". Hinterlässt also die Liebe bloß Schmerz und verbrannte Erde? Hängt das mit ihrer Unbedingtheit und ihrer Forderung nach Absolutheit zusammen?

Poeten, Philosophen und Theologen, kultivieren diese Unbedingtheit der Liebe. Einerseits. Auf der anderen Seite scheint Liebe dauerhaft nur lebbar zu sein, wenn sich die Geliebten mit  Erbarmen behandeln, wenn sie sich ihre Endlichkeit und Begrenztheit ständig vergeben können. Sind wir mit der Liebe überfordert, weil wir uns keine Götter sein können? Stirbt die Liebe letztlich durch die Unmöglichkeit, ihre Absolutheitsansprüche zu erfüllen?

 Vielleicht ist eine Begegnung ohne Masken gar nicht möglich. Menschen können sich wohl kaum wirklich "erkennen". Wird Liebe erst lebbar, wenn wir einander verzeihen können, dass wir uns offenbar immer nur maskiert, unerlöst  begegnen? Wir sind selten wir selbst, wie könnten wir da den Ansprüchen genügen, Gott für den anderen zu sein. Nicht selten sind wir Dämonen füreinander. Könnten wir etwa auch einer Hexe verzeihen? So berichtet Dorothea Zeemann von so einer Hexe, die sich in eine liebliche Erscheinung verwandelt hat, um geliebt und gebraucht zu werden, also als Engel erscheint. Zeemann weiß in ihrem Werk "Jungfrau und Reptil" noch viel mehr. Für sie ist die Geliebte "ein Höllengeschöpf", dem Geliebten ebenbürtig. Sie erfüllt ihm seinen Traum: Die schwache Schöne und das starke Tier.

Wer also  hat Recht? Benoìte Groult,  die alle Liebe als Illusion und alberne Täuschung entlarvt? Dorothea Zeemann, die weiß, dass in der Liebe bloß die verkleidete Hexe ihr Spiel treibt? Oder doch die verzeihenden Liebenden, die aus der Überzeugung lieben, dass sie sich  ohnedies nie Götter sein können?

 

 

Kapitulation vor dem Tod

Beendet die  "Realistin", die nicht vergeben kann folgerichtig jede Liebe aus Resignation und Enttäuschung? Und "erlebt" sie dann, wenn sie meint, sich vom Geliebten trennen zu müssen, nicht  brutal ihr eigenes Sterben? Kein Mensch kann offenbar regungslos zusehen, wie seine unbedingte Liebe endet. Wir  beobachten vielmehr unser eigenes Sterben, wenn wir  denken, unsere Liebe zerstören zu müssen. Menschen, die für ihre Liebe keine Zukunft mehr sehen, glauben vor dem Tod kapitulieren zu müssen, indem sie ihre Liebe und damit sich selbst töten. Aber genau dieses "Erlebnis" des Todes macht unser Leben  zur Hölle. Ist der Realistin daher die Hölle sicher?

Ja, es ist richtig, was Igor Caruso in der "Trennung der Liebenden" schreibt: wenn die Liebe keine Hoffnung mehr sieht, wandelt sie sich zur Hölle. Alle großen Liebenden der Geschichte müssen sterben, nachdem sie wahrhaft geliebt haben. Der Eros kennt kein Erbarmen und keine Grenzen. Hier können wir gerne Caruso zu Wort kommen lassen. Wenn zwei Liebende sich selbst überschritten haben und sich in einer Einheit gefunden haben, bleibt nur mehr die Banalisierung, die Relativierung und die Normalisierung des höchsten unglaublichen Ereignisses oder der Tod. Kein Liebender kann die Banalisierung der Liebe zulassen. Es gäbe da schon lieber die Mystifizierung, dass nach diesem Leben im Jenseits die Liebe endlich erfüllt werde.

Wir wollen alle ewig lieben, ewig totale Gegenwart spüren. Liebe bringt das Absolute im Menschen zur Resonanz. Der Schwur "Ich liebe Dich" kann nicht Lügen gestraft werden, da zerstören wir uns vorher selbst. Der Tod ist die einzig passende Antwort auf die wahrhafte Liebe. Denn sonst verkäme die wahre Liebe zu einer endlichen, überbietbaren und wiederholbaren Liebe. Die Erfahrung des Absoluten hinterlässt ihre Spuren. Nicht umsonst heißt es schon im Alten Testament, dass niemand Gott sehen kann, ohne zu sterben. Kein Mensch hält das Absolute aus.

Arthur Miller hat das in seinem Buch "Nach dem Sündenfall" richtig erkannt: Die meisten Frauen sterben daran, dass sie aus ihrem Geliebten einen Gott gemacht haben. Vergötterung ist für einen Menschen unerträglich, er muss daran zerbrechen und sterben.

 Caruso hat messerscharf analyisert, was in uns Menschen vorgeht, wenn wir aus Angst vor der Aussichtslosigkeit einer Liebe an Trennung denken. Wer der großen Liebe nicht mehr nachgeht, der geht nämlich zugrunde.

In seiner Trennung der Liebenden schreibt er: " Nach der anfänglichen Periode, da die getrennte Beziehung idealisiert wurde, [...] beobachten wir oftmals die Leugnung der Tiefe und der existenziellen Bedeutung dieser getrennten Beziehung." Aber diese Leugnung findet nicht nur vor den Freunden und Bekannten, gleichsam aus "taktischen" Gründen statt, sondern auch im eigenen Denken. Das zeigt sich dann, wenn die Getrennte bei nachfolgenden Bindungen behauptet, diese neue Bindung sei nun die "erste große Liebe" und das neue Liebesobjekt sei  "eigentlich der erste Mann". Unser bewusstes Erinnern muss hier ausgeschaltet werden, um die Trennung zu ertragen. Caruso fährt fort: "Die vorangegangene Bindung muß jedenfalls möglichst bagatellisiert oder verkleinert werden, um die Identität und Integrität des Ichs bewahren zu können - diese Rationalisierung geht übrigens mit der früher beschriebenen aggressiven Abwertung einher."

Der Verlassene erfährt also seine Abwertung und Bagatellisierung wie eine Ermordung. Aber die noch immer Liebende muss diese Lüge durchziehen, um ebenfalls nicht durch den Tod der wahren Liebe zu sterben. Nicht selten "beichtet" die Getrennte dem neuen Partner manche Geheimnisse der vorigen Beziehung, ohne dass dieser das wissen möchte. Dies soll den verlassenen Partner abwerten, um die Trennung "meistern" zu können. Viele wunderschöne Erlebnisse werden nun völlig verdreht und negativ interpretiert. Diese Lügen sollen helfen, die sonst tödliche Trennung zu bewältigen. Und der verlassene Partner wird mit Aggression und Kälte bestraft.

Kann man es also der Geliebten verdenken, die nun alles abwertet und zerstört, dass sie den verlassenen Partner nun unbedeutend und schlecht macht? So paradox das klingt, es zeigt nur, dass sie wahrhaft geliebt hat und auch noch liebt. Sie muss es tun, um ohne dem Geliebten überleben zu können. Sie muss die Ermordung der Liebe durch die Lüge durchführen. Der Fluss des Vergessens muss nun alles Spuren im Herzen wegschwemmen. Die Wahrheit Aletheia muss nun verdreht und vergessen werden. Denn die Liebende weiß tief drinnen, dass auch sie ohne diese Liebe nicht überleben kann. Sie sieht aber für ihr Überleben keinen anderen Weg. Liebe ist einfach etwas Absolutes und nicht Beherrschbares. Wenn wir sie klein machen und relativieren, dann töten wir sie damit auch.

Ist also doch die einzige Lösung, dass Liebende einander vergeben können, nicht Gott zu sein? Und ist es richtig, anstatt sich zu trennen und sich einer vermuteten Aussichtslosigkeit ängstlich zu unterwerfen, dennoch mutig und trotzig den unberechenbaren Weg der Liebe zu suchen? Wer Vertrauen besitzt und sich und anderen verzeihen kann, der muss nicht die Liebe durch Lüge und Verkleinerung töten. Wer vergeben kann, der bringt die wahrhaftige Liebe nicht um, der lässt sie vertrauensvoll wachsen. Aber das hat viel mit Mut und dem Glauben an das Unmögliche und das Geheimnisvolle zu tun.

 

 

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Hörbuch

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rocardo

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Kommentare
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Gast Bedeutet Aletheia Wahrheit, dann sind die meisten Beziehungen wohl Lügen.
Vor langer Zeit - Antworten
Gast Aletheia - Bin durch Zufall auf den Text gestoßen. Ein wenig philosophisch, nicht leicht zu lesen. Aber regt zum Nachdenken an.
Vor langer Zeit - Antworten
Gast das gefühl kenne ich - Ja, wie wahr, wie wahr....
Vor langer Zeit - Antworten
Gast Kommentar vom Buch-Autor gelöscht.
Vor langer Zeit - Antworten
Gast mal vorbeigeschaut - Ist wohl eine enttäuschte Liebe?
Vor langer Zeit - Antworten
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