Die Liebeserklärung für Bea
  Sie traten hinaus in die Nacht aus dem Veranstaltungsgebäude auf einen asphaltierten dunklen weiten Platz. Raimund ging mit Maren an der Seite, seinem irdischen Fegfeuerliebchen, und in geraumem Abstand daneben waren Bea, seine fortwährende Liebe, und Musto, der väterliche Jesuitenpater, der einstige Obwalter des Schülerzentrums München Fürstenried in den 1970er Jahren, des legendären Schlosses. Bea besprach sich mit dem alten graubärtigen Mann wohl über die Widerfahrnisse ihres Lebens.
  Raimund, der sich der Liebe völlig sicher war, blickte Bea an, und sie erwiderte den Blick, ohne dass beide nur irgendeine Scheu hatten, sich ununterbrochen gegenseitig anzuschauen und anschauen zu lassen. Die einstige Schönheit von Bea war verformt. Ihr längliches blondes Haar war zwar gewaschen, aber trotzdem angeklatscht und missförmig. Dergleichen wirkte ihr Gesicht entformt, wie auch ihr Leib, nach einem missglückten Leben, verlebt, musste Raimund deuten; so wie auch sein Leben reziprok-korrelativ zu Bea entglückt war, und er überlegte: Vom jetzigen Zustand ihres Aussehens hätte sie keiner als schön empfunden. Raimund hätte sich ihr nicht weiter zugewandt, weil sie ihm zu problembehaftet vorgekommen wäre, wenn nicht die gemeinsamen Erlebnisse der Vergangenheit gewesen wären. Sie war nun einmal seine femme fatale, seine Schicksalsfrau, die ihn immer wieder einholte, wie er in den langen, getrennt gelebten Jahren, erkannt hatte, gleichgültig, wie sie jetzt gerade aussah und welchen Reiz sie ausstrahlte. Denn das Aussehen spiegelt nur den gegenwärtigen Zustand des Ergehens wieder. Es wird wieder besser, wenn das Ergehen wieder besser wird.
  Bea litt zurzeit an sich und hatte zu büßen im Gegensatz zu Raimund, der meinte, dass er an Buße schon zur Genüge hinter sich hatte, und es ihm darum jetzt besser ging als früher, und er sie darum übertraf mit seinem wiederhergestellten Aussehen. So glaubte er hochmütig, sie zu übertrumpfen und ihr überlegen zu sein. Er hatte jetzt etwas zu bieten, den Wert seiner überdacht-verarbeiteten Erfahrung. Er brach diese unguten hochmütigen Gedanken ab, sehr wohl erkennend, dass solche Gedanken Bea gegenüber gemein und verletzend waren.
  Er hätte die Begegnung im gegenseitigen Anschauen auf sich beruhen lassen können bis zur nächsten Begegnung. Die gegenseitige Betrachtung war beredt genug. Da bedurfte es keiner weiteren Worte. Da Raimund sich aber der gegenseitigen Liebe sicher war, wurde er ein wenig überschwänglich. Er trat auf Bea zu und sagte: „Jetzt will ich mit dir gehen.“ Dabei legte er besitzergreifend den Arm um ihre Schulter. Dieses In-Besitz-Nehmen konnte Bea natürlich nicht durchgehen lassen, denn Liebe besteht ja nicht im Besitzen, sondern in einem reziprok-korrelativen Verhalten zueinander, das Bea auch folgerichtig zeigte, indem sie ihn abschüttelte. Der Beweggrund dieses Gebarens war Raimund sogleich klar, zumal sie Laute äußerte, die sein Fehlverhalten tadelten. So war es immer. Bea war seine beste Erzieherin. Raimund verstand vollkommen und sah seinen Fehler sogleich ein, ohne verärgert zu sein. Weil er sich der Liebe sicher war, war er auch gar nicht frustriert, sondern besann sich auf die richtige Verhaltensweise. Er fragte sie, gewiss, dass nun keine Ablehnung erfolgen würde: „Gibst du mir Deine Hand?“ und fasste entschieden nach ihrer Hand, die sie ihm bereitwillig gewährte. Eine feingliedrige Hand, die nicht zu fest gedrückt werden durfte, weil in ihr die schwächere Kraft war. Er machte sich Gedanken über die Feingliedrigkeit der Hand, einerseits voll Kraft und doch zerbrechlich, so wie von früher her er ihre Hände in Erinnerung hatte. Obgleich dies das erste Mal war, dass er mit Bea Hand in Hand ging, war Raimund nicht euphorisch, sondern es war eine vertraute Freude, als seien sie schon oft Hand in Hand gegangen, weil die gefasste Hand, Beas Hand war, die er spürte, um die er immer froh sein würde. Eine bleibende Freude.
  Dass sie zu leiden gehabt hatte, wovon ihre Erscheinung sprach, veranlasste Raimund zu folgendem Vortrag über Haare aus seinem Gedankenschatz im Gedächtnis, mit dem er ein dringliches Anliegen zum Ausdruck brachte: „Gleichgültig wie sie aussehen, die Haare, schneide sie nicht ab, denn darin ist die Seele aufbewahrt. Die Haare verstärken immer den seelischen Zustand. Wenn es dir gut geht, sehen sie umso besser aus, und du wirkst umso ausdrucksvoller und schöner. Geht es dir schlecht, so ziehen sie auch die Schönheit nach unten. Trotzdem schneide sie nicht, denn sonst vergibst du dir die Möglichkeit zu einem strahlenden Aussehen zu gelangen, wenn das Ergehen wieder besser wird. Durch solche Durststrecken des schlechten Ergehens muss man durch mit den langen Haaren, um nachher, wenn das Leid überwunden, um so strahlender und selbstbewusster zu sein. Wer seine Haare schneidet, beschneidet die Entfaltungsmöglichkeiten seiner Persönlichkeit. Also schneide auf keinen Fall deine Haare.“
  Bea hörte sich die Rede an. Sie ließ sie auf sich wirken, sagte nichts, widersprach nicht, machte keine Einwände und keine Relativierungen. Das war sie. Sie ließ gelten, was er sagte, überdachte seine Gedanken und machte sie sich zueigen, wenn sie richtig waren. Und diese Gedanken über die Haare waren richtig, zutiefst selbst erfahren und erlebt, denn auch er hatte lange Haare.
  Auch umgekehrt hatte er immer Beas Gedanken gelten lassen und sich zu eigen gemacht, weil sie bisher immer richtig waren. Das war ihre Liebe, dass sie einander vollständig liebten mit allen Gedanken und Eigenheiten, nicht nur teilweise, so wie Raimund sein irdisches Fegfeuerliebchen, Maren, nur teilweise lieben konnte.
  Er dachte sich: “Jetzt muss ich mal aussprechen, was eigentlich sonnenklar ist, ich will mal sehen, was dann geschieht.“ Darum sagte er zu ihr, was er noch nie zu ihr gesagt hatte, was er aber Susy schon einmal vorgelogen hatte, insofern mochten die Worte verbraucht, weil missbraucht, sein. Er sprach: „Ich will es jetzt sagen, Bea, ich liebe dich.“ Er sprach ganz laut, dass alle in der Umgebung es hören konnten, weil er dachte, das soll jetzt öffentlich sein und braucht nicht verborgen zu sein.
  Sogleich ohne jegliche Denkpause sagte Bea genauso laut: „Raimund, ich liebe dich richtig.“ Weil Beas Erwiderung ohne jegliche Pause im selben deklaratorischen Tonfall laut zurückkam, musste Raimund denken: „Äfft sie mich nach?“
  Raimund ließ diesen Gedanken vorerst beiseite. Bea kam ihm jetzt wieder so jugendlich schön vor wie früher, ohne dass er sie genau betrachtete. Er war beschwingt und froh. Dann fragte er, ohne sich eine weiterführende Antwort zu erwarten: „Was machen wir jetzt? Wie geht’s weiter?“ Bea wusste darauf, wie erwartet, auch keine sofortige Antwort. Klar war, dass es weiterging, denn sie liebten sich.
  Und um diese Liebe machte sich Raimund jetzt ausführliche Gedanken: Was meinte Bea mit „richtig“, sie liebe ihn „richtig“? Das war kein Nachgeäffe, sondern eine tiefe Aussage, wurde ihm klar. Er selbst wäre nie auf diesen Gedanken, auf dieses „Ich-liebe-dich-richtig“ gekommen. Was war damit gemeint? Er dachte und dachte und wurde so schnell nicht schlüssig. Und während er nachdachte, wachte er auf und musste daran denken, dass Bea schon gestorben war, jetzt wohl bei Gott, seinem Glauben nach. Dieses Traumerlebnis war so echt, als sei er wirklich mit Bea zusammen gewesen.