Beschreibung
Der Junge ist zu klein, um ganz durch das Fenster sehen zu können. Er ist ein kurzer, schmächtiger Bube von ungefähr sieben Jahren. Seine Haut ist blass, die Arme und Beine dünn wie Stöcke. Sein Gesicht umrahmen schwarze, ungeschnittene Haare. Die Augen sind groß, dunkel und voller Traurigkeit. Der Junge reißt sich einen Splitter des faserigen Holzes in die Handfläche, doch der Schmerz erreicht ihn nicht. Zu stark ist die Pein, die ihm die Einsamkeit und das Verlassensein aufbürdet.
Stilles Gedenken
Es ist dunkel und kalt, der Schlafsack zerschlissen und löchrig. Ohne die große, mufflige Filzdecke, die eigentlich als Unterlage dienen soll, würde er nicht wärmen. Der kleine Junge hat sich darin eingewickelt, bis zu den Ohren. Sein Atem malt Wolken in die eisige Luft. Draußen vor der versperrten Holztüre geistern die Geräusche des Waldes herum. Ein Kauz ruft. Es knackt und knistert unter dem Haus. Der Junge hat Angst. Es ist die erste von vielleicht vielen Nächten, die er allein, weit weg von Familie und Freunden im Dunkel verbringen muss. Heute Morgen hat man ihn hierher gebracht, mit nichts als seinen Kleidern auf dem Leib. Der Schlafsack, die Decke, ein altes abgegriffenes Buch, Schreibblock und Bleistift, mehr hat man ihm nicht anzubieten. Das Holzhaus hat nur ein winziges Fenster. Ob Tag oder Nacht, vermag man nur an den spärlichen Lichtstrahlen zu erkennen, die sich durch dieses und die Ritzen der schiefen Bretter stehlen. Der Junge zittert und weint. Leise weint er sich in den Schlaf. Die Schrecken des vorangegangenen Tages tanzen vor seinem inneren Auge. Wie man ihn ohne Erklärung hierher gebracht hatte, mit roher Gewalt seinen Widerstand niedergeschlagen und ihn seinem zu Hause entrissen hatte. Tatenlos hatten die Eltern es geschehen lassen. Der Junge sieht die rotgeränderten Augen der Mutter vor sich, die ausgestreckten Arme des Vaters. Was nun aus ihm werden würde, wusste er nicht, konnte er sich nicht vorstellen. Sein Weinen hallt von den Holzwänden wieder, durchbricht wie ein leises, trauriges Lied die Kulisse des Waldes. Irgendwann ist er eingeschlafen und zittert dann in tiefem Traum.
Am frühen Morgen weckt ihn das geschäftige Treiben der Natur. Der Junge kriecht aus dem Schlafsack. Er muss seine Notdurft verrichten, aber die Tür nach draußen ist noch immer verschlossen. Er weiß nicht, wann und ob jemand kommen wird. Er hat Durst, setzt sich auf die Schlafstatt, zieht die Beine an und wiegt sich in rhythmischem Schaukeln. Vor der Holztür, draußen erwacht der Wald zum Leben. Der Junge würde so gern nach draußen gehen, das Draußen hereinlassen. Aber er ist allein in der Dämmerung des Verlieses, mit nichts als seiner Angst als Gefährten. Er kann nicht mehr anhalten und erleichtert sich in die Ecke. Der Gestank seines abgestandenen Urins lässt ihn würgen. Er hat so schrecklichen Durst. Er bekommt kaum noch Luft. Das morsche Holz hat die Flüssigkeit aufgesaugt und beide Gerüche zusammen, beißen in seiner Lunge. Er steht auf und wankt zum Fenster, zieht sich hoch daran und versucht frische Luft zu atmen, etwas vom Wald zu erkennen. Er sieht einen kleinen Ausschnitt des blauen Himmels, das Blattwerk einiger Sträucher. Der Junge ist zu klein, um ganz durch das Fenster sehen zu können. Er ist ein kurzer, schmächtiger Bube von ungefähr sieben Jahren. Seine Haut ist blass, die Arme und Beine dünn wie Stöcke. Sein Gesicht umrahmen dunkle, ungeschnittene Haare. Die Augen sind groß, dunkel und voller Traurigkeit. Der Junge reißt sich einen Splitter des faserigen Holzes in die Handfläche, doch der Schmerz erreicht ihn nicht. Zu stark ist die Pein, die ihm die Einsamkeit und das Verlassensein aufbürdet. Er krallt sich weiter in das Holz, versucht sich mit den nackten Füßen abzustützen. Doch er rutscht ab und fällt hart auf den Rücken. In seinem zierlichen Körper wohnt ein starker Geist. Der Junge kommt sogleich wieder auf die Beine und unternimmt einen zweiten Versuch. Seine Füße scharren über das Holz, finden keinen Halt. Die blasse, dünne Haut an seinen Knien schürft auf, sein Blut hinterlässt Schlieren. Er gibt auf, ist zu schwach von Durst und der schlaflosen Nacht. Der Junge legt sich wieder auf die Schlafstatt, starrt teilnahmslos auf die Wand vor sich. Über sein Gesicht laufen stille Tränen und benässen die muffige Filzdecke. Vor Erschöpfung sinkt er wieder in den Schlaf.
Es ist später Nachmittag, als jemand die Treppen zum Holz-Verließ erklimmt. Der Junge erwacht vom Knarzen der Stufen. Das Holzhaus erzittert unter dem Gewicht des Besuchers. Der Junge drückt sich voller Angst in seine Ecke, umklammert den Stoff der Decke. Seine Zähne beißen so stark aufeinander, dass die Knochen seiner Wangen hervortreten. Ein Metallschloss klimpert, ein Schlüssel wird herumgedreht und ein schwerer Riegel unter Anstrengung verschoben. Die Holztür öffnet sich knarrend, Licht dringt herein, zeichnet ein helles Dreieck auf den Boden. Der Junge drückt sich noch weiter in die Ecke und zieht die Beine so weit an, dass seine Knie das zitternde Kinn berühren. Eine feingliedrige Hand erscheint im Spalt, sie hält einen Beutel und legt ihn ab. „Keine Angst, Elias. Ich bringe dir zu essen“, sagt eine hohe Stimme. Der Junge erkennt den Klang. Die Vertrautheit schickt Wellen der Freude durch seinen Körper. Er will dem Besucher entgegen springen, glaubt an seine Errettung und weint Tränen der Erleichterung, doch die Stimme straft seine Hoffnung lügen. „Ich muss gehen, Elias. Es ist zu gefährlich.“ Die Tür wird geschlossen und der Riegel verschoben. Die Stufen knarzen, dumpfe Schritte auf dem Waldboden verhallen in der Entfernung. Der Junge ist wieder allein. Er bewegt sich auf allen vieren zum Beutel hin, wickelt einen Laib Brot aus einem Tuch. Einen Krug Wasser holt er hervor. Trinkt in gierigen Zügen, verschluckt sich und hustet. Er reißt den Teig auseinander und kaut wie besessen. Würgt den trockenen Brei dann als Klumpen hinab, ohne Genuss, nur von Hunger getrieben. Das Mal füllt Wärme in seinen leeren Magen. Er muss es sich einteilen. Er weiß nicht, wann die vertraute Stimme wieder zu ihm sprechen wird. Der Junge kauert vor den Resten, wickelt das Brot wieder in das Tuch, schiebt den Krug in die Ecke. Er kriecht wieder zum Schlafsack, rollt sich in die Decke und versucht zu schlafen. Während er bewegungslos liegt, bricht die Nacht über dem Holzhaus herein. Furchtbare Träume plagen ihn. Er sieht seine Eltern im Tode, sich selbst hinter Glas, unfähig ihnen zu helfen. Er macht in seine Bettstatt. Er ist sieben. Ein ängstliches, unbedarftes Kind, verloren ohne den Schutz der Familie, unfähig die Zusammenhänge zu begreifen und angewiesen auf den Zuspruch und die Fürsorge seiner Nächsten. Und doch harrt er in seinem Gefängnis aus, drei Tage und Nächte lang. Der Überlebenswille einer jeden Kreatur. Er schläft zwischen seinen Exkrementen, trinkt und isst in winzigen Portionen, hofft auf die Stimme. Nur dieser Glauben hält ihn an.
Am dritten Tag kann er sie endlich wieder hören. Diesmal ist er zu schwach, um der Tür entgegenzukriechen, die ganz geöffnet wird. „Elias, du musst aufstehen! Die Männer waren da und haben alle gefunden“. Ein junges Mädchen steht im Rahmen. Es sieht mit verweinten Augen auf den Jungen herab, duckt sich in die Hütte hinein und schlingt die Arme um den Knaben. Es wiegt ihn wie eine Mutter. Der Junge schluchzt in den Kragen ihres Kleides. Das Mädchen weint in die schwarzen Haare. „Es wird alles wieder gut, Elias. Wir gehen jetzt nach Hause. Alles wird wieder gut, ich verspreche es Dir.“