Zusammenfassung der Einzeltexte: Der Tod meiner Mutter war Anlass mich mit dem Tod und dem Sterben aueinanderzusetzen. In dieser Erzählung ist Erlebtes mit Erfundenem vermischt worden. Wer weiß schon was wirklich ist? Jeder Mensch erfährt und erlebt das Leben aus seiner Perspektive. Ich habe den Versuch unternommen, die Perspektive einer Verstorbenen einzunehmen. Aus dieser Sicht schaute ich mir die erlebten Ereignisse erneut an und war selbst erstaunt, welche Sichtweisen sich auftaten.
1. Kapitel - Weisheit braucht alle Teile
2. Kapitel - Beim Bestatter
3. Kapitel - Blumenherz und Blumenkranz
4. Kapitel - Traueranzeige
5. Kapitel - Leichenhalle
6. Kapitel - Beim Steinmetz
7. Kapitel - Zwischenzeit
8. Kapitel - Seelenamt
9. Kapitel - Die Beerdigung
10.Kapitel - Vorstellungen
Wie dumm Menschen sind. Wissen so viel und doch wissen sie nichts. Wenn sie könnte würde sie den Kopf schütteln. Über diese grenzenlose Dummheit. Da stehen sie, glauben ihre Hand zu halten. Meinen ihr über das Haar zu streichen und vergießen Tränen der Trauer. Trauer um was? Sie trauern um eine Hülle. Sie trauern um mich, die ich bin. Auch ohne diesen Körper, den ich leblos im Bett liegen sehe, mit dem ich mich lange Zeit identifiziert habe. Ich wusste es nicht besser. Nun, da ich dieses begrenzte Sein hinter mir gelassen habe, weiß ich es besser. Ich weiß, dass dieser Leichnam nicht das Ende meines Seins bedeutet. Denn hier bin ich, beobachte das Geschehen, nehme wahr und wundere mich über diese neue Art zu sein. Was ich nun weiß ist, der Tod des Leibes ist nicht das Ende. Es ist nur das Ende einer Art zu sein. Dabei wird mir meine eigene Unwissenheit bewusst. Gut, ich weiß nun, dass ich bin auch ohne Leib. Doch weiß ich nichts darüber hinaus. Ich sehe, höre, fühle. Nicht so wie vorher, anders. Was weg ist, ist die Körperlichkeit. Mich am Kopf kratzen geht nicht mehr. Nasenbohren, Trinken, Essen, Küssen, Umarmen, all dies ist mir nicht möglich. Und das was ich fühle ist nicht vergleichbar mit dem, wie es ist, mit einem Körper zu fühlen. Es sind eher Strömungen in denen ich bin. Hören tue ich nicht selbst, ich höre durch der Menschen Ohren, die mich umgeben. Und sehen kann ich durch ihre Augen. War ich früher begrenzt einzig meine Perspektive zu haben, so habe ich nun sämtliche Perspektiven der Anwesenden. Ich sehe meine Tochter durch die Augen ihrer Brüder und ich sehe meine Söhne durch die Augen ihrer Brüder und ihrer Schwester. Auch durch die Augen meiner anwesenden Schwiegertöchter und Schwiegersöhne und der Enkelkinder. Schwer zu verstehen für die, die nur ihre Sichtweise haben. Jeder sieht sich selbst. Denn nichts anderes kann er sehen. Ein jeder sieht immer sich selbst, im Spiel der Formen. Ja, wenn ihr es doch wüsstet, meine Kinder, die ihr nun weint, um mich trauert. Ihr würdet ein Freudenfest feiern. Voller Dankbarkeit wäret ihr über die Möglichkeit mich sehen zu lassen, mich fühlen zu lassen, mich berühren zu lassen. Freudig über alles was mir durch euch möglich ist. Das ganze Leben geschieht nur mir zu Ehren. Würde ich es Ihnen sagen können, sie würden mich für verrückt erklären. Wo möglich als geisteskrank in eine psychiatrische Klinik einweisen. Das Wissen bewahrt sich selbst vor jeglichem Missbrauch. Es wirkt eine Weisheit, die weit über das hinaus geht, was dieser einzelne menschliche Denkmechanismus verarbeiten kann. Das ganze Wissen, die gesamte Weisheit braucht alle Teile. Nur das Ganze hat das Potential für das Alles.
Sie suchen einen Sarg für mich aus. Und alles was so
gebraucht wird um meinen Leichnam unter die Erde
zu bringen. Ich wünschte mir eine Erdbestattung. Mit
verbrennen habe ich es nicht so. Zwei meiner Söhne
und meine Tochter beobachte ich. Sie schauen sich
im Ausstellungsraum des Bestatters um. Von 700.-Â Euro
bis unendlich ist alles zu haben. Furnierte
Kiefer und edles Mahagoni. Auch ein schwarzer
Klavierlacksarg steht da. Ehrlich, mir ist es egal
welchen sie nehmen. Meine Kinder sind vernünftig,
sie wählen nicht den günstigsten Sarg. Sie wählen
die Mittelklasse für 1000 Euro. Das ging ja relativ
friedlich von statten. Na ja, der mittlere Sohn war
nahe dran mal wieder auszurasten, als der Jüngste
sich mit Wohlgefallen dem hochglänzenden und
recht teueren Mahagonisarg zuwandte. Man kennt
das ja von ihm, wenn ihm andere Meinungen
begegnen. Eine Decke wird auch noch gebraucht. Sie
entscheiden sich für eine schlichte Decke auf die ein
schönes Rosengesteck gelegt werden soll. Rechts
und links neben meinem Kopf soll jeweils eine Rose
liegen. Das Deckchen mit Kissen kostet auch
nochmal 200 Euro. Aus meiner Sicht ist das sehr
lustig zu beobachten. Doch sie wissen es ja nicht
anders. Sie glauben, ich wollte das so. Es stimmt
sogar. Ich wollte das wirklich so, als ich noch lebte.
Doch damals wusste ich nicht, was ich heute weiß.
Sie haben mein größtes Verständnis für die
angenommene Wichtigkeit ihres Tuns. Was hängen
da für Kleider über dem Stuhl? Es sind Kleider, die
mir gehörten. Ich wollte zum krönenden Abschluß
dieser Lebensform kein weißes Hemdchen tragen.
Ich wollte Kleidung tragen, die ich auch aus einem
festlichen Anlass getragen hätte. Allerdings haben
sie nicht die gewünschte rosa Jacke genommen.
Wird seine Gründe haben. Die weiße Bluse mit den
Goldknöpfchen und das goldbraune Jäckchen
gefallen mir auch. Mein Leichnam wird damit
bekleidet in dem Sarg liegen, den sie ausgesucht
haben.
Die nette Frau hinter dem Schreibtisch fragt ob sie
Sterbebildchen haben möchten. Ja auf jeden Fall
kommt prompt und einstimmig die Antwort.
Sie wählen ein Bild, auf dem ich 7 Jahre jünger bin.
Bin ganz zufrieden mit ihrer Wahl. Die Sprüche, die
zum Bild gedruckt werden, wurden in meinem
Schreibtisch gefunden. Ich mochte diese Worte. Sie
waren mir Trost in schwierigen Lebensphasen.
Vielleicht hilft es auch dem einen oder anderen, der
mein Sterbebild liest, neuen Lebensmut zu finden.
Mir waren diese Sprüche zu Lebzeiten sehr hilfreich.
Heute sehe ich die Welt mit anderen Augen. Im
wahrsten Sinne des Wortes.
Die Todesanzeige wollen sie selbst bei der
Tageszeitung aufgeben und den Blumenschmuck
auch selbst beim Gärtner aussuchen. Das wäre
persönlicher meinen sie. Meine Kinder sind
engagiert. Die wissen was sie wollen. Der Sarg,
meine Kleidung, die Decke und das Kissen, der
Blumenschmuck, die Sterbebildchen, fehlt noch
was? Oh, fast wäre es ihr entgangen, meiner Tochter.
Sie hat ja noch ihren weißen Rosenkranz in der
Tasche, den sie zur 1. heiligen Kommunion
geschenkt bekam. Da mein weißer Rosenkranz nicht
gefunden wurde, hat sie ihren eigenen genommen.
Sie braucht ihn wohl nicht mehr. Kluges Kind. Um
die Sargträger und den Kreuzträger will sich mein
jüngster Sohn kümmern. Seine Frau wird den
Kirchenchor kontaktieren. Viele Jahre habe auch ich
mit Herzblut in diesem Chor mitgesungen. Auf
meine Stimme war ich immer sehr stolz. Der
sogenannte Leichentrunk wird in einer Gaststätte um
die Ecke stattfinden. Nach einer anstrengenden
Beerdigung haben die Leute Hunger. Hungrig kann
man die keinesfalls nach Hause fahren lassen. Der
mittlere übernimmt den Kontakt mit dem Steinmetz,
der den alten Grabstein und die Umfassung
wegräumen soll. Die haben ganz schön zu tun die
Kinder und ich schau ihnen in aller Seelenruhe zu.
Ja, Seelenruhe, denn so empfinde ich. Wahrhafte
Seelenruhe.
Es tut mir nicht leid, wenn sie weinen. Sie werden es
überwinden, dass ich nicht mehr bin. Über ihre
verrückten Gedanken wundere ich mich auch nicht.
Kenne ich doch alles, war ja selbst auch ein
lebendiger Mensch. Aus meiner Perspektive ist halt
alles verändert. Nichts Altes hat mehr Bestand.
Nachdem der netten Dame noch persönliche Daten
hinterlassen wurden, verabschieden sich meine
Nachkömmlinge.
Nein, auf Wiedersehen ist hier weniger passend.
Ade und Tschüss!
Es scheint so, als wollten sie heute alles erledigen.
Ein kleiner Zwischenstopp bei einer Bäckerei um
eine Kleinigkeit zu essen und einen Kaffee zu
trinken, kurze Zeit später parken sie vor der
Gärtnerei ihrer Wahl. Die Sorge, dass diese evtl.
schon geschlossen hat, konnten sie ausblenden.
Gemeinsam betreten sie den Verkaufsraum. Die
Verkäuferin gestaltet gerade einen wunderhübschen
Strauß aus weißen Rosen und lachsfarbenen Gerbera.
Ich weiß jetzt schon, dass sie diese Farben wählen
werden. Ich weiß es. Die Verkäuferin bittet um einen
kleinen Augenblick Geduld. Sie schauen sich im
Geschäft um. Es gibt einiges zu sehen. Ein unruhiger
Papagei klettert im Käfig rauf und runter, gibt jedoch
keinen Ton von sich. In einem Terrarium unter der
Wärmelampe liegen junge Leguane. Ein Aquarium
mit riesigen Welsen und Fischen, die keiner ihrer
Kinder benennen kann wird entdeckt. Und noch ein
Terrarium mit kleinen Schlangen. Das scheint eine
Gärtnerei mit integriertem Tierhandel zu sein. Der
Papagei saust immer noch im Käfig umher. Die
Verkäuferin fragt nach dem Anliegen. Es ginge um
die Beerdigung der Mutter. Mit einer gespielten,
mitleidsvollen Miene und veränderter Stimmlage
drückt sie meinen Kindern ihr Beileid aus. Der
Papagei schreit schrill durch den Raum. Sie fragt
nach den Wünschen. Ein gemeinsamer schöner
Kranz wird gewünscht. Für den Sarg wird ebenfalls
Blumenschmuck benötigt. Es gibt ein Album mit
Fotos von in der Vergangenheit gestalteten Kränzen,
Gestecken, Blumenherzen usw.
Ihnen gefällt ein ganz in weiß gehaltener Kranz.
Nein, sie wollen ihn nicht so wie auf dem Foto, sie
möchten lachsfarbene Blumen dazwischen. Das habe
ich doch gleich gesagt! Für die Enkelkinder wählen
sie ein über und über mit weißen und lachsfarbenen
Rosen bestücktes Herz. Auf den Sarg kommt ein
langes Gebinde aus lachsfarbenen und weißen
Rosen. In der Art habe ich das noch nie gesehen.
Sieht sicher sehr schön aus. Nun suchen sie den
Text für die Schleifen aus. Auf der Kranzschleife
soll stehen "In lieber Erinnerung Deine Kinder mit
Familien". Mein Sohn meint es müsste "mit Familie"
heißen. Die Verkäuferin setzt dem entgegen: " Nach
der gültigen Rechtschreibung müsse es Familien
heißen." Mein jüngster Sohn gibt nach mit einem:
"Ich hab ja nur gemeint...". Das Blumenherz wird
geziert werden mit " Wir werden Dich nicht
vergessen" und den Namen aller sechs Enkelkinder.
Geht wirklich flott alles. Kaum Reibereien. Das ist
zum einen der Verdienst meiner Tochter, die obwohl
sie manches, könnte sie allein entscheiden, anders
handhaben würde, keinerlei Widerspruch leistet.
Zum anderen daran, dass der mittlere Sohn, der, der
gerne in die Luft geht, nicht anwesend ist. Er ist zur
gleichen Zeit beim Steinmetz, wegen dem Abräumen
des Grabes.
Sie wollen sich nun auch trennen. Meine Tochter
wird mit meiner Enkelin zur Zeitung fahren um die
Todesanzeige zu bestellen. Der jüngste Sohn fährt
zur Leichenhalle, denn um 13 Uhr soll meine leere
Hülle dort ankommen. Da geht ganz schön was ab.
Da die Fahrt zur Leichenhalle länger dauert, werde
ich erst mal ein Auge auf die Anzeigengeschichte
werfen.
Tochter und Enkelin sitzen im Auto. Die Tochter
bedankt sich bei ihrer Tochter dafür, dass sie sich
freigenommen hat, um ihre Mutter zu begleiten.
Diese sagt: " Mama, ich kann Dich doch nicht alleine
in der Gegend herumfahren lassen!" Süß meine
Enkelin.
Sie weiß nicht, dass ich ja auch dabei bin. Woher
sollte sie das auch wissen.
Das hätte ich mir zu Lebzeiten auch nicht träumen
lassen.
Meine Tochter parkt gerade vor der Geschäftsstelle
der Tageszeitung. Begleitet von meiner hübschen
Enkelin. Sie steigen aus, die Enkelin wickelt ihren
super langen dicken Schal vier mal um den Hals
meine Tochter klappt den Kragen ihres Mantels
hoch. Eisige Kälte umgibt sie. Aus dem Kofferraum
holt die Tochter den Vorentwurf meiner
Todesanzeige. Wenn sie etwas macht, dann macht
sie das nicht einfach so, sie nimmt sich Zeit dafür.
Letzte Nacht hat sie lange im Internet gesurft um
einen nach ihrer Meinung passenden und für mich
angebrachten Spruch zu finden. Sie wurde fündig.
Und meine Seele spannte weit die Flügel aus,
gleitet über stille Seen, Felder und Wälder
dem Licht entgegen.
Die Botschaft meines Lebensendes wird begleitet
sein von diesen Worten. Das Bild, das auch in den
Sterbebildchen gedruckt wird wird ebenfalls in der
Todesanzeige erscheinen. Vermutlich wird das eine
oder andere Herzchen angerührt sein von diesen
Worten und ein paar Tränchen vergießen.
Ein paar Stufen und die beiden sind in den warmen
Räumlichkeiten der Geschäftsstelle der
Tageszeitung. Eine sympathische dunkelhaarige Frau
Mitte vierzig lächelt sie freundlich an. Es ginge um
eine Todesanzeige. Die Dame bittet Platz zu nehmen
und legt den beiden eine Mappe mit
Anzeigevorschlägen vor. Sie wählen eine Schriftart
und legen den vorbereiteten Text auf den
Schreibtisch. Mein Konterfei ist als Datei auf einem
USB-Stick mit dabei.
Die dunkelhaarige Mitvierzigern meint, dass die
Anzeige gut aussehe und sagt zu, einen endgültigen
Entwurf per Email zu senden, falls noch Änderungen
gewünscht werden. Das ging ja wieder flott.
Drei Hände werden geschüttelt und mit einem Danke
und Abschiedsgruß sitzen wir wieder im Auto.
Mein Pflegezimmer im Altersheim soll heute noch
geräumt werden. Tochter und Enkelin besprechen
gerade ob sie es gleich machen sollen. Ja, sie wollen
es gleich machen, was erledigt ist, ist erledigt.
Sie sind auf dem Weg zum Pflegeheim, das sich in
25 Kilometer Entfernung befindet. Meine Tochter
sieht sehr müde aus. Die Enkelin holt eine Nagelfeile
aus ihrer übergroßen Handtasche und feilt eine Ecke
ihres Daumennagels gerade.
Diese riesigen Taschen, die heutzutage modern sind,
sind mir schon bei meinen Kirchgängen aufgefallen.
Es drängte sich mir dabei die Frage auf, ob die
Damen zum Einkaufen in die Kirche gingen. Als ich
den Gedanken meiner Tochter gegenüber erwähnte
musste sie lachen.
"Jetzt hat sie ihre Ruhe", sagt meine Tochter. " Ja",
meine Enkelin. Recht haben sie, ich habe nun
Seelenruhe.
"Ich hoffe sie verzeiht mir all das, womit ich sie im
Leben verletzt habe. Sie hat schon einige Narben von
mir." "Du von ihr auch", kommt es leise aus dem
Mund meiner Enkelin. "Das stimmt", ist die müde
Antwort meiner Tochter. Stumm fahren sie weiter.
Meine Enkelin checkt ihr Handy, meine Tochter
schaut sich innerlich Bilder aus der Vergangenheit
an. Bilder der jüngeren Vergangenheit. Fast täglich
hat sie mich im Pflegeheim besucht. Sie wusste, dass
sie wenig für mich tun konnte, außer einfach da zu
sein.
Wenn sie kam hat sie immer als erstes die Vorhänge
aufgezogen. Sie wollte einen ungestörten Blick aus
dem Fenster haben. Danach wurden die Pflanzen
gegossen. Es waren Pflanzen, die sie aus meiner
Wohnung ins Pflegeheim umgesiedelt hatte. Lieder
spielte sie mir auch vor. Eines meiner
Lieblingslieder – Vor meinem Vaterhaus steht eine
Linde....das hörte ich immer gerne. Oder aber eine
CD über den Rosenkranz, teilweise gesprochen,
teilweise lateinische Gesänge. Das mochte ich auch.
Fernseher oder Radio waren mir lästig. Sie hat mich
immer gefragt, was ich möchte, hat nie einfach
eingeschaltet. Das war sehr rücksichtsvoll von ihr.
Heute weiß ich, dass ich in manchmal zu viel von ihr
erwartet und gefordert habe.
Erst jetzt weiß ich es. Und heute weiß ich auch, was
ich versäumt habe ihr im Leben zu geben. In meiner
Gebrechlichkeit und im Schmerz war es mir nicht
möglich das zu erkennen. Sie wäre mir gerne näher
gewesen im Leben, ich weiß, doch ich war mir ja
selbst nicht nahe. Immer kreiste ich um dies um
jenes, war selten bei mir. Immer wünscht ich mir
dies und jenes, war nie da im Augenblick des
Geschehens. Wie kann ein Mensch unter diesen
Umständen einem anderen nahe sein? Jetzt bin ich
dir nahe meine Tochter. Jetzt kann ich dich
verstehen, jetzt würde ich dir die Hände reichen und
dich küssen und umarmen, wenn ich es könnte.
"Ich habe mir immer gewünscht meine Mutter würde
mich in den Arm nehmen und mir einen dicken Kuss
geben", sagt meine Tochter traurig." Sie hat es
nie getan. Selbst, wenn ich sie umarmte war es nur
ein e kurze Umarmung, die sie schnell beendete. Ich
kann mich auch nicht erinnern auf ihrem Schoß
gesessen zu haben, oder dass sie mit mir gespielt hat.
Ich habe mir als Kind immer ihre Aufmerksamkeit
und Zärtlichkeit gewünscht. Ich weiß, dass sie immer
viel Arbeit hatte, ich weiß, dass sie krank war. Ich
weiß, dass sie überfordert war, als sie als junge Frau
schon Witwe war. Das weiß ich alles. Dennoch hat
es mir gefehlt."
"Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass eine Mutter
ihr Kind nicht liebkost" nachdenkliche Worte meiner
Enkelin.
"Ich kannte es nicht anders meine liebe Tochter.
Mein Leben verlief anders als das deinige. Wenn
mich heute jemand fragen würde ob ich eine gute
oder eine schlechte Kindheit gehabt hätte, so könnte
ich nicht genau antworten. Sie war weder gut noch
schlecht. Ich wurde kaum geschlagen, ich bekam
gutes Essen, Kleidung war immer sauber, ein
warmes Bett hatte ich auch, dennoch fehlte so
vieles."
Es fehlt immer etwas meine liebe Tochter.
Irgendwas fehlt immer. Das liegt an der Struktur des
Menschen. An der Art wie Mensch funktioniert.
Immer wenn das Außen zu viel abverlangt geht
wesentliches verloren.
Das Außen hat mir zu Lebzeiten eine Menge
abverlangt. Das konnte ich nur bewältigen indem ich
mich der Oberfläche zu wandte. Hätte ich dies nicht
getan, wäret ihr damals verwahrlost, dreckig,
unversorgt mit den notwendigen Dingen
aufgewachsen. Ich hätte es sonst einfach nicht
gepackt. Wenn du meine Tochter das irgendwann
verstehen könntest, das wäre schön.
Es hing so vieles an mir. Ich war allein ohne
Ehemann, zwei kleine Kinder, das Geschäft und
dann noch der Wunsch einer jungen Frau, die leben
will, so wie junge Frauen nun mal leben.
Ja, es war mir lästig, dass meine Mutter mich aus
dem Kino holen lies, weil ihr zuhause geheult und
geschrien habt. Es war mir lästig, dass ich nicht
ausgehen konnte wie es mir beliebte, weil ihr damals
da ward. Ich hatte mir ein anderes Leben gewünscht,
als diese Last in jungen Jahren. Und ich gab euch
damals, was ich zu geben vermochte.
Auch ein paar Jahre später als ich einem neuen
Partner begegnete war das so. Bald darauf bekam ich
kurz nacheinander zwei Kinder von diesem Mann
und hatte noch mehr Arbeit. Nicht nur wegen der
Kinder, auch wegen diesem Mann, der mir damals
auch wichtig war und den ich nicht verlieren wollte
und mich deshalb sehr um ihn bemühte. Da war
einfach so.
Liebe Tochter ich wünsche Dir dass Du verstehst,
denn nur was man versteht kann man auch vergeben.
Das was ein Mensch gibt kann niemals verglichen
oder aufgewogen werden. Es ist immer das, was
gegeben werden kann.
Im Winter wärmen uns die Strahlen der Sonne nicht
in dem Maße wie es im Sommer der Fall ist.
Es ist einfach so!
Ich bin am Friedhof, der Bestatter fährt gerade den
Leichenwagen vor die Leichenhalle. Mein jüngster
Sohn wirft seine nur halb gerauchte Zigarette weg.
Sichtlich aufgewühlt geht er Richtung Leichenhalle.
Der Sarg mit der seitlichen Schnitzverzierung, in
dem meine sterblichen Ãœberreste liegen, wird auf
einer Schiebevorrichtung aus dem Auto
herausgeschoben, direkt auf einen Transportwagen.
Jetzt schieben sie diesen in Richtung
Aufbewahrungsfläche. Dort wird mein Leichnam die
nächsten Tage liegen. Heute ist Donnerstag. Die
Beerdigung ist erst am Dienstag. Solange bleibt der
Sarg mit meiner Hülle hier, gekühlt von einer
Kühlanlage. Sie nehmen den Deckel des Sarges ab.
Jetzt kann ich meinen verstorbenen Leib sehen. Gut
sieht er aus. Rosen rechts und links neben meinem
Kopf, die Haare schön gekämmt, die Augen
geschlossen, der weiße Rosenkranz gehalten von
meinen leblosen, gefalteten Händen, die auf einer
beigen Decke liegen, deren Rand etwas dunkler
gehalten ist. Ein kleines Rosengesteck liegt auch
darauf. Ich hätte nicht gedacht, dass ich als Leiche so
attraktiv aussehe. Gefällt mir, wie ich so daliege.
Jetzt bemerke ich, dass mein jüngster Sohn in Tränen
ausgebrochen ist. Er kann sie nicht mehr
zurückhalten. Ich frage mich um was er weint? Er
weint, weil er mich letztes Wochenende nicht
besucht hat und auch die Tage davor sich
nicht die Zeit nahm mich zu besuchen. Er weint, weil
er mein nahes Ende verdrängt hatte. Ja mein
Söhnchen, die Gelegenheit hast Du verpasst, die
kommt auch nicht mehr. Deine Mutter ist aus
Deinem Leben gegangen, hat ihr Lebenskleid
abgelegt. Das was ich jetzt bin siehst, hörst, fühlst du
nicht mehr. Dennoch bin ich, aber das weißt du noch
nicht. Noch ein bisschen Leben, dann wirst auch du
verstehen, so wie ich nun verstehe. Alles hat seine
Zeit.
Ich würde ihm gerne sagen, dass alles gut ist, wie es
ist und dass er seine Gründe hatte, die ihn von
meinem Pflegebett fernhielten. Ich kann es nicht
mehr. Mein liebes jüngstes Kind auch das wirst du
verarbeiten. Wenn du dir deine eigene Geschichte oft
genug angehört hast, wirst du ihrer überdrüssig sein
und eine neue erzählen. Auch diese wird ihr Ende
finden. Es sind Geschichten, gebildet aus Gedanken,
die Gefühle erzeugen und umgekehrt.
In meinem momentanen Bewusstseinszustand gibt es
das, was ich früher als Mitleid bezeichnet hätte nicht.
Es gibt nur die glasklare Sicht auf das was gerade
geschieht. Es gibt kein Bereuen, keine Vorwürfe,
keine Hoffnung, nichts dergleichen. Es ist eine
himmlische Ruhe , mag da geschehen was immer
geschehen mag, sie verändert sich nicht. Kein
einziger Gedanke stört diese Einheit mit dem
Geschehen.
Er weint immer noch. Der Bestatter legt zusammen
mit einem Gehilfen nun einen Plexiglasdeckel auf
den Sarg. So ist der Leichnam in einem
geschlossenen gekühlten Bereich und wer mein
Lebenskleid noch einmal sehen möchte, kann es
dennoch tun. Der Bestatter übergibt meinem Sohn
den Schlüssel der Leichenhalle. Er verabschiedet
sich nach Bestatterart mit einem tröstenden Spruch
und lässt meinen Sohn mit meiner sterblichen Hülle
allein in der Leichenhalle.
"Schön siehst du aus", schluchzt er. "Es tut mir so
leid, dass ich dich nicht besucht habe die letzten
Tage. Ich fühle mich so unendlich schuldig, weil ich
nicht da war, als du gegangen bist. Es tut mir jedes
ungeduldige Wort leid, das ich dir im Leben sagte.
Es ist mir nicht möglich in Worte zu fassen was ich
fühle. Es zerreißt mich, es drückt mir auf das Herz,
es fühlt sich so kalt an. Du wirst eine schöne
Beerdigung haben. Mit Rosenkranz, Seelenamt, der
Kirchenchor wird singen, so wie es dir immer
gefallen hat, wenn du auf Beerdigungen warst. So
haben wir alles geregelt."
Still lausche ich ihm. Ich kenne seinen Schmerz sehr
wohl. Es war eine schmerzerfüllte Zeit, als mein
Mann vor vielen Jahren starb. Ich weiß genau, was
Mensch fühlt in dieser Situation. Und ich weiß, dass
er es überwinden wird, wie ich es damals auch tat.
Alles hat seine Zeit.
Er weint und schluchzt, Tränen tropfen auf den
Plexiglasdeckel. Er wischt sie mit dem Ärmel seiner
Strickjacke ab. Seine Hände liegen übereinander auf
dem Deckel. Seine Stirn darauf. So beweint er das
vergangene Leben seiner Mutter.
Die ganze Betriebsamkeit hat ihre Wichtigkeit
verloren. Alle nicht stornierbaren Termine auf
wundersame Weise abgesagt. Die Welt dreht sich
weiter. Ein Todesfall rückt im Leben alles
zurecht, an den ihm zustehenden Platz. Das Untere
kann dabei nach oben rücken und das Oberste ganz
nach unten. Ich weiß, es dauert nicht lange und das
Leben verrückt wieder alles. Verrückt
Der Mittlere parkt vor dem Platz mit den vielen
Grabsteinen. Der Steinmetz nutzt diesen Platz als
Lager und auch als Ausstellungsraum. Er bleibt
sitzen, steigt noch nicht aus. Er hält den
Zigarettenanzünger an seine Zigarette. Er raucht viel
und er weint. Seine Finger zittern. Er ist wütend.
Wütend auf das Leben, mit dem er so schwer klar
kommt. Er spricht schnell und viel und wo er ist
verbreitet er Unruhe. Es ist die Unruhe, die in ihm
ist. Sein Geist findet keine Ruhe. Ständig hält er sich
in der Vergangenheit auf und diese war selten schön
für ihn. Wenn er hier in diesem Moment bleiben
könnte, wenn es ihm möglich wäre einfach zu
fühlen, was jetzt ist, das wäre für ihn hilfreich. Er
kann es nicht. Während er bei heruntergelassenem
Fenster raucht, laufen Filme ab. Filme in denen ich
eine Rolle spiele. Ich die Mutter, die in so vielem
versagt hat, was ihn betrifft. Ich konnte nicht anders,
war ja auch nur ein dummes Menschenkind.
Menschen versagen oft, weil sie zu gut sein wollen.
Sohn, mache dir das Leben doch nicht so schwer,
würde ich ihm gerne sagen. Jetzt könnte ich ihn
umarmen, wenn ich es könnte. Im Leben konnte ich
meine Kinder nicht umarmen. Ich konnte es nicht.
Meine Tochter hat mich manchmal in den Arm
genommen. Es war für mich schwierig damit
umzugehen. Dennoch habe ich sie alle auf meine
Weise geliebt, so wie es mir eben möglich war.
Er steigt aus, wirft den Stummel auf den Boden und
tritt die Glut aus. Ein tiefer Atemzug, er hat seine
Rüstung wieder angezogen. Er braucht sie, als
Schutz, er fürchtet die Menschen. Keiner glaubt es,
der ihn nicht wirklich kennt.
Der Steinmetz wird am nächsten Tag das Grab
meines Mannes, das nun das meine werden wird,
abräumen. Er informiert meinen Sohn, dass er für
das Setzen des Grabsteines ein gutes halbes Jahr
warten soll. Die Erde wird sich noch stark setzen und
solange dies der Fall ist, sollte der Grabsein nicht
gesetzt werden. Mein Sohn fragt nach der Uhrzeit,
der Steinmetz wird es gleich morgen machen. Mein
Sohn möchte dabei sein. Kein Problem für den
Steinmetz.
Im Anschluß fährt er direkt zum Friedhof. Er geht
zum Grab meines Mannes und gräbt die
Grabbepflanzung mit blosen Händen aus. Er gräbt
und weint. Er gräbt, entfernt die Pflanzen und trauert
um verpasste Momente der Harmonie mit mir seiner
Mutter.
Zu gerne würde ich ihn in den Arm nehmen, wenn
ich es könnte. Â
Ausräumen
Ja, hier habe ich meine letzten Tage gelebt. In
diesem Zimmer im Pflegeheim. Wir sind inzwischen
angekommen. Die Pflegeschwestern entschuldigen
sich dafür, dass das Zimmer so schnell geräumt
werden muss. Es sind viele Interessenten da. Bevor
der oder die neue Bewohner/in einzieht soll noch
renoviert werden. Meine Tochter fragt die
Schwester, ob sie Kleidung benötigen. Ja, können
sie, es wäre eine Frau auf der Station, die nur wenige
Kleidungsstücke hier hat. So kann meine Kleidung
jemandem noch nützlich sein. Das ist prima. Meine
Tochter und Enkelin haben Klappkisten dabei. Darin
wird alles andere was die Station nicht brauchen
kann verpackt. Kleinigkeiten, die schnell verstaut
sind. Die Blumen wollen sie auch behalten. Die erst
vor zwei Tagen gekauften Lagerungskissen vermacht
meine Tochter auch dem Pflegeheim. Die
Schwestern sind sehr erfreut darüber und bedanken
sich. Mutter-Gedächtnis-Lager-Kissen denkt meine
Tochter.
Dir helfen sie nicht mehr Mutter, dann wenigstens
einem anderen.
Die Klappkisten werden auf den Rollator gepackt
und das war es. Diese Arbeit ist nun auch erledigt.
Die Lebenden haben ganz schön zu tun für mich
Tote, stelle ich fest. Vier Leute waren nun fast den
ganzen Tag unterwegs und tätig um die ersten
notwendigen Schritte zu erledigen.
Es wird noch Vieles folgen, das zu tun ist, für den
heutigen Tag ist es genug.
Es erstaunt mich, dass einige der Schwestern traurig
berührt über mein Dahinscheiden sprechen.
Es ist eine schwere Arbeit, die sie tagtäglich
vollbringen müssen. Da müssen Arbeiten erledigt
werden, die Menschen an die Grenzen des
Möglichen bringen können. Zudem sollen sie immer
verständnisvoll und freundlich sein. Ich ziehe
meinen Hut vor euch meine lieben Pfleger und
Pflegerinnen, ihr habt mir sehr geholfen die letzten
Erdentage auszuhalten. Ich bin ganz zufrieden dass
ich mein altes Haus verlassen konnte. War keine
Freude mehr darin zu wohnen. Es dauert bis man
weiß wie man da raus kommt, doch dann geht es
ganz leicht.
Und nun, da wo ich jetzt bin gibt es weder gut noch
schlecht. Es ist ein neutrales wahrnehmen dessen
was geschieht.
Der Rollator macht etwas Probleme, sie müssen
noch den richtigen Dreh rausfinden, damit mein
braver Diener ins Auto passt. Die Kisten packen sie
auf den Rücksitz. Und nun geht es nach hause.
"Auch das ist ein Abschied", denkt meine Tochter,
"jetzt habe ich keinen Grund mehr an diesen diesen
Ort zu fahren. Habe auch hier einige Menschen
kennen gelernt. Die ehemalige Leiterin des
Pflegeheimes eine 77jährige Ordensschwester, die
nun selbst ihren Lebensabend hier verbringt. Eine
immer gut gelaunte, positiv eingestellte Frau. Der
Mann aus meinem Wohnort, der meinte er wäre nur
einige Wochen hier, wegen seiner Fußverletzung, er
ist nun schon einige Monate hier. Die Frau, die hier
an diesen Ort gezogen ist um ihren Mann täglich im
Pflegeheim besuchen zu können.
Der alte Pfarrer, der Samstags immer seine sieben
Sachen packt, weil er glaubt von seinem Bruder
abgeholt zu werden. Die alte Frau, die mit der
Babypuppe täglich auf der Couch im Flur liegt. Die
kleinwüchsige Frau, mit der kraftvollen Stimme, die
regelmäßig das Heim besucht, mit den Bewohnern
singt, oder spielt, oder den einen oder anderen im
Rollstuhl spazieren fährt. Dann noch die vielen
Begegnungen mit den Pflegerinnen. Ja, es gab viele
Begegnungen hier. Doch bin ich froh, dass es nun
ein Ende hat."
" Was essen wir heute Abend", unterbricht meine
Enkelin die Gedankengänge meiner Tochter.
"Hast Du eine Idee?"
"Wie wäre es mit Spaghetti mit Tomatensoße und
Salat?"
"Prima, das geht schnell und schmeckt gut!"
"Ich bin ganz schön geschafft"
"Ist ja auch nicht alltäglich, dass die Mutter stirbt."
"Das stimmt allerdings. Es ist eine einmalige, sich
niemals wiederholende Erfahrung!"
Nun bin ich schon sechs Tage in diesem neuen
Seins-Zustand. An die Vielzahl der Möglichkeiten
muss ich mich erst noch gewöhnen. Es ist scheinbar
alles möglich. Nur ein Gedanke z. B. an das
Pflegeheim, wo ich die letzten Lebenstage
verbrachte – zack bin ich dort. Ich habe festgestellt,
dass es am harmonischsten verläuft, wenn ich keinen
Einfluss nehme. Wenn ich mit der Strömung, die
gerade vorherrscht mit-ströme. Ein
Sich-Treiben-Lassen auf neue unbekannte Art. Bei
diesem mich Treiben lassen stellte ich fest, dass
mich Gedanken anziehen, die mit mir zu tun haben.
So stand ich plötzlich hinter meiner Schwägerin, die
gerade eine Trauerkarte für meine Kinder schrieb.
Sie dachte an verschiedene Ereignisse, die wir
gemeinsam erlebten. Gestern Nacht hat meine
Tochter lange über mich nachgedacht. Sie saß in
ihrem Bett. Es war 3 Uhr morgens. Sie konnte nicht
einschlafen. Und ich saß ganz dicht neben ihr, stellte
mir vor, dass ich den Arm um ihre Schultern lege.
Ich fühlte mit, als eine starke Energiewelle ihren
Körper durchströmte. Es war die Energie, die sie mir
gegeben hatte. Nun bekam sie diese zurück. Es ist
alles wunderbar geordnet im Leben wie im Sterben.
Wer an diesen Vorgängen etwas auszusetzen hat
sollte sie noch ein wenig länger studieren.
Vollkommene Harmonie besser ist es nicht zu
umschreiben. Mehr kann auch gar nicht gesagt
werden, denn jedes Wort ist verbunden mit einer
Vorstellung. Diese Vorstellung ist nur ein Bild, das
niemals diesem was ich gerade erlebe gerecht
werden kann.
Heute ist meine Beerdigung. Mein altes Haus wird
der Erde übergeben. Ich habe nichts mehr damit zu
tun. Alte Kleider kommen in den Altkleidersack.
Mein kaputter alter Leib kommt in die Erde.
Er war mir zuletzt eine riesige Last, die ich nur mit
Dopingmitteln tragen konnte. Und das auch nur mit
Unterstützung meiner guten Pflegematratze. Es ist
gut, dass ich ausgezogen bin. Ich habe diese Last los
und fühle mich so frei wie nie.
Um nichts muss ich mich kümmern und für nichts
brauch ich sorgen. Es ist ein Empfinden als wäre die
Last von zehn Tonnen von mir gefallen. So schwer
können Gedankenkonstrukte, Moral,
Glaubenskonzepte wiegen. Unvorstellbar. Ich habe
die Welt überwunden und nichts zieht mich dahin
zurück. Die Mär vom tragischen, traurigen,
fürchterlichen, ach so schrecklichen Tod brauch ich
auch nicht mehr zu glauben. Ich weiß nun, und
dieses Wissen ist Gewissheit. Dieses Wissen wurde
mir zu eigen. Ein Wissen, das niemand missbrauchen
kann. Denn um es zu erwerben muss ein Tor
durchschritten werden, das dieses Wissen schützt. Ist
dieses durchschritten gibt es kein zurück mehr. Es
gibt hier keine Hölle, kein Fegefeuer, kein Himmel,
zumindest bin ich bisher nichts dergleichen
begegnet. Ich bin außer mir hier niemandem
begegnet. Es gibt nach wie vor die Welt, in der ich in
einer Hülle lebte,die ich nun abgelegt habe. Ich bin
immer noch in dieser Welt, körperlos, befreit, leicht,
wissender.
Wie befreiend wäre es, würden Menschen im Leben
ihre Angst vor dem Sterben, vor dem Tod verlieren.
Am liebsten würde ich jedem sagen, Mensch, fürchte
dich nicht vor dem Tod. Lebe ohne Angst und
erkenne das Geschenk jeder einzelnen Erfahrung im
Leben. Es gibt nichts zu fürchten. Selbst wenn du
krank bist, musst du dich nicht fürchten vor dem was
kommen mag. Ich war krank im Leben, sehr krank.
Es gab Zeiten, da habe ich mit meinem Schicksal
gehadert und mir dadurch das Leben noch schwerer
gemacht. Es wurde leichter im Leben für mich, als
ich mich dem Unabänderlichen hingab, keinerlei
Widerstand mehr leistete. Der Schmerz war leichter
zu ertragen und die Hilfe der Pflegerinnen und
Pfleger beschämten mich auch nicht mehr. Durch
das mich hingeben tat ich die ersten Schritte in
Richtung Tod. Ich selbst musste mich freigeben zum
Sterben.
Ohne mein Einverständnis wäre ich noch in meiner
alten baufälligen Hütte, ein leidendes Menschlein,
das sich vor dem Tod fürchtet und das Leben
verflucht. Diese Freiheit hat der Mensch, nur weiß er
im Leben nichts davon. Mehr sage ich nicht dazu.
Man sollte ja die Spannung nicht wegnehmen.
Noch ein paar Stunden, dann beginnt das Seelenamt.
Danach werden sie meinen leblosen Körper in die
Erde legen und halt die Dinge tun, die Menschen so
tun wenn sie Ihresgleichen beerdigen.
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Ich gehe unbemerkt durch die Reihen der gut
gefüllten Kirchenbänke. Es ist nun soweit. Das
Seelenamt wird in wenigen Minuten beginnen.
Erstaunlich viele Menschen sind hier. Auf dem Altar
erblicke ich ein wunderhübsches Rosengesteck in
weiß und lachsfarben. Es kommen immer noch
Menschen in die Kirche. Auch mein Ex ist da,
alleine, seine Neue hat er wohl aus Taktgefühl
meinen Kindern gegenüber zuhause gelassen. Finde
ich sehr rücksichtsvoll von ihm. Die Frau meines
verstorbenen Cousins entdecke ich, sie weint. Sie
macht sich Vorwürfe, weil sie mich nicht besucht hat
im Pflegeheim.
Die geschiedene Frau meines Bruders sitzt mit
meiner Nichte, ihren Söhnen und deren Partnerinnen
in einer Bank. Sie denkt darüber nach ob ihr Exmann
wohl auch da ist. Wenn ich könnte würde ich sie
beruhigen. Er ist nicht da, der hat gerade anderes
vor. Der wartet auf dem Friedhof bis der Bestatter
die Kondolenzliste auslegt. Er will als Erster seinen
Namen eintragen, als Ärgernis für seine Exfrau, er
rechnet fest damit, dass sie es sehen wird, dann wird
er wieder verschwinden. Er hat nicht vor an der
Beerdigung teilzunehmen. Es soll jedoch so
aussehen, als wäre er da gewesen. Tja, so ist mein
Bruder, ein verrückter Kerl.
Alle meine Nachbarn sind da, noch lebende
Schulkameraden, Frauen mit denen ich die letzten
gesunden Tage ab und an unterwegs war, und
welche, die wegen der Kinder da sind, ihre
Schwiegereltern soweit noch am Leben und Freunde,
die mich auch kennengelernt hatten. Eine stattliche
Anzahl Menschen ist hier, ich schätze dass es um die
zweihundert Leutchen sind. Ich staune. Mir war
nicht bewusst, dass so viele sich meiner erinnerten.
Lebte ich doch seit eineinhalb Jahren sehr
zurückgezogen und hatte nur mit wenigen noch
Kontakt. Für mich altes Weibchen doch eine große
Ãœberraschung.
Meine Kinder sitzen mit ihren Familien in zwei
Reihen hintereinander. Sie sind still, keiner weint.
Jeder in Gedanken bei mir. Verschiedene
Geschichten, Ereignisse aus unserem gemeinsamen
Leben erscheinen ihnen. Meine Tochter denkt
gerade, falls ich das alles sehe, würde ich wohl
zufrieden sein. Ich bin mehr als zufrieden liebe
Tochter. Ich bin in Frieden mit allem.
Ein Sohn bereut seine harten Worte und den Streit,
den wir hatten vor drei Jahren. Ich trage dir nichts
nach mein Sohn, es ist dein eigener Vorwurf und nur
du kannst dir vergeben.
Mein ältester Sohn verurteilt sich, weil er keine
Trauer fühlt. Gut so Sohn, es gibt keinen Grund zu
trauern nicht wegen mir. Ich bin in Harmonie mit
dem Geschehen. Nichts müsste anders sein.
So hängt jeder seiner eigenen Geschichte nach.
Menschen denken einfach zu viel und nehmen alles
viel zu wichtig im Leben. Nein, nicht alles, manches
nehmen sie zu wichtig und das was ihnen wichtig
sein sollte übersehen sie. Egal, jeder kommt
irgendwann auf den Trichter.
Ich setze mich neben meinen Lieblingsenkel. Ja, ich
hatte so etwas im Leben. Er kam genau zur rechten
Zeit zu mir. Seine Mutter wollte nach dem
Mutterschutz wieder arbeiten gehen um ihren guten
Job nicht zu verlieren. So kam der kleine Mann in
mein Leben und erfüllte mein damals depressives,
sinnloses Leben mit einem neuen Sinn. Ein kleiner
neuer Mann in meinem Leben, den ich umsorgen,
behüten, liebkosen konnte. Einige Monate vorher
hatte ich eine schmerzhafte Trennung von meinem
Lebenspartner durchlitten. Dieses Kind war wie ein
Engel für mich, es war einfach da und gab meinem
Leben einen neuen Sinn. Ich streiche ihm lächelnd
über sein trauriges Haupt. Er ist sehr traurig darüber,
dass ich nicht mehr bin. Doch er wird es gut
verwinden. Als ich noch zuhause wohnte hat er mich
täglich besucht. Im Pflegeheim war das nicht mehr
möglich. So ist mein Dahinscheiden nicht ganz so
einschneidend für ihn. Er war für mich, wie ein
eigenes Kind.
Er kratzt sich am Kopf, ob er mich fühlen kann?
Der Organist beginnt sein Orgelspiel. Der
Kirchenchor stimmt mit ein. Schön singen sie, ach
wie gerne habe ich früher mitgesungen, es war mit
die größte Freude in meinem Leben, das Singen.
Nach ca. vierzig Minuten ist das Seelenamt zu Ende.
Alle Anwesenden, der Kreuzträger voraus, gefolgt
vom Pfarrer und den Ministranten, meine nächsten
Angehörigen usw. wallen zum Friedhof. Das dauert
nicht sehr lange. Ein paar Minuten. Dass ich meine
eigene Beerdigung bei vollem Bewusstsein erlebe,
das hätte ich mir nicht träumen lassen im Leben, echt
nicht.
Es ist ein langer Zug, der sich dahinzieht.
Allen voran tritt das Mädchen, das das Kreuz trägt durch das Tor des Friedhofes. Gefolgt von zwei Ministranten, dem Pfarrer, meiner Erd-Familie, Angehörige, Freunde und viele andere. Auf dem Friedhof haben sich bereits einige Personen eingefunden, die das Seelenamt nicht mitgefeiert haben.
Im offenen Teil der Friedhofskapelle ist mein Sarg aufgebahrt, der nun verschlossen ist. Ein weiß und lachsfarbenes Blumengebinde deckt den gesamten Sargdeckel ab. Links neben dem Sarg ein wunderschöner Kranz ebenfalls in weiß und lachsfarben gehalten. Rechts davon ein großes Blumenherz. Die Gärtnerin hat das wirklich wunderschön gestaltet. Die Blumen wirken sehr frisch und die Farben strahlen. Schade, dass sich so wenige der Anwesenden an dieser Blumenkunst erfreuen. Die Angehörigen nehmen links auf bereit gestellten Stühlen platz. Der Pfarrer steht mit den Ministranten vor dem Sarg. Rechts hat sich der Kirchenchor eingefunden. Sie singen unter anderem auch das Lied „So nimm denn meine Hände“. Dieses Lied habe ich bei der standesamtlichen Trauung meines jüngsten Sohnes auf dem Standesamt zum Abschluss als Solo gesungen. Das ist der Grund warum meine Schwiegertochter und mein jüngster Sohn nun besonders gerührt sind und schluchzen. Es folgen noch Gebete des Pfarrers. Ich werde diese Zeit nutzen um durch die Reihen der Trauergäste zu schweben. Rosalie, eine Frau mit der ich in guten Zeiten immer unterwegs war, hat gerötete Augen, sie denkt gerade an ihre letzte Begegnung mit mir im Pflegeheim. Damals fragte sie mich, ob ich es denn gewollte hätte, dass ich hier im Heim bin. Ich antwortete ihr, dass ich ja sonst nicht hier wäre, wenn ich es nicht gewollt hätte. Sie hat es mir nicht geglaubt. Nun ja, ich hatte ja keine Wahl. Meine Tochter wäre mit meiner Pflege überfordert gewesen. Meine Schwiegertöchter konnten es sich erst gar nicht vorstellen mich zu pflegen. So kam nur das Pflegeheim in Frage. Meine Schwägerin mit ihren Kindern und Schwiegerkindern. Sie denkt immer noch über meinen Bruder nach, fragt sich ob er irgendwo in der Menschenmenge ist. Nein, ist er nicht. Nachdem er sich als erster in der Kondolenzliste eingetragen hatte, ist er wieder verschwunden. Sie hat ihm nicht verziehen, was alles zu Ehezeiten geschehen war. Und weil sie dies nicht tat, ist sie immer noch an ihn gefesselt, nicht wirklich frei. Sie kann nicht anders.
Jetzt bin ich bei meinem Ex. Oh, Oh, na Alter, warum heulst du denn so, würde ich ihn gerne fragen. Er weint, weil er sich schuldig fühlt. Er weint, weil er mich nicht gegrüsst hat, als ich an ihm vorbei ging. Er weint, weil er mich nie besucht hat, obwohl er es gerne getan hätte. Mit seiner Neuen konnte er darüber nicht reden. Sie hätte ihn nicht verstanden. Er weint auch,weil er sich nicht sehr wohl fühlt, dort wo er nun sein Zuhause hat und sich nie zeigen kann wie er ist. Er hat Vorstellungen zu erfüllen, ihre Vorstellungen. Er weint auch um verpasste Chancen eine gute Beziehung zu unseren Söhnen aufzubauen. Ja, du bereust eine ganze Menge Alter. Ob du das klären kannst bist du selbst in der Kiste liegst? Vermutlich nicht. Wegen mir brauchst du nicht heulen, nicht mehr. Ich habe das Leid der Welt hinter mir gelassen. Leicht und befreit und seelenruhig bin ich. Wunschlos leicht.
So gleite ich durch die Reihen der Menschen und höre die Gedanken und sehe Tränen, die meist wenig mit mir zu tun haben. Eher mit ihrer eigenen Geschichte. So ist das mit den Menschen. Sie trauern um das unumgängliche Ende ihrer Körperlichkeit. Sie sind traurig, weil sie wissen, dass sie altern werden. Sie weinen, weil sie nicht wirklich lebendig sind oder sich nicht so fühlen. Sie betrauern ihren mangelnden Mut sie selbst zu sein und das Gefangensein in gesellschaftlicher Norm und Moral. Zugeben tun sie das nicht, als machen sie sich vor, dass sie wegen mir weinen. Ich weiß, dass dies nicht der Fall ist. Aber egal. Es kommt der Augenblick, an dem sie sich selbst nicht mehr belügen können, das ist gewiss. Spätestens, wenn ihr letztes Stündchen schlägt, dann spätestens beginnt die Stunde der Wahrheit. Dann wird unumstößlich klar, dass Mensch Irrlichtern statt dem wahren Licht gefolgt ist und dass der Schein des Geldes nichts ist gegen das Licht des Lebens.
Die Frage warum diese Erkenntnis nicht früher reift in den meisten Mitmenschen kann ich mir sparen. Sie reift, wenn sie reift. Es ist wie in der Natur. Alles folgt den Gesetzen des Lebens, der Natur. Auf fruchtbarem Boden reifen die Früchte anders als auf kargem, trockenen oder zu nassen Boden. Und die Frage warum der eine Same dahin fällt und ein anderer dort hin, darauf gibt es keine andere Antwort als: ES IST EINFACH SO.
Und da!? Da ist ja der Steinewerfer mit seiner Frau. Sie kamen nicht umhin zu meiner Beerdigung zu gehen, da sie ja auch im Kirchenchor mitsingen. Was habe ich mich zu Lebzeiten über euch geärgert, grün und blau habe ich mich wegen euch geärgert. Wenn diese beiden Steine in ihrem an meinen Garten grenzenden fanden wurde nicht lange überlegt und zack flogen sie über den Zaun hinüber in Nachbars Garten. Dies geschah auch mit fauligem Obst oder Schnecken. Da ich meinen Garten sehr liebte, hat mich dies natürlich sehr geärgert. Auf diese Art Nachbarn kann Mensch gut und gerne verzichten. Rosalie berichtete mir, dass sie beobachtet hätte, dass der Steinewerfer sich nicht zu schade war als ich im Krankenhaus lag des nachts meinen prachtvollen Endivien zu klauen. Man stelle sich das vor. Heute berührt mich dies alles nicht mehr. Ich bewege mich nun in anderen Welten.
Nun gehen vier Sargträger zu meinem Sarg und greifen nach den mit weißen Taschentüchern umkleideten Griffen. Der Sarg liegt auf einer rollbaren Bahre und sie rollen ihn nun über eine Rampe hinunter auf den Weg der zu meinem Grab führt. Meine Kinder und die Familie folgen, danach alle anderen Anwesenden. Das letzte Stück zur ausgehobenen Grabstätte müssen sie mich tragen. Sie stellen am Grab meinen Sarg auf die bereitliegenden Hölzer, die quer über dem Grab liegen. Menschen sind immer wieder betroffen wenn sie unmittelbar an diesem an die zwei Meter tiefen Loch stehen, in das der Sarg hinab gelassen wird. Erde zu Erde Staub zu Staub.
Ein tiefes Loch für eine Hülle, die der eine gern, der andere voller innerer Ablehnung getragen hat.
Ich bin darüber dankbar diese alte, verbrauchte und kranke Hülle abgelegt zu haben.
Aus meiner Perspektive sieht die Welt nun völlig anders aus.
Nach und nach treten die meisten Anwesenden an mein Grab. Manche werfen Blumen in die Tiefe.
Einen letzten Gruß nennen das die Menschen. Sie sollten die Blumen den Lebenden schenken, das wäre sinnvoller.
Plötzlich bemerke ich, dass ich nicht alleine hier bin, wo ich bin. Ich staune nicht schlecht, als ich meinen vor vielen vielen Jahren tödlich verunglückten Ehemann auf der Bank und der Linde in der Mitte des Friedhofes genüsslich eine Zigarette rauchen sehe. Jung, zufrieden und freudig lächelt er mir zu. Ich kann nicht anders als ihn anstarren. Ich weiß er ist nur wegen mir da. Und ich weiß, dass er mir den Weg zeigen wird, wohin auch immer. Gewiss ist, dass mich nichts abhalten wird ihm zu folgen. Er ist da, weil ich es bestimmt hatte. Immer wenn ich zu Lebzeiten an seinem Grab stand, es ist das gleiche Grab, in dem nun mein Erdenleib liegt, habe ich ihm gesagt, wir werden uns wieder sehen. Und so ist es. Es ist noch eine große Distanz zwischen uns. Es liegt an mir auf ihn zuzugehen. Er wird warten, bis ich komme. Wie ein kleiner Wirbel sause ich nochmals wie ein übermütiges Kind durch die Reihen. Ohne Wehmut und ohne jeglichen Wunsch. Meine Kinder nehme ich eins nach dem anderen in die Arme und küsse sie . Sie werden bald den Friedhof verlassen und mit ihnen auch ich. Nun beginnt eine Reise in eine neue Dimension. Eine Reise, ohne Reisefieber, eine Reise die niemals enden wird.
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Eins ist gewiss, wir sehen uns wieder.
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Mach´s gut, bis dann!
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Ich sitze hier auf der Bank unter der Linde in der Mitte des Friedhofes. Ich bin schon 55 Jahre in der jenseitigen Welt. Jenseitige Welt, damit ist unsichtbare, die körperlose Welt gemeint. Mein Tod war bedingt durch einen Verkehrsunfall. Ich fuhr mit meinem Motorrad zur Arbeit. Noch keine zehn Minuten war ich unterwegs als es passierte. Es gab keine Möglichkeit mein Schicksal zu wenden. Auch das Lebensende des Motorradfahrers mit dem ich zusammengestoßen bin war beschlossene Sache. Es war aus der Sicht eines Lebenden ein fürchterlicher Schicksalsschlag, unfassbar, ein Schock. Zwei junge Menschen starben fast gleichzeitig. Meine Frau war dreiundzwanzig, Mutter zweier Kinder und von jetzt auf nachher Witwe. Es war eine schwierige Zeit für sie. Ich weiß, dass sie sehr oft überfordert war und sich sehnte ein schönes Leben zu leben und sie sehr um mich trauerte, mich sehr vermisste.
Bei dem Unfall wurde ich sofort getötet. Quasi von jetzt auf nachher war ich außerhalb meines Körpers. Schmerzen hatte ich keine. Das Einzige was mir etwas Schwierigkeiten bereitete war die Art, wie ich nun alles wahrnahm. Da war immer noch ein „Etwas“ das alles beobachtet, das wahrnimmt, das fühlt. Ich sage absichtlich ein „Etwas“ weil „Ich“ nicht mehr passend ist. Dieses Ich das Menschen so wichtig nehmen ist ab den Moment, in dem der Körper stirbt nicht mehr existent. Kein Ich mehr, nur noch ein Etwas. Ich weiß, das ist verwirrend für die Lebenden.
In Worten kann eh nicht beschrieben werden, wie es ist ohne Körper zu sein.
Alles was am Unfallort geschah konnte ich beobachten, gleichzeitig sah ich meine Frau zuhause, wie sie in der Küche werkelte und ich sah ebenso meine Eltern, die in einhundert Kilometer Entfernung gerade am Frühstückstisch saßen. Alles mit dem ich in Beziehung stand kommunizierte mit mir, diesem „Etwas“.
Dieses Geschehen ist vergleichbar mit einer Aufforderung: So jetzt gehst Du übers Wasser.
Es ist klar, dass es möglich ist, doch weiß man nicht wie.
Dieses Erleben dessen, was Leben genannt wird, damit ist das Leben der Formen gemeint, wird weiterhin erlebt. Es ist ein Erleben, das in dauerhaftem Frieden erlebt wird. Die gewohnten Bewertungen gibt es nicht mehr. Nur noch Leben, das sich erfährt. Freude ist nicht besser als Trauer, beides sind wunderbare, tiefgehende Gefühle. Freude ist Trauer. Trauer ist Freude.
Doch ich muss mich bremsen. Ich vergesse leicht den Rahmen, den Lebende verstehen können.
Der Grund warum ich hier auf dem Friedhof sitze, ist der Wunsch meiner Frau. Sie wollte mir wieder begegnen. Sie bestärkte beständig ihren Wunsch, dass sie mir nach ihrem Tod begegnen möchte. Ja, deshalb bin ich da. Es war nicht schwer 55 Jahre zu warten. Hier existiert keine Zeit, daher gibt es auch kein Warten auf irgendetwas. Alles geschieht hier gleichzeitig. Richtig verstehen kann das nur der, der nicht mehr am Leben hängt. Gestorben sein muss er dafür nicht unbedingt. Es ist auch möglich gestorben zu sein und in einem Körper zu sein. Umschrieben wird dieser Zustand mit – in der Welt sein, aber nicht von der Welt. Ein Mensch der diesen lebendigen Tod erfahren hat, hängt an nichts und niemandem im Leben. Für ihn gibt es keine Lebensgefahr mehr und keine Todesangst. Er ist es ja bereits. Er hat das Leben überwunden.
Ich sitze hier auf der Bank, weil meine Frau es sich wünschte. Sie hat mich gerade entdeckt. Bald wird sie auch hier sitzen auf dieser Bank. Anfangs wird sie mir Fragen stellen, die ich beantworten werde. Und nach und nach wird ihr Wissensdurst vom Augenblick gelöscht werden. Es gibt hier nichts zu lernen. Alles Wissen steht jedem zur Verfügung. Wissen hat hier nicht den gleichen Status wie im Leben. Es ist nichts Besonderes.
Die wichtigen Beziehungen gibt es hier auch nicht mehr. Die gibt es nur für die Frischlinge hier.
Es ist eine kurze Übergangsphase, das legt sich bald. Alle trennenden Vor-Stellungen lösen sich auf. Es gibt nur Eins. Dieses Eins ist sie, bin ich, bist du, sind alle und alles was es gibt. Dieses Eins bietet Raum und Möglichkeiten für alles erdenklich mögliche. So auch für die Vorstellung meiner Frau, dass sie mir nach ihrem Tod begegnen wird. Das Eine das ich bin erfüllt ihr dieses. Dir geschehe nach deinem Willen. Sie wird eingehen in das Eine und als das Eine dem Einen dienen.
In bedingungsloser Liebe und völliger Hingabe.
Die Einheit des Lebens erkennt ein sich getrennt fühlendes Ich spätestens im Sterben. Da es hier keine Zeit gibt hat auch jedes verirrte Teilchen alle Zeit sich wieder einzufinden in diesem Einen.
Dieses Eine, das du bist.
Mitmensch Re: Hallo, Johanna ... - Zitat: (Original von Rattenfaenger am 28.02.2012 - 19:30 Uhr) ... Die andere Perspektive ... habe ich mir downgeloaded. Meine Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln habe ich Dir geschrieben. Insgesamt eine Prima-60-Seiten-Erzählung. Glückwunsch***** LG Rattenfänger Hallo Rattenfänger! Danke für Deinen Kommentar und Deinen Glückwunsch! *freu Einen schönen Abend wünscht Johanna |
Mitmensch Re: Hallo, Johanna ... - Zitat: (Original von Rattenfaenger am 28.02.2012 - 19:30 Uhr) ... Die andere Perspektive ... habe ich mir downgeloaded. Meine Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln habe ich Dir geschrieben. Insgesamt eine Prima-60-Seiten-Erzählung. Glückwunsch***** LG Rattenfänger Hallo Rattenfänger! Danke für Deinen Kommentar und Deinen Glückwunsch! *freu Einen schönen Abend wünscht Johanna |
Mitmensch Re: - Zitat: (Original von Ciggy1 am 28.02.2012 - 17:56 Uhr) Uiiiiii.......60 Seiten! Too much! ...lächel Aber wie immer: toll geschrieben! Ich hoffe, das klingt nicht anmaßend - aber mich erinnert Dein Schreibstil immer an meinen eigenen! Sofern man das selber beurteilen kann. Seite 8 hab ich mal "keines Falls" gegoogelt, weil's mich interessiert hat: Der Duden meint: "keinesfalls." Ganz allgemein: Die Rechtschreibreform hab' ich immer boykottiert - geht aber nun nicht mehr. Und irgendwie ist alles andersherum, als man es mal gelernt hat! lach (Meine: ss und ß) Daumen hoch und schönen Abend! Liebe Grüße Uli Hallo Uli! "keinesfalls" habe ich umgehend korrigiert und wieder etwas gelernt. Danke dafür! Vielleicht ähnelt sich unser Schreibstil, weil Du Du bist und ich ich bin :-) Lieben Gruß Johanna |
Rattenfaenger Hallo, Johanna ... - ... Die andere Perspektive ... habe ich mir downgeloaded. Meine Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln habe ich Dir geschrieben. Insgesamt eine Prima-60-Seiten-Erzählung. Glückwunsch***** LG Rattenfänger |