Gwendolin stülpte dem Mann vorsichtig ein Baumwollcap über. Sie überprüfte erneut den korrekten Sitz der Kabel und hängte ihrer Testperson das Modul über die Schulter, in das die Schläuche mündeten. "Versuchen Sie, nicht an diesen Test zu denken. Ich möchte klare Ergebnisse."
Im Kopf des Oliver Plum
„Haben wir alles?“, fragte Gwendolin. Vor ihr auf dem glatten Metall des Schreibtisches türmten sich Unterlagen und Akten. Gwendolins zierliche Gestalt verschwand unter einem weißen Kittel. Einzig ihre bestrumpften, schlanken Beine verrieten noch etwas über die weibliche Figur. „Alles fertig soweit!“, erwiderte Paul, dessen Blicke auf ihrem kaum noch zu erkennenden Po ruhten. Sie drehte sich zu ihm herum. „Du glotzt mir auf den Hintern, nicht war?“ Paul schenkte ihr ein breites Grinsen. Sie kannten sich von Kindesbeinen an. So sehr er es sich auch wünschte, lief nichts zwischen ihnen, würde nie etwas laufen. Sie waren Freunde und Kollegen. Und an diesem Abend, standen sie vor dem größten Projekt ihrer Studienzeit. „Du solltest das hier ein wenig ernster nehmen, Paul“, forderte Gwendolin. Sie ging zu dem Behandlungsstuhl, auf dem Oliver Plum, angeschlossen an Elektroden, die seinen spärlich bewachsenen Kopf besiedelten, lag und schwitzte. „Geht es Ihnen gut, Herr Plum?“, fragte sie und drückte die Hand des Mittdreißigers. Er nickte leicht. Seine Haut war feucht und klebrig. Leicht angewidert zog Gwendolin ihre Hand zurück. Für sie war dieser Mann eine Testperson. Nur ein Objekt für ihre Forschung. Schon immer hatte Paul Gwendolins Ehrgeiz mit Hochachtung und Furcht bewundert. Sie war intelligent. Sie wollte etwas erreichen und arbeitete hart. Vielleicht war das der Grund, warum sich zwischen ihnen nie etwas entwickelt hatte. Paul nahm die Dinge, wie sie kamen. Sein Studium wurde finanziert. Er war eher zu Gast auf den zahlreichen Studentenpartys, als anwesend bei den Seminaren. Auch er war nicht dumm, aber er wusste seine Intelligenz nicht zu nutzen. Ließ sich von den Freuden des Lebens ablenken. Nicht so wie Gwendolin, die tage- und nächtelang berechnete und tüftelte und nun von den Früchten ihrer Arbeit kosten konnte. Mit der freundlichen Unterstützung Professor Gosslings, Dozent für Geisteswissenschaften und Gwendolins finanzkräftiger Gönner. Paul hatte sich schon oft gefragt, ob sie mit ihm schlief. Er würde es ihr zutrauen. Für ihre Forschung ging sie über Leichen. „Gut, Herr Plum. Ich verabreiche ihnen jetzt das Bredilium. Sie werden vielleicht etwas schläfrig werden, aber das nur in den ersten zehn Minuten.“ Gwendolin streifte sich Handschuhe über und zog eine Spritze auf. Mit fachmännischer Schnelligkeit setzte sie dem schwitzenden Mann die Dosis, das Produkt monatelanger Arbeit. Oliver Plum stellte sich aus Geldnot zur Verfügung. Paul tat es aus Liebe und Bewunderung. Er hätte alles getan, um Gwendolin nahe zu sein. Die Elektroden an seinem Kopf gaukelten ihm vor, in seinem Ansehen bei ihr steigen zu können. Ohne Widerworte und mit gespannten Muskeln ließ er sich von ihr die zweite Spritze setzen. Ein angenehmes Kribbeln durchfloss seinen Körper, als das Bredilium in seine Adern schoss. Die Muskeln entspannten sich. Schon bemerkte er die von Gwendolin angesprochene Müdigkeit. Oliver Plum auf dem Behandlungsstuhl neben ihm schien eingeschlafen zu sein. „Ok, ich stelle jetzt die Transmitterzweige ein und poole die Stränge aufeinander ab“, kommentierte Gwendolin ihr Hantieren an der Apparatur über Pauls Kopf. Sie war das Kernstück des Versuchs, ein Hirnstromkompensator. Wie er funktionierte, wusste Paul nicht genau. Gwendolin war weder bereit, ihm die Zusammenhänge zu schildern, noch hätte er ihre wissenschaftlichen Berechnungen nachvollziehen können. Paul wusste nur, dass es ihm gleich möglich werden würde, in Oliver Plums Kopf zu sein, mit dessen Augen sehen zu können und die Gefühle zu fühlen, die Oliver fühlte. Das alles, während er hier auf dem Behandlungsstuhl in einem dämmrigen Trancezustand lag. Gwendolin hatte seine Dosis Bredilium in dreifacher Konzentration angesetzt, um seine eigenen Transmitter lahmzulegen. Er spürte die Wirkung des beigemischten Opiats in seinem Körper. Gwendolin neben ihm, trat in einen dunklen Schatten, ihre Umrisse verblassten. Alles wurde schwarz und undurchdringlich, bis Paul nur noch seinen eigenen, rhythmischen Herzschlag vernahm. Er glitt in den Zustand der Dämmrigkeit, bevor Oliver Plum wieder aufgewacht war.
„Gut, Herr Plum. Wie fühlen sie sich jetzt?“, fragte Gwendolin. Sie checkte die Pupillen des Mannes und überprüfte seinen Puls. Paul neben sich, ließ sie unbeachtet. „Es geht, mir ist nur ein bisschen schwindelig“, erwiderte ihre Versuchsperson. Gwendolin reichte ihm ein Glas Wasser. „Trinken sie etwas. Ich stelle die endgültige Resonanz her, dann müssten wir soweit sein.“ Sie warf einen Blick auf den Überwachungsmonitor über der Apparatur, stellte ein paar Regler daran um, vergewisserte sich über die Festigkeit der Elektroden an Oliver Plums Kopfhaut. „Setzen sie diese Mütze auf.“ Gwendolin stülpte dem Mann vorsichtig ein Baumwollcap über. Sie überprüfte erneut den korrekten Sitz der Kabel und hängte dem Mann das Modul über die Schulter, in das die Schläuche mündeten. „Versuchen Sie nicht an diesen Test zu denken. Ich möchte klare Ergebnisse. Stellen sie sich vor, es gäbe die Vorrichtung nicht. Konzentrieren sie sich ganz auf ihr Erleben“, machte sie ihm klar und deutete auf einen Knopf an dem Modul.“ Das hier ist der Stopout Schalter. Wenn Sie ihn betätigen, wird die Verbindung zu ihnen abgebrochen. Ich möchte sie aber darauf hinweisen, dass eine Betätigung des Schalters Konsequenzen für sie hat. Sollten sie das Experiment eigenmächtig abbrechen, erübrigt sich die Zahlung der vereinbarten Aufwandsentschädigung. Das ist ihnen hoffentlich klar!“ Gwendolin verstummte und ließ das Gesagte wirken. Der Mann reagierte mit einem ergebenen Nicken. „Gut!“ Sie klebte die Schläuche an seinem Oberkörper fest und er zog sich sein schmutziges Hemd über. „Dann gehen sie jetzt!“ Oliver Plum bekam ein Handy und eine gefüllte Geldbörse. Noch bevor er aus der Tür war, hatte sich Gwendolin wieder ihren Monitoren zugewandt.
„Kannst Du etwas sehen?“ Pauls Atem ging flach, aber er spürte sich wieder. Unter seiner Haut stachen Tausende, kleiner Nadeln, um ihn herum war immer noch Dunkelheit. „Ich sehe nichts. Alles ist schwarz“, würgte er mühsam hervor. Seine Zunge war lahm und schwer und in seinem Mund herrschte pelzige Trockenheit. Er nahm das Klickern von Gwendolins Bemühungen an der Apparatur wahr, konnte sie jedoch nicht ausmachen. „Das haben wir gleich“, hörte er ihre warme Stimme, die ein falsches Bild von ihr in ihm erzeugte. Vor seinen Augen lichteten sich die dunklen Schleier. Zuerst nur schemenhaft, dann immer deutlicher, sah er eine junge Frau mit verlebten Zügen und einem Tattoo auf der rechten Seite ihrer stark dekolletierten Brust. Sie reichte ihm ein Maß Bier. Ihr Lächeln wirkte aufgesetzt und ihre Worte drangen wie durch ein Kissen an Pauls Ohren. “ Oliver, schön Dich zu sehen. Dasselbe wie immer mein Lieber? Mach es dir gemütlich!“ In Pauls Blickfeld gerieten nun die Umrisse der Lokalität, in der sich die Testperson befand. Rustikale Holzstühle und Tische, überquillende Aschenbecher, Plastikblumen als Dekoration auf vergilbten Tischläufern. Betrunkene Frauen und Männer, die sich in politischen Stammtischgesprächen ergossen. Sogar den Gestank von Rauch, Bierfahnen und ungewaschenen Menschen konnte Paul riechen. „Ich kann ihn sehen! Ich sehe durch seine Augen“, stammelte Paul, und hätte das Bredilium seinen Körper nicht außer Kraft gesetzt, hätte überraschte Begeisterung aus seiner Stimme gesprochen. Er sah das Maß Bier, das Oliver Plum sich gierig an die Lippen setzte, und wie er das feuchte Glas auf einen Papieruntersetzer neben dem Geldspielautomaten stellte. „Er ist am Automaten.“, berichtete Paul. Mit Händen die nicht Paul gehörten und sich doch genau, wie seine eigenen anfühlten, griff Oliver Plum in die Brusttasche seines Jacketts und holte die Geldbörse daraus hervor. „Er steckt ein Zwei Euro Stück hinein.“
„Was fühlst Du? Kannst Du etwas fühlen?“ Gwendolins Stimme drang nur als ein Wispern zu Paul hinüber, als würde er mit ihr telefonieren und ihre Verbindung hatte schlechten Empfang. „Ich fühle eine leichte Spannung“, antwortete Paul wage. Er konnte das Gefühl noch nicht klar definieren. Es erinnerte ihn an die Aufregung, die er vor dem Besuch einer Achterbahn verspürte, oder doch stärker, an die Wirkung, die Gwendolin auf ihn hatte, wenn sie ihn ganz zufällig beim Vorbeigehen berührte. Er spürte Freude, aber auch Angst, ganz unmerklich darunter verborgen. „Er drückt eine Taste.“
„Was fühlst Du jetzt?“ Trotz der Unendlichkeit, die zwischen seinem Zustand und Gwendolins Stimme lag, vernahm er ihren wissenschaftlichen Eifer daraus. Seine eigenen Gefühle mischten sich unter die des Oliver Plum, doch die komprimierten Gedanken des Mannes vor dem Spielautomaten gewannen die Oberhand. Paul spürte dessen Erregung bis in seinen eigenen kleinen Zeh. Der Mann richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die bunten Lichter vor ihm, auf die wechselnden Symbole, als würde sein Leben davon abhängen. Jetzt war auch Pauls Körper voller Adrenalin. Er spürte den Nervenkitzel von damals, als er, die Taschen voll Marihuana vor den Bullen getürmt war. Es war unglaublich, was diese unbedeutende Leuchtmaschine in Oliver Plum auslöste. „Fühlst du etwas, Paul? Bist Du noch bei ihm?“ Gwendolins Stimme zwang ihn in seine eigenen Gedanken zurück. Er wollte sich ihr nicht ergeben. Er wollte dieses Gefühl auskosten. „Er drückt weiter die Taste!“ Plötzlich ergab sich die erregte Anspannung Oliver Plums, einem Empfinden von unendlicher Leere und Trauer. Paul spürte diese Ödnis genauso wirklich, wie der Proband sie erlebte. Mit Staunen bemerkte er Tränen in seinen Augen brennen. Er war so traurig, wie an dem Tag mit 16, als er erfahren hatte, dass sein Hund Charly eingeschläfert werden musste. Wie konnte diese kalte Gerätschaft so intensive Gefühle in einem Menschen auslösen? Innerlich betete Paul, Oliver würde etwas tun, das die Verzweiflung vertrieb. Wie gern hätte er selbst etwas getan. Aber er war nicht Herr über Oliver Plums Körper, nur Zuschauer, ein Teil von dessen Gefühlswelt. Oliver Plums Begehren war ein Phantomschmerz in Pauls Kopf. „Tu etwas, Plum! Ich halte es nicht mehr aus“, hörte Paul seine eigene Stimme, als würde ein Anderer mit ihr sprechen. „Es ist nicht real! Paul, beruhige Dich!“ Gwendolins Anwesenheit tröstete ihn. Er entspannte sich. „Legt jetzt Geld nach“, sagte Paul. In seinem Tonfall schwang wieder Freude. Die Erlösung, auch die Seine, verdrängte die akute Depression. Es folgte der Adrenalinschub. Nur war dieser jetzt abgeschwächt, konnte nicht an das erste Mal anknüpfen. Paul schmeckte das fahle Aroma von Unzufriedenheit. Oliver Plum nahm einen kräftigen Schluck Bier und konzentrierte sich, während Paul die Gedanken des Mannes lesen konnte, als würden sie in Druckschrift vor seinem inneren Auge auftauchen. „Ich muss aufpassen! Gestern habe ich den Automaten vollgemacht. Heute werde ich mein Geld zurückholen.“ Ein Klicken, die bunten Lichter tanzten vor Oliver Plums, vor Pauls Gesicht, gingen ineinander über, hebelten alle klaren Gedanken aus. Endlich, die Hand des Spielers erhob sich und der ausgestreckte Finger landete hart auf dem fettigen Plastikbutton. Nervöses Warten, Sekunden wie Stunden, dann ein helles Tönen, ein hoher Jingle und Oliver Plum las die befreiende Neonschrift: 15 Sonderspiele. Jetzt tanzten seine Sinne Tango. Paul spürte die zuerst noch verhaltene Freude wie einen Vulkan ausbrechen. Er war so erregt wie kurz vor dem Eindringen in eine Frau. Der Finger des Oliver Plum stand für sein eigenes Glied, mit dem er immer wieder zustieß und sich befreite. Das Bier blieb unbeachtet. Oliver Plum befand sich im Rausch. Er brauchte nichts mehr, als das Klimpern und Leuchten, war angefüllt von Seligkeit und Lustempfinden. Und Paul mit ihm, so wie noch niemals zuvor.
„Ok, Paul. Ganz ruhig! Du musst ganz ruhig aus und einatmen! Einatmen, ausatmen, so ist es richtig! Einatmen, ausatmen! Deine Neurotransmitteranzeige spielt völlig verrückt. Du musst zu dir kommen!“ Mühsam erkannte Paul, dass er sich wieder in seinem eigenen Körper befand. Von einer Minute auf die andere war ihm alles Glück dieser Welt entzogen worden. Er stöhnte und erbrach sich neben den Behandlungsstuhl.“ Ich musste Dich abkoppeln. Deine Synapsen wären durchgeschmort.“ Die Umgebung nahm langsam Form an. Paul erkannte die Räumlichkeiten, den anderen Stuhl neben sich, auf dem Oliver Plum gelegen hatte. Gwendolin, die sich über ihn beugte, seine Pupillen checkte und den Puls maß. „Das war der reinste Wahnsinn. Ich konnte …“ Pauls Stimme war brüchig. Sie versagte ihm mitten im Satz. „ Ja, du konntest die Euphorie des Rausches noch intensiver erleben, als Plum, weil es für Dich so das erste Mal war. Aber wir werden das morgen auswerten, Paul. Du musst Dich ausruhen und schlafen! Ich werde hier auf Plum warten. Das kann eine Weile dauern. Ich spritze Dir ein Beruhigungsmittel. Das wird das Bredilium neutralisieren.“ Gwendolin redete weiter, während Paul nur die Bewegungen ihrer Lippen wahrnahm. Sie ließ ihn abholen und auf sein Zimmer im Studentenwohnheim bringen.
Am nächsten Tag, zur vereinbarten Zeit, wartete sie vergeblich auf ihn.
Nachtrag:
Ich wünsche allen Angehörigen und Menschen, die mit der Glücksspielsucht in Berührung gekommen sind oder ihr entgegentreten müssen, viel Mut, unerschütterliche Liebe, Stärke und unendliches Verständnis für den Menschen hinter der Sucht, der es verdient, gehört und beachtet zu werden.
"Pars sanitatis velle sanari fuit."
lateinisches Zitat von Seneca