Sie wehrt sich. Kämpft gegen mich an, lässt sich nicht fassen. Dabei gehört sie mir, nur mir allein.
Vor einigen Jahren haben wir uns kennengelernt und auf Anhieb verstanden. Es war eine dieser verrauchten Studentenparties, Bier aus Dosen, alle paar Minuten ein neuer Ofen am Weg zu dir. Ich hatte auf einmal einen abartigen Appetit auf Hühnerflügel, als sie sich neben mich setzte und mich angrinste. „Weißt du was jetzt geil wäre? Chicken Wings!“. Da wusste ich es, wir waren seelisch irgendwie verkabelt, verknüpft, unsere Geister waren wohl als Zwillinge gebaut worden. Wir gingen dann auch ziemlich schnell los um uns einen riesigen Haufen dieser fettigen Hühnerteile zu kaufen und bei ihr daheim vor dem Fernseher zu verputzen. Mir war ziemlich schnell schlecht, bei ihr dauerte es ein bisschen länger, aber dennoch war die Hälfte noch übrig. Mädchen und Hunger. Bekiffte Mädchen und Hunger. Ihr müsst wissen, ich war zu dem Zeitpunkt ein nervlichen Wrack, jede Sekunde kurz vor dem Heulen oder hysterischem Lachflash. Emotional war beides gleich belastend. Wir redeten die ganze Nacht durch, über Gott und die Welt. Sie war ein sehr positiver Mensch, der die Welt liebte und nicht genug davon einsaugen konnte. Ich bewunderte sie. Mit ihren Zielen und Prinzipien war sie genau das Gegenteil von mir. Ich war naiv, unsicher und hatte keine Ahnung von morgen. Sie sogar von übermorgen. Einige Wochen nach diesem Abend schmiss mich mein damaliger Mitbewohner raus, um seiner dämlichen Freundin Unterschlupf zu bieten. Eine Wirtschafts-Studentin, eine von der Art, die ihre Handtaschen immer am Unterarm herunterbaumeln ließen und naserümpfend über ihre ausgedämpften Zigarettenstummeln hinwegstolzierte. 1 Meter neben dem Aschenbecher. Ich wollte ihr ziemlich oft eine aufs Maul geben, aber das wäre keine gute Idee gewesen. Haben ja auch alle meterlange Fingernägel, die Biester. Vermutlich zum Augenauskratzen. Miau! Â
Ich bin da also rausgeflogen und hatte keinen Plan, wies jetzt weitergehen soll. Das hat mich mal wieder ziemlich runtergedrückt. Ich hab sehr viel geschrieben in der Zeit, so blödsinniges poetisches Zeug, das im Grunde eh keinen interessiert. Aber mir hat es ein wenig geholfen, so konnte ich zumindest irgendwie ausdrücken, wie mir eigentlich zu Mute ist. Ich hab stundenlang geheult, eingesperrt in meinem Zimmer, das ich ja bald verlassen musste. Aber das war eigentlich nicht das Problem. Ich war mein eigenes.
Dann hat SIE sich wieder gemeldet. Es war eine ziemliche scheiß Zeit für uns beide. Ich habe erfahren, dass sie ihre Mitbewohnerin gefunden hat. Pulsadern aufgeschnitten, in der Badewanne. Da musste ich erst mal schlucken. Ich hab ihr versprochen, immer für sie dazusein. Und sie hat mich eingeladen, bei ihr zu wohnen. Sie würde es alleine nicht ertragen. So begann unser gemeinsames Leben.
„Rauchen?“ – „Ja, klar“, so begann meistens unser Tag. Es sind anfangs total viele Menschen da gewesen, Freunde und Verwandte, alle mit diesem verzweifelten Ausdruck der Hilflosigkeit. Ihr Machtlosigkeit hat mich angekotzt. Hätte denn nicht irgendwer helfen können? Ich bin selbst so unfähig und am Ende gewesen, ich konnte gar nichts tun. Aber die Leute, die sie von Geburt an kannten, was war mit denen? Die Menschheit als Haufen hifloser, egozentrischer Selbstdarsteller. Wenn sie weinte, brach es mein Herz. Das einzige, was sie dann noch hervorbrachte, ließ es in weitere Stücke brechen: „Ich kann nicht mehr..“. Ich konnte sie verstehen, aber ihr nicht helfen. Ich konnte nur ihre Hand halten und dasein. Und nicht einmal versprechen, dass alles gut werden würde. Wer glaubte denn daran noch?
Ich schrieb ihr ein paar Briefe, im Schreiben war ich immer besser als im Reden. Ich kaufte ihr Obst, Schokolade, Bücher, DVDs, aber dies lieferte bloß den weiteren Beweis dafür, dass Konsum und Besitz keine Probleme löst. Wohl eher produziert. Ich hatte die Schnauze voll von Macht und Kapital, von Gesellschaftsformen, von Gott und von der Welt. Ich wollte ihr einfach nur helfen. Aber wie sollte man das tun, wenn man den Verlust nicht rückgängig machen konnte, keine Geister erwecken, keinen Schmerz lindern vermochte? Sie fing allmählich wieder an zu reden und wenn sie sprach, dann über ihre Freundin und ihre Persönlichkeit, ihre gemeinsamen Erlebnisse. Ich war sogar ein bisschen neidisch, wie sie über das Mädchen sprach, was sie für Erinnerungen teilten, welche Hürden sie gemeinsam gemeistert hatten. Ich wollte auch so besonders für sie werden. Manchmal schlich ich mich auch in das ehemalige Zimmer der Toten, das noch immer den Anschein erweckte, als würde hier jemand wohnen, und nur ganz kurz zum Einkaufen rausgegangen sein. Ich fand einige Bücher, vollgekritzelt mit ihren erfundenen Geschichten. Sie wäre anscheinend gerne Schriftstellerin gewesen. Dann entdeckte ich im Internet eine Seite von ihr, wo sie kurze Gedichte veröffentlichte und mir blieb das Herz stehen. Was sie schrieb, jede Zeile, wie sie es schrieb, ihr Ausdruck, ihre Sicht auf die Welt, das alles hätte von mir sein können. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass man so etwas über jemand sagen konnte? Und dann war dieser jemand einfach nicht mehr da. An diesem Tag trauerte ich alleine und für mich um dieses Mädchen. Um den Verlust dieser Gedanken, dieses Geistes. Ich feierte ihre Worte als einziges Erbe, das der Welt wohl geblieben ist. Meinen Geist erkor ich zur Erbin, ihren Schatz wohlbehütet verwaltend. Ich verstand nun die Begeisterung für sie, die Tragik über ihren Verlust. Es war, als würde ich um mich selbst trauern, meinen eigenen Untergang beweinen.Â