Die kleine Möhre und Kommando Morgengrauen
Die Geschichte ist in der Anthologie " Sprechende Pflanzenwelt" des Net-Verlages veröffentlicht worden und im Handel erhältlich....
copyright-Hinweis: Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin ...©roxanneworks 2012/ 02
Es war schon spät, als Tims Mama noch einmal in die Küche kam, um sich etwas zu Trinken aus dem Kühlschrank zu holen. Eigentlich tat sie das jeden Abend, schloss dann die Haustür ab und schaute noch einmal nach Tim. Der lag schlafend in seinem Bett und träumte. Sie lächelte beruhigt, ging in ihr Zimmer, kuschelte sich unter die Bettdecke und schlief bald ein.
„Na endlich ist sie schlafen gegangen“, meinte Karla, die Kaffeekanne mit leicht besorgtem Unterton. Karla war schon ziemlich alt, doch mit den blauen Blümchen auf ihrem Bauch sah sie eigentlich viel jünger aus. Sie war immer sofort besorgt und machte sich über alles Gedanken. In letzter
Zeit dachte sie viel über Tims Mama nach, weil die so viel arbeitete und das bereitete Karla Kopfzerbrechen.
„ Es wird auch immer später, findest du nicht? Ich sehe es schon kommen; demnächst können wir uns erst spät nach Mitternacht unterhalten,“ unkte Sigi, die Zuckerdose.
Eigentlich hieß Sigi ja Sieglinde, aber sie fand den Namen blöd und deshalb durften alle hier in der Küche sie nur Sigi nennen. Sigi redete die liebe lange Nacht. Ihr Mund stand selten still – ganz zum Ärger von Tom, dem Toaster.
„ Ich hätte wirklich nicht im Mindesten etwas dagegen. Mir ist die Zeit des Schweigens viel wert. Ich denke, man sollte eben nur reden, wenn man etwas Wichtiges zu sagen hat “,
meinte Tom eingebildet und schaute ziemlich bedeutend zu Sigi hinüber.
„Hört, hört! Der Herr Toaster liebt es zu Schweigen. Das ist mal etwas ganz Neues“, machte sich Sigi lustig.
Karla musste lächeln. Es ging schon wieder los. Jede Nacht war es das Gleiche. Wie konnten sie sich nur ständig über den Sinn einer Unterhaltung streiten?
„ Weißt Du, lieber Tom – für jemand, der etwas gegen reden hat, bist du aber ganz versessen darauf, dich über das Reden zu unterhalten,“ meinte Karla versöhnlich und konnte sich ein glucksendes Lachen nicht verkneifen.
„ Sehr verehrte Karla. Ich versuche nur dieser schwatzhaften Person klar zu machen,
dass eine Unterhaltung einen Sinn haben sollte.“
Der Zuckerdose ging jetzt aber der Deckel hoch.
„ Was heißt denn hier schwatzhaft? Ich rede nun mal gerne. Na und. Kann ja nicht jeder so eingebildet sein.“ maulte Sigi.
Severin, die Kaffeemaschine kicherte jetzt auch los.„ Meine Güte, ihr seid aber auch zwei Streithähne! Jeder von euch will Recht haben…“ gluckste sie.
„ Nein, will ich gar nicht,“ prustete Sigi.
„ Also wirklich, verehrte Severin. Habe ich das nötig?" meinte Tom.
„ Und keiner …..", weiter kam Severin nicht, denn Bernd der Brotkorb meldete sich jetzt lautstark zu Wort.
„ Ruuuuhe….! Seid doch mal ruhig. Hört ihr denn das nicht?“ brüllte er in die Runde.
Alle waren plötzlich mucksmäuschenstill.
„ Was soll man denn hören?“ fragte eine schneidende Stimme die Anwesenden.
Die Stimme klang sehr schlecht gelaunt und gehörte Herbert, dem großen Fleischmesser. Herbert hatte hier in der Küche das Sagen. Er war klug, aber leider fast immer schlecht gelaunt. Bernd meinte sehr bedeutungsvoll:
„ Hört doch mal ganz genau hin. Es klingt genauso, als wenn jemand weinen würde.“
„ Alle mal ruhig sein!“ kommandierte Herbert und dann lauschten sie.
„ Stimmt, stimmt. Da heult jemand!“ meinte Sigi aufgeregt.
„ Ja, es kommt dort aus der Ecke“, teilte
Severin ihre Beobachtung mit.
„ Da ist etwas in dem Gemüsekorb. Seltsam, irgendetwas stimmt da nicht!“ stellte Herbert fest und marschierte direkt drauf los. Er schaute sich den Korb von außen genau an. Alles unauffällig. Dann lugte er über den Rand hinein und räusperte sich auffällig.
„ Was siehst du, Herbert?“ wollte Karla besorgt wissen.
„ Ähm…“. Mehr sagte Herbert nicht. Und dann hörten sie, wie das Schluchzen lauter wurde. Karla trat jetzt zu Herbert an den Korb und schaute ebenfalls hinein.
Dort lag eine sehr kleine Möhre und weinte bitterlich. Sie schluchzte laut und ihr kleiner Körper zuckte dabei zusammen. Sie sah so schrecklich traurig aus.
„ Hallo, Kleine…“ flüsterte Karla jetzt leise
„ Sei doch nicht traurig. Willst du uns nicht sagen, warum du weinst?" fragte sie sanft.
Herbert räusperte sich wieder und war ganz angespannt. Karla schaute ihn an.
" Na sag mal, Herbert. Wenn du so ernst schaust, bekommt die Kleine doch noch mehr Angst. Findest du nicht, dass sie schon Kummer genug hat!"
Hmmmh,....war seine einzige Reaktion.
Die Möhre richtete sich in dem Korb ein wenig auf, um besser sehen zu können, wer da mit ihr sprach. Als sie Karlas liebes Gesicht entdeckte, ging es ihr sofort etwas besser. Sie wischte sich die Tränen ab und flüstert: "Hallo….nett euch zu sehen."
Karla lächelte sie ganz lieb an: „ Ja sag mal mein Kind, was ist denn nur los mit dir?“
Und dann erzählte sie alles .Die ganze Geschichte….davon, dass sie wieder einmal nicht folgsam gewesen war und viel zu weit von zu Hause gespielt hatte, als sie eigentlich durfte. Ja und dann war es passiert. Tims Mama kam in den Garten und sah die kleine Möhre, wie sie gerade über den Steinrand eines Blumenbeetes klettern wollte und hob sie einfach auf.
Sie hatte sich gewundert, was so eine kleine Möhre so weit weg vom Gemüsebeet verloren hatte und nahm sie mit in die Küche.
„ Ja…so war das. Meine Familie macht sich sicher große Sorgen,“ schniefte sie kläglich.
Inzwischen waren auch Sigi und Tom an den Korb herangetreten und hatten schweigend die Geschichte mit angehört.
„ Da müssen wir doch etwas unternehmen“, rief Sigi ganz aufgeregt.
„ Los lasst uns was überlegen!“
„Also, ich wüsste da vielleicht etwas,“ wagte sich Tom vor.
„ Und – raus mit der Sprache,“ brummte Herbert, „ was ist dir eingefallen.?“
„ Wir müssen sie zurückbringen, ist doch klar!“ Klara schüttelte den Kopf.
„Wie denn bitte? Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„ Na los, erzähl schon die Einzelheiten“, forderte Herbert nun ungeduldig und Tom fing an, allen seinen Plan zu erklären.
„ Das ist zwar ganz schön gewagt, müsste aber funktionieren,“ meinte Herbert anerkennend und die Anderen nickten beistimmend.
Und nun rüsteten sich alle für das große Kommando Morgengrauen.
Severin kam und stellte sich so nah wie möglich an das Küchenfenster. Der Rahmen stand in aufgeklappter Stellung und genau das sollte der Fluchtweg werden. Karla wickelte das Stromkabel der Kaffeemaschine auf und Herbert half ihr dabei. Tom kümmerte sich um die Verlängerungsschnur, die am Ende von Severins Kabel hing. Sigi kletterte derweil zuerst bis auf Toms Schultern und von dort ganz nach oben auf den Deckel der
Kaffeemaschine.
„ Meine Güte, ist das anstrengend!“ rief Sigi, als sie oben angekommen war.
„ Hör auf zu stöhnen und nimm das Kabel an, Sigi!“, rief Herbert.Sigi zog mit aller Kraft. Das Kabel war schrecklich schwer.
„ Ich brauche Hilfe hier oben, sonst schaffe ich es nicht!“ beklagte sie sich.
Micha, der Mixstab kam jetzt auch endlich herangeschlendert, nachdem er sich das Treiben erst einmal aus der Ferne angeschaut hatte.
„ Braucht ihr Hilfe? Eine starke Hand gefällig?“ fragte er grinsend und kletterte zu Sigi nach oben.
Mit vereinten Kräften schoben sie dann den Anfang des Kabels zwischen der Wand und
dem Fensterrahmen hinaus ins Freie.
„ Hey, die Kleine soll hoch kommen!“ rief Micha. Klara ging zum Korb und half der Möhre dabei, aus dem Korb zu klettern. Dann fasste sie ihre Hand und gemeinsam gingen sie zu Severin und den Anderen hinüber.
„ Sie kann doch nicht einfach an dem langen Kabel herunterklettern? Das ist viel zu gefährlich. Was ist, wenn sie hinunterfällt?“ gab Tom zu bedenken und sah in der Runde nur ratlose Gesichter.
„ Ich habe schreckliche Angst. Ich will da nicht runterklettern“, wimmerte die Kleine und wurde etwas blasser.
„ Du musst dir keine Sorgen machen, mein Schatz . Wir lassen uns schon etwas
einfallen“, beruhigte Klara sie und strich ihr lieb über ihre grünen Haare.
„ Ich hab’s! Wir werden sie einfach richtig gut festbinden!“ rief Tom triumphierend, bewegte sich dann behäbig zu der kleinen Schublade hinüber und zog sie ein wenig auf. Vorsichtig angelte es eine Rolle Bindfaden heraus und hob sie in die Höhe. Alle Anwesenden jubelten. Sigi und Micha standen oben und nahmen die Garnrolle von Tom in Empfang.
Mit Klaras Hilfe kletterte die kleine Möhre nun ebenfalls hinauf zu den Beiden.Micha schlüpfte durch den Fensterspalt nach draußen auf die Fensterbank und wartete.
Die Möhre folgte ihm vorsichtig.
Sigi reichte Micha einen langen Faden durch
den Spalt. Er hatte inzwischen der Möhre geholfen, sich auf den Stecker des Kabels zu setzen und zurrte sie richtig fest.
„ Du musst trotzdem das Kabel umklammern, denn es könnte holprig werden“, mahnte er ganz ruhig und nickte ihr dann aufmunternd zu.
Gerd , die Schubkarre hatte sich schon unter das Fenster gestellt. Er hatte vom Schuppen aus zugesehen, wie Micha nach draußen auf die Fensterbank geklettert war. Das hatte ihn ganz schön neugierig gemacht und er zu dem Schluss gekommen: Da schau ich doch gleich mal nach…
„ Hey Gerd, schön dich hier zu sehen. Die kleine Möhre muss zu ihrer Familie zurück.
Können wir dir die Kleine anvertrauen? Du kennst dich doch bestens im Garten aus und wirst doch sie sicher wieder Heim bringen,“ rief Micha zu Gerd hinunter und irgendwie hatte Micha das nicht als Bitte formuliert.
„ Kein Problem, lass sie runter!“ donnerte die dunkle Stimme von Gerd fröhlich.
Micha prüfte noch einmal den Sitz des Fadens und dann lächelte er der Kleinen noch einmal zu.
„ Es kann los gehen“, befahl er und Sigi ließ langsam das Kabel weiter durch den Fensterspalt gleiten.
„Keine Angst, meine Kleine. Ich fange dich auf und bringe dich sicher nach Hause“, rief Gerd ihr zu und ein erstes Lächeln war auf dem Gesicht der kleinen Möhre zu sehen.
Unten angekommen befreite sich die Möhre und winkte noch einmal zu Micha nach oben, der immer noch auf der Fensterbank stand und alles beobachtete. Er winkte zurück und kletterte dann wieder hinein, nachdem Gerd mit ihr in der Dunkelheit verschwunden war.
„ Ich habe keine Lust, das Kabel wieder rein zu holen!“
„ Ich auch nicht“, grinste Sigi.
„ Die werden das morgen schon merken, wenn sie sich den Kaffee kochen wollen“, gluckste Severin.
„ Ist das nicht sehr auffällig? Wir sollten vorsichtiger sein,“ gab Herbert zu bedenken.
Dann stieg er kurzerhand auf das Dach der Kaffeemaschine und zog mit aller Kraft das
Kabel wieder in die Küche hinein.
„ So ist es besser. Wir wollen sie doch nicht mit der Nase darauf stoßen, oder!?“ stellte Herbert kopfschüttelnd fest und schaute allen nacheinander ins Gesicht.
„ Wir haben unser Leben und sie haben Ihres,“ beruhigte Klara die Gemüter.
„ Schüüüttt! Alle zurück auf eure Plätze. Da kommt jemand.“
Das Licht wurde angeschaltet. Tim ging ganz verschlafen an den Kühlschrank und holte sich eine Flasche Saft heraus, goss sich das Glas halbvoll und füllte es mit Mineralwasser auf. Tim war durstig und trank das Glas in einem Zug leer. Irgendetwas war komisch, dachte Tim, als er das Licht in der Küche
ausmachte und wenig später zurück unter seine Decke kroch.
„ Da haben wir ja noch einmal Glück gehabt. Das hätte ganz schön schief gehen können“, brummte Herbert.
„ Ist es aber nicht. Jetzt haben wir uns etwas Ruhe verdient, meint ihr nicht auch“.
Klara schaute in die Gesichter ihrer Freunde.
„ Das war ganz schön aufregend. Ich bin noch gar nicht müde!“ rief Sigi und grinste breit.
„ Für heute hatten wir genug Aufregung. Ein Kommando Morgengrauen reicht,“ meinte Tom.
"Morgen ist auch noch eine Nacht!“